HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 733
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 2646/15, Beschluss v. 29.06.2016, HRRS 2016 Nr. 733
1. Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 26. Januar 2015 - (569) 83 Js 445/10 Ns (126/13) - und der Beschluss des Kammergerichts vom 21. September 2015 - (3) 121 Ss 71/15 (96/15) - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
2. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.
3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
4. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
5. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB.
1. Der Beschwerdeführer arbeitet als Rechtsanwalt. Seit Dezember 2009 vertrat er als Strafverteidiger den ersten Vorsitzenden eines gemeinnützigen Vereins, der Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen Veruntreuung von Spendengeldern war. Dieses Ermittlungsverfahren erregte großes Medieninteresse.
2. Das Amtsgericht erließ auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen den Beschuldigten. An der nicht öffentlichen Sitzung der Haftbefehlsverkündung nahm neben dem Beschwerdeführer auch die mit dem Verfahren betraute Staatsanwältin teil. Der Beschwerdeführer griff die Staatsanwältin im Laufe des Termins verbal an und verließ die Sitzung noch vor ihrer offiziellen Schließung. Der Beschwerdeführer war der Ansicht, sein Mandant werde zu Unrecht verfolgt und die erfolgten und drohenden Maßnahmen der Strafverfolgung seien ungerechtfertigt. Am Abend desselben Tages rief ein Journalist, der an einer Reportage über den Beschuldigten und das ihn betreffende Ermittlungsverfahren arbeitete und der über die Verhaftung im Bilde war, den Beschwerdeführer an. Nach den Feststellungen der Fachgerichte kannte der Beschwerdeführer den Journalisten nicht und wollte ihm keine Fragen beantworten oder ihm ein Interview mit dem Beschuldigten vermitteln, war jedoch immer noch wütend über den Verlauf der Ermittlungen und bezeichnete im Laufe des Telefonats die zuständige Staatsanwältin als
„dahergelaufene Staatsanwältin“, „durchgeknallte Staatsanwältin“, „widerwärtige, boshafte, dümmliche Staatsanwältin“, „geisteskranke Staatsanwältin“.
3. Das Amtsgericht erließ auf Antrag der Staatsanwaltschaft gegen den Beschwerdeführer einen Strafbefehl wegen Beleidigung. Nach Einspruch des Beschwerdeführers verurteilte ihn das Amtsgericht wegen Beleidigung. Auf die Berufung des Beschwerdeführers und der Staatsanwaltschaft hob das Landgericht das Urteil auf und sprach den Beschwerdeführer frei. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob das Kammergericht das freisprechende landgerichtliche Urteil auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück.
4. Mit angegriffenem Urteil verurteilte das Landgericht den nicht vorbestraften Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 120 €. Die Äußerungen seien ehrverletzend gewesen. Durch sie wären der Staatsanwältin in übertriebener Weise negative Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben, ihr der sittliche und soziale Geltungswert abgesprochen und letztlich attestiert worden, grundsätzlich sozial minderwertig und beruflich unzulänglich zu sein. Eine Rechtfertigung nach § 193 StGB liege nicht vor. Anlass, Kontext und Zielrichtung der Äußerungen seien nicht mehr der Kampf um das Recht gewesen, sondern Ausdruck einer persönlichen Fehde gegen die ermittelnde Staatsanwältin, die einer haltlosen Verteufelung gleichkomme. Dies ergebe sich schon daraus, dass die Äußerungen weder relativierend noch bezogen auf ganz bestimmte, einzelne Handlungen der Staatsanwältin abgezielt hätten, sondern sie insgesamt als Person und unabhängig von ihren Verhaltensweisen in den Vordergrund gestellt worden sei. Keine ihrer Ermittlungshandlungen sei konkret beanstandet worden. Der Beschwerdeführer habe zudem gar keinen Anlass gehabt, sich gegenüber dem mit dem Ermittlungsverfahren und dessen Einzelheiten selbst gar nicht befassten Journalisten über die Staatsanwältin in einer derartigen Form zu beschweren, nachdem der Journalist ihn lediglich um objektive Informationen zu dem „Spendenskandal“ aus der Sicht des Mandanten des Beschwerdeführers gebeten habe.
5. Die Revision des Beschwerdeführers verwarf das Kammergericht mit angegriffenem Beschluss. Das Landgericht sei rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gesamtheit der Bezeichnungen einer Staatsanwältin als „dahergelaufen“, „durchgeknallt“, „widerwärtig, boshaft und dümmlich“ sowie „geisteskrank“ den Tatbestand der Beleidigung objektiv erfülle und nicht gerechtfertigt sei. Es habe festgestellt und in seine Würdigung einbezogen, dass die Äußerungen außerhalb des Gerichtssaals und damit des Kernbereichs des „Kampfs ums Recht“ gefallen seien und im konkreten Kontext keinen konstruktiven Bezug zu einzelnen Ermittlungshandlungen der Staatsanwältin gehabt hätten. Revisionsrechtlich beanstandungsfrei habe das Landgericht ausgeschlossen, dass die Äußerung - gewissermaßen im umgangssprachlichen Sinne einer durchgebrannten Sicherung - lediglich zum Ausdruck hätten bringen sollen, dass bei den Ermittlungen Fehler gemacht worden seien. Dabei habe das Landgericht Anlass und Verwendungskontext ausführlich dargestellt und gewürdigt. Es hätte auch in noch ausreichender Dichte das Persönlichkeitsrecht der Geschädigten gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit abgewogen.
6. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG, seiner Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG, eine Verletzung des Willkürverbotes des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Verletzung des Rechtes auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
7. Der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Berlin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, soweit mit ihr eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gerügt wird. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 61, 1 <7 ff.>; 90, 241 <246 ff.>; 93, 266 <292 ff.>). Dies gilt insbesondere für den Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheit bei Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Vorschriften der §§ 185 ff. StGB (vgl. BVerfGE 82, 43 <50 ff.>; 85, 23 <30 ff.>; 93, 266 <292 ff.>).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist im Umfang der Annahme zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzten den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
a) Unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Werturteile und Tatsachenbehauptungen, wenn und soweit sie zur Bildung von Meinungen beitragen (vgl. BVerfGE 85, 1 <15>). Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährt. Es findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen die hier von den Gerichten angewandten Vorschriften der §§ 185, 193 StGB gehören. Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften sind Sache der Fachgerichte, die hierbei das eingeschränkte Grundrecht interpretationsleitend berücksichtigen müssen, damit dessen wertsetzender Gehalt auch bei der Rechtsanwendung gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <205 ff.>; 120, 180 <199 f.>; stRspr). Dies verlangt grundsätzlich eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch ihr Verbot andererseits (vgl. BVerfGE 99, 185 <196 f.>; 114, 339 <348>). Das Ergebnis der Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben und hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfGE 85, 1 <16>; 99, 185 <196 f.>).
Zu beachten ist hierbei indes, dass Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen schützt, sondern gerade Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen darf; insoweit liegt die Grenze zulässiger Meinungsäußerungen nicht schon da, wo eine polemische Zuspitzung für die Äußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich ist (vgl. BVerfGE 82, 272 <283 f.>; 85, 1 <16>). Einen Sonderfall bilden hingegen herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktreten wird (vgl. BVerfGE 82, 43 <51>; 90, 241 <248>; 93, 266 <294>). Diese für die Meinungsfreiheit einschneidende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formalbeleidigungen und Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden (vgl. BVerfGE 93, 266 <294>).
Das Bundesverfassungsgericht ist auf eine Nachprüfung begrenzt, ob die Fachgerichte die Grundrechte ausreichend beachtet haben (vgl. BVerfGE 93, 266 <296 f.>; 101, 361 <388>). Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind auch dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind (vgl. BVerfGE 85, 1 <14>; 93, 266 <294>).
b) Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht in jeder Hinsicht.
aa) Das Landgericht geht bei seiner Verurteilung ohne hinreichende Begründung vom Vorliegen des Sonderfalls einer Schmähkritik aus. Es verwendet den Begriff der Schmähkritik zwar nicht ausdrücklich, stellt aber darauf ab, die inkriminierten Äußerungen seien Ausdruck einer persönlichen Fehde und stellten die Beleidigte als Person in den Vordergrund. Dementsprechend unterlässt es die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, worin ein eigenständiger verfassungsrechtlicher Fehler liegt (vgl. BVerfGE 93, 266 <294>).
Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassung wegen eng zu verstehen. Auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Eine Äußerung nimmt diesen Charakter erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern - jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik - die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl. BVerfGE 82, 272 <283 f.>; 85, 1 <16>; 93, 266 <294>). Sie liegt bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vor und ist eher auf die Privatfehde beschränkt (vgl. BVerfGE 93, 266 <294>). Die Annahme einer Schmähung hat wegen des mit ihr typischerweise verbundenen Unterbleibens einer Abwägung gerade in Bezug auf Äußerungen, die als Beleidigung und damit als strafwürdig beurteilt werden, ein eng zu handhabender Sonderfall zu bleiben.
Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben hat das Landgericht verkannt. Zwar sind die in Rede stehenden Äußerungen ausfallend scharf und beeinträchtigen die Ehre der Betroffenen. Die angegriffenen Entscheidungen legen aber nicht in einer den besonderen Anforderungen für die Annahme einer Schmähung entsprechenden Weise dar, dass ihr ehrbeeinträchtigender Gehalt von vornherein außerhalb jedes in einer Sachauseinandersetzung wurzelnden Verwendungskontextes stand. Der Beschwerdeführer reagierte auf einen Anruf von einem mit dem Verfahrensstand vertrauten Journalisten, der ihn in seiner Eigenschaft als Strafverteidiger zu dem Ermittlungsverfahren gegen seinen Mandanten und dessen Inhaftierung befragte. In diesem Kontext ist es jedenfalls möglich, dass sich die inkriminierten Äußerungen auf das dienstliche Verhalten der Staatsanwältin vor allem mit Blick auf die Beantragung des Haftbefehls bezogen. Für die Annahme einer Schmähkritik reicht es unter diesen Umständen nicht, wenn das Landgericht nur darauf abstellt, dass die Äußerungen dabei nicht relativiert oder auf ganz bestimmte einzelne Handlungen der betreffenden Staatsanwältin Bezug nahmen. Es hätte insoweit in Auseinandersetzung mit der Situation näherer Darlegungen bedurft, dass sich die Äußerungen von dem Ermittlungsverfahren völlig gelöst hatten oder der Verfahrensbezug nur als mutwillig gesuchter Anlass oder Vorwand genutzt wurde, um die Staatsanwältin als solche zu diffamieren.
Solange solche Feststellungen nicht tragfähig unter Ausschluss anderer Deutungsmöglichkeiten getroffen sind, hätte das Landgericht den Beschwerdeführer nicht wegen Beleidigung verurteilen dürfen, ohne eine Abwägung zwischen seiner Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Staatsanwältin vorzunehmen. An dieser fehlt es hier. Auch das Kammergericht hat diese nicht nachgeholt, denn es verweist lediglich auf eine „noch hinreichende“ Abwägung durch das Landgericht, die indes nicht stattgefunden hat.
bb) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf diesem Fehler. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei erneuter Befassung im Rahmen einer Abwägung zu einer anderen Entscheidung kommen werden. Es ist allerdings festzuhalten, dass ein Anwalt grundsätzlich nicht berechtigt ist, aus Verärgerung über von ihm als falsch angesehene Maßnahmen einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwalts diese gerade gegenüber der Presse mit Beschimpfungen zu überziehen. Insoweit muss sich im Rahmen der Abwägung grundsätzlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen durchsetzen. Wie hier die Abwägung - die sich gegebenenfalls auch auf die Strafzumessung auswirkt - unter näherer Würdigung der Umstände ausfällt, obliegt jedoch fachgerichtlicher Würdigung.
3. Soweit der Beschwerdeführer auch eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG rügt, wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Von einer Begründung wird insoweit gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 733
Bearbeiter: Holger Mann