HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2016
17. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Gerichtliche Beweiserhebung im Zwischenverfahren

Von Richter Sebastian Beining, Düsseldorf

Am 30.03.2016 hat das Landgericht Duisburg abgelehnt, das Hauptverfahren im sogenannten "Loveparade-Verfahren" zu eröffnen. In seinem Beschluss schrieb es, dass die Anklage auf ein Sachverständigengutachten gestützt sei, welches nicht verwertet werden könne und andere Beweismittel nicht zur Verfügung stünden. Zu weiteren Ermittlungen sei die Kammer weder verpflichtet noch berechtigt[1] . Dies gibt — losgelöst vom vorliegenden Einzelfall — Anlass, sich die Ermittlungsmöglichkeiten des Gerichts im Zwischenverfahren vor Augen zu führen.

I. Vorab – Das Zwischenverfahren

Erhebt die Staatsanwaltschaft Klage, geht das Ermittlungsverfahren in das Zwischenverfahren über, welches in den §§ 199-211 StPO geregelt ist.

Hier ist der Angeschuldigte darüber zu unterrichten, was ihm vorgeworfen wird, indem ihm die Anklageschrift mitgeteilt wird, § 201 Abs. 1 S. 1 StPO. Ihm wird rechtliches Gehör gewährt und die Gelegenheit gegeben, den hinreichenden Tatverdacht zu widerlegen oder zumindest abzuschwächen sowie seine Verteidigung vorzubereiten.[2]

Daneben prüft das Gericht im Zwischenverfahren, ob es einen hinreichenden Tatverdacht bejaht, also annimmt, dass es den Angeklagten am Ende des Verfahrens verurteilen wird. Eine Hauptverhandlung soll nur stattfinden, wenn neben der Staatsanwaltschaft auch das unabhängige Gericht die weitere Strafverfolgung als zulässig und notwendig bestätigt. Angeschuldigter und Justiz sind vor einer ungerechtfertigten Hauptverhandlung zu schützen.[3] Die Eröffnungsentscheidung am Ende des Zwischenverfahrens soll deshalb erkennbar aussichtslose Fälle ausfiltern, ohne der Hauptverhandlung in hochsensiblen Beweisfragen vorzugreifen.[4]

II. Die Beweiserhebung im Zwischenverfahren

Bevor das Gericht entscheidet, ob es das Hauptverfahren eröffnet, kann es schon im Zwischenverfahren Beweise erheben, § 202 S. 1 StPO. Es sind hierbei allerdings Besonderheiten zu beachten.

1. Möglichkeit einer Beweiserhebung

Im Zwischenverfahren dürfen nur solche Beweise erhoben werden, die für die Eröffnungsentscheidung des Gerichts bedeutsam sind.[5] Daher kommt die Beweiserhebung nur in den folgenden Fällen in Betracht: Es besteht ein hinreichender Tatverdacht, doch dieser könnte durch das Beweisergebnis jedenfalls teilweise beseitigt werden. Oder der Tatverdacht ist noch nicht hinreichend, doch er könnte sich durch das Beweisergebnis dahingehend verdichten. Demgegenüber sind im Zwischenverfahren keine Beweise zu erheben, um einen schon hinreichenden Tatverdacht noch weiter zu erhärten oder sich von der Täterschaft des Angeschuldigten zu überzeugen — dies ist Aufgabe der Hauptverhandlung.[6]

§ 202 S. 1 StPO ist restriktiv auszulegen. Die Beweiserhebung im Zwischenverfahren dient nicht dazu, offensichtliche Mängel des Ermittlungsverfahrens zu beheben.[7] Nicht erhoben werden dürfen Beweise daher mit dem Ziel, einen nach Aktenlage nicht bestehenden Tatverdacht überhaupt erst zu begründen.[8] Auch kann es sich bei der Beweiserhebung im Zwischenverfahren nicht um eine umfangreiche und zeitintensive Nachforschung handeln.[9] Schon der Wortlaut des § 202 S. 1 StPO sagt, dass das Gericht nur "einzelne" Beweise erheben kann. Raum ist daher nur für Ermittlungen, die den — durch die Staatsanwaltschaft bereits weitgehend aufgeklärten — Sachverhalt ergänzen. Hingegen dürfen nicht erhebliche Teile des Ermittlungsverfahrens nachgeholt werden.[10]

Denn die Ermittlungsbehörde, die den Sachverhalt dahingehend erforscht, ob ein hinreichender Tatverdacht besteht, ist nach der Strafprozessordnung die Staatsanwaltschaft, § 152 Abs. 1, § 160 Abs. 1 StPO.[11] Dass das Zwischenverfahren beginnt, ändert hieran nichts; das Gericht löst die Staatsanwaltschaft nicht in der Funktion der Ermittlungsbehörde ab.[12]

Es gilt: Vernimmt das Gericht im Zwischenverfahren erstmals den Hauptbelastungszeugen, um zu erfahren ob dieser den Tatvorwurf bestätigt, dann ist dies keine (nur) ergänzende Beweiserhebung.[13] Gleiches gilt, wenn mehrere Zeugen (nach-) vernommen werden müssen, da diese zu einem wichtigen Aspekt aussagen könnten.[14] Eine ergänzende Beweiserhebung im Zwischenverfahren stellt es auch nicht dar, wenn ein umfangreiches Rechtshilfeersuchen an einen anderen Staat zu richten sowie Kontenbewegungen und Finanzverhältnisse des Angeschuldigten intensiv aufzuarbeiten sind[15] oder wenn die erforderlichen Tatsachen beschafft werden müssen um einen Schaden zu berechnen statt ihn — wie bis dahin — lediglich zu schätzen[16] . Statt derart umfangreich selbst zu ermitteln, hat das Gericht bei der Staatsanwaltschaft anzuregen die Anklage zurückzunehmen oder — wird dies verweigert — abzulehnen die Hauptverhandlung zu eröffnen.[17]

Umstritten ist, ob das Gericht eine ihm mögliche ergänzende Beweiserhebung im Zwischenverfahren durchführen muss. Weil sich aus dem Wortlaut des § 202 StPO ("kann") keine Ermittlungspflicht herleiten lässt, wird dies teilweise abgelehnt.[18] Doch wenn das Gericht im Zwischenverfahren erkennt, dass eine nahe liegende einzelne Untersuchungshandlung einen hinreichender Tatverdacht auszuräumen vermag, dann darf es dem Angeschuldigten keine Hauptverhandlung zumuten; sein Durchführungsermessen reduziert sich auf Null. Gleiches gilt umgekehrt, wenn durch die ergänzende Beweiserhebung die Schwelle zum hinreichenden Tatverdacht überschritten werden kann.[19]

2. Anordnung einer Beweiserhebung

Bevor das Gericht eine Beweiserhebung anordnete, sollte es dem Angeschuldigten die Anklageschrift mitteilen und abwarten, ob dieser sich zu hierzu erklärt, § 201 Abs. 1 S. 1 StPO. Ergeben sich aus einer Erklärung nämlich Gesichtspunkte, die weitere Aufklärungsmaßnahmen erfordern, so können diese zeitgleich erfolgen.[20] Wird die Beweiserhebung — ausnahmsweise — bereits zuvor angeordnet, ist diese gleichwohl wirksam und verbindlich.[21]

Zu dem beabsichtigten Beweisbeschluss muss das Gericht weder die Staatsanwaltschaft noch den Angeschuldigten anhören.[22] Denn es ist — ebenso wie in der Hauptverhandlung — unabhängig von den Anträgen und Wünschen der Verfahrensbeteiligten verpflichtet, den Sachverhalt aufzuklären; Beweise sind gegebenenfalls sogar gegen deren Willen zu erheben.[23] Eine Anhörung wäre daher unnütz-formalistisch und es genügt, den Prozessbeteiligten die Beweisanordnung mitzuteilen.[24]

Weil die Beweiserhebung außerhalb der Hauptverhandlung angeordnet wird, beschließt das Gericht sie in der Besetzung, die § 30 Abs. 2, § 76 Abs. 1, § 122 Abs. 1 GVG vorschreibt.[25]

3. Durchführung einer Beweiserhebung

Der Beweis wird im sogenannten Freibeweisverfahren erhoben,[26] denn das förmliche Strengbeweisverfahren ist nur für Fragen vorgeschrieben, die für den Urteilsspruch zur Schuld- und Rechtsfolgenfrage bedeutsam sind.[27] Der Freibeweis ist nicht gesetzlich geregelt; wie sich das Gericht von der Freibeweis-Tatsache überzeugt, liegt in seinem Ermessen. Weder in der Wahl der Beweismittel, noch in der Form der Beweisaufnahme oder der Art, wie

es die Beweismittel benutzt, wird das Gericht durch die Prinzipien der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit eingeschränkt.[28]

Das Gericht kann die Beweise selbst erheben alternativ Staatsanwaltschaft oder Polizei darum bitten.[29] Hierbei handelt es sich nicht um die Vollstreckung einer richterlichen Entscheidung nach § 36 Abs. 2 StPO. Vielmehr wird die ersuchte Behörde dann im Rahmen der Amtshilfe tätig; ob sie hierzu verpflichtet ist, richtet sich nach den für die Amtshilfe geltenden Grundsätzen.[30]

Nachdem der Beweis erhoben wurde und bevor das Gericht entscheidet, ob es das Hauptverfahren eröffnet, hat es den Prozessbeteiligten zum Ergebnis der Beweisaufnahme rechtliches Gehör zu gewähren, § 33 Abs. 2, 3, § 397 Abs. 1 S. 4 StPO.[31]

4. Verteidigung gegen eine Beweiserhebung

Der Beschluss, mit dem das Gericht eine Beweiserhebung im Zwischenverfahren anordnet, kann grundsätzlich nicht angefochten werden, § 202 S. 2 StPO. Zieht das Gericht einen Sachverständigen hinzu, kann auch nicht gerügt werden, es habe diesen falsch ausgewählt.[32] Ausnahmsweise kann man den Beschluss aber anfechten, wenn die angeordnete Beweisaufnahme unzulässig ist, insbesondere wenn sie den Angeschuldigten in seinen Grundrechten verletzen würde[33]. Zulässig ist dann die einfache Beschwerde gemäß § 304 StPO.[34]

Wenn das Gericht im Zwischenverfahren Beweise erhebt, kann dies die Besorgnis begründen, es sei befangen. Dies kommt in Betracht, wenn die Beweisaufnahme unzulässig ist oder wenn nicht lediglich ergänzend Beweis erhoben wird, sondern so umfangreich, dass der Eindruck entsteht, das Gericht wolle um jedem Preis verurteilen.[35]

Die Revision kann auf einen Verstoß gegen § 202 StGB nur gestützt werden, wenn sich dieser in der Hauptverhandlung auswirkt. Wurde etwa ein Zeuge im Zwischenverfahren richterlich vernommen und der Beschuldigte hiervon entgegen § 168c Abs. 2, 5 StPO nicht benachrichtigt, so infiziert dieser Fehler die Hauptverhandlung, falls das Protokoll der Vernehmung dort verlesen wird.[36] Nicht erfolgreich wäre hingegen der Vorwurf, das Gericht hätte im Zwischenverfahren entlastende Beweise erheben müssen, um eine Eröffnung des Hauptverfahrens zu vermeiden.[37]


[1] Presseinformation des Landgericht Duisburg vom 05. April 2016, "Hintergrund: Auszug aus dem Nichteröffnungsbeschluss der 5. Großen Strafkammer", S. 8, 22.

[2] Paeffgen in: SK-StPO, Band IV, 5. Aufl. (2015), Vor §§ 198 ff. Rn. 5, § 291 Rn. 2; Schneider, in: KK-StPO, 7. Aufl. (2013), § 202 Rn. 1, 12; historisch so schon: Stenglein GS 41 (1889), 81, 86.

[3] Paeffgen a.a.O. (Fn. 2), Vor §§ 198 ff. Rn. 5.

[4] BGH, BeckRS 2010, 10962, Rn. 60 = HRRS 2010 Nr. 776, Rn. 58; OLG Saarbrücken, NStZ-RR 2009, 88; Rieß JURA 2002, 735, 736; Schneider a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 5; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, Band 5, 26. Aufl. (2008), § 203 Rn. 13.

[5] Schneider , a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 4.

[6] OLG Düsseldorf, BeckRS 2010, 01171; Paeffgen NStZ 2002, 281, 283; Stuckenberg a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 3.

[7] Meyer-Goßner NJW 1970, 415, 416.

[8] LG Köln StV 2007, 572; Seidl, in: Kleinknecht/ Müller/ Reitberger (Hrsg.), StPO, 63. EL (2012), § 202 Rn. 1 f.

[9] OLG Karlsruhe wistra 2004, 276 = StV 2004, 325.

[10] Schneider a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 2; Paeffgen NStZ 2002, 281, 282; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 4.

[11] Griesbaum in: KK-StPO, 7. Aufl. (2013), § 160 Rn. 1, 19; Strate, StV 1985, 337; Zöller in: Gercke/ Julius/ Temming (Hrsg.), StPO, 5. Aufl. (2012), § 160 Rn. 1, 7.

[12] Siewert/Mattheus DRiZ 1993, 353, 356.

[13] AG Berlin-Tiergarten BeckRS 2007, 10685.

[14] LG Berlin NStZ 2003, 504; AG Gummersbach StV 2015, 165, 166.

[15] OLG Karlsruhe wistra 2004, 276 = StV 2004, 325.

[16] OLG Celle StV 2012, 456, 457.

[17] Stuckenberg , a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 4.

[18] Siewert/Mattheus DRiZ 1993, 353, 356; dagegen für eine schon bestehende Prüfungspflicht und eine klarstellende Änderung des Wortlauts: Grünwald, 50. DJT 1974, C49; Römer, 50. DJT 1974, K28.

[19] Paeffgen a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 2; Schneider, a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 3; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 5; differenzierend: Meyer-Goßner, in: ders./ Schmidt (Hrsg.), StPO, 59. Aufl. (2016), § 202 Rn. 1.

[20] Paeffgen a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 5; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 10.

[21] OLG Celle MDR 1966, 781.

[22] Seidl , a.a.O. (Fn. 7), § 202 Rn. 8; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 10.

[23] Krehl , KK-StPO, 7. Aufl. (2013), § 244 Rn. 32.

[24] Seidl , a.a.O. (Fn. 7), § 202 Rn. 8.

[25] Paeffgen a.a.O. (Fn. 2), § 199 Rn. 15; Seidl, a.a.O. (Fn. 7), § 202 Rn. 6; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 9.

[26] Paeffgen a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 6; Seidl, a.a.O. (Fn. 7), § 202 Rn. 10; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 15.

[27] Krehl , a.a.O. (Fn. 23), § 244 Rn. 8.

[28] BGHSt 16, 164, 166; Krehl, a.a.O. (Fn. 23), § 244 Rn. 16.

[29] differenzierend: Schneider, a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 8.

[30] Paeffgen a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 7; Strate StV 1985, 337, 340; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 16 ff.

[31] Rieß JURA 2002, 735, 737; Seidl, a.a.O. (Fn. 7), § 202 Rn. 14; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 20.

[32] OLG Düsseldorf VRS 80, 353.

[33] OLG Köln BeckRS 2004, 18638; OLG Hamm NJW 1974, 713.

[34] OLG Celle JZ 1954, 199; Paeffgen a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 9; Schneider, a.a.O. (Fn. 2), § 202 Rn. 11; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 21.

[35] RGSt 65, 322, 329; Seidl, a.a.O. (Fn. 7), § 202 Rn. 16; Siewert/Mattheus DRiZ 1993, 353, 356; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 21.

[36] BGH Urt. v. 15.12.1976 nach Holtz, MDR 1977, 458, 461.

[37] Seidl , a.a.O. (Fn. 7), § 202 Rn. 17; Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 4), § 202 Rn. 22.