HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2011
12. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

266. BGH 4 StR 404/10 – Beschluss vom 4. November 2010 (LG Münster)

Verwertung von Verkehrsdaten über Telekommunikationsvorgänge im Sinne der §§ 96, 113a TKG (Nichtigkeit der Vorratsdatenspeicherung); Verfahrenseinstellung nach Strafverfolgungsverjährung (zu Unrecht angenommene Unterbrechung); keine rückwirkende Anwendung der geänderten Vorschriften über die Rückgewinnungshilfe (milderes Recht).

Art. 10 GG; Art. 2 Abs. 1, Art. 1 GG; § 96 TKG; § 113a TKG; § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO; § 31 BVerfGG; § 78 StGB; § 206a StPO; § 2 Abs. 5 StGB; § 111i Abs. 2 StPO

1. Auch wenn die §§ 96, 113a TKG gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Satz 1 BVerfGG nichtig sind, durften Verkehrsdaten, die auf Grund dieser Rechtsgrundlage von den Telekommunikationsdiensteanbietern übermittelt worden sind, bei der Strafverfolgung verwendet und in der Beweiswürdigung verwertet werden, soweit dies nach Maßgabe der bis zur Entscheidung in der Hauptsache und damit im Beschlusszeitpunkt geltenden einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 121, 1) und der dort getroffenen (einschränkenden) Übergangsregelung geschah.

2. Wird eine gesetzliche Regelung, wie im vorliegenden Fall, durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG vorläufig modifiziert, bedeutet dies für die Zeit ihrer Geltung regelmäßig eine endgültige Regelung der Rechtslage. Eine nachträgliche Korrektur für den Geltungszeitraum der einstweiligen Anordnung scheidet aus. Zwar wird die Gesetzeskraft einer solchen Entscheidung, anders als bei der Hauptsacheentscheidung (vgl. § 31 Abs. 2 BVerfGG), nicht ausdrücklich gesetzlich angeordnet; eine der Gesetzeskraft zumindest entsprechende Wirkung der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG angeordneten Anwendungseinschränkung ergibt sich aber – für die Geltungsdauer der Anordnung – aus ihrer Funktion als Modifikation eines Gesetzes im formellen Sinne und wird vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung angenommen.

3. Eine andere rechtliche Beurteilung der gerichtlich angeordneten Übermittlung der entscheidungserheblichen Verkehrsdaten ergibt sich auch nicht daraus, dass das Bundesverfassungsgericht in der am 2. März 2010 ergangenen Hauptsacheentscheidung die §§ 113a, 113b TKG sowie § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO wegen Verstoßes gegen Art. 10 Abs. 1 GG teilweise für nichtig erklärt hat. Die ex-tunc-Wirkung dieser Entscheidung lässt die selbständige Legitimierungsfunktion der einstweiligen Anordnung im Rahmen der dort näher umschriebenen einschränkenden Maßgaben als sog. normvertretendes Übergangsrecht unberührt.


Entscheidung

223. BGH 1 StR 544/09 – Beschluss vom 2. November 2010 (LG Limburg)

Ablehnung von Beweisanträgen wegen Unzumutbarkeit; Bedeutung des Grundsatzes der Spezialität (Europäischer Haftbefehl; Vollstreckungshindernis; Verfolgungshindernis); Strafverfolgungsverjährung bei der Umsatzsteuerhinterziehung (Unterbrechung; hinreichend bestimmter Ermittlungsumfang und Verfolgungswille); Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs wegen Prozessverschleppungsabsicht; Darlegungsanforderungen bei einer Vielzahl von Verfahrensrügen; fehlerhafte Gerichtsbesetzung (Recht auf den gesetzlichen Richter; Willkürerfordernis; abstrakt-genereller Geschäftsverteilungsplan; Besetzungsrüge); Steuerhinterziehung (Blankettstraftat; Vollendung bei Unterlassungstaten; Sachdarstellung; Berechnungsdarstellung; Kompensationsverbot; ungerechtfertigter Steuervorteil: Verlustabzug durch einen Grundlagenbescheid; verdeckte Gewinnausschüttung).

§ 370 AO; § 78 StGB; § 78c StGB; § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG; Art. 27 Abs. 3 lit. c Rahmenbeschlusses 2002/584/JI; § 26a StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 338 Nr. 1, 2, 3 und 5 StPO; § 192 Abs. 2 GVG

1. 1. Ein Beweisantrag kann auch zurückgewiesen werden, wenn der Umfang der begehrten Beweisaufnahme auf Unmögliches gerichtet ist bzw. die Grenzen der Zumutbarkeit „eindeutig überschritten“ sind.

2. Eine Besetzungsrüge gemäß § 338 Nr. 1 StPO kann nur Erfolg haben, wenn der in Rede stehenden Besetzung eine willkürliche Verletzung der einschlägigen Bestimmungen zu Grunde liegen würde (vgl. BVerfGE 23, 288, 320). Von Willkür kann aber nur die Rede sein, wenn sich die Entscheidung über die Gerichtsbesetzung so weit von dem die Bestimmungen über die Besetzung des Gerichts beherrschenden Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist. Schon eine nur vertretbare Beantwortung einer Zweifelsfrage zur zutreffenden Gerichtsbesetzung verstößt aber weder gegen den sich aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ergebenden Anspruch auf Mitwirkung des gesetzlichen Richters, noch wird dadurch eine vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts i.S.v. § 338 Nr. 1 StPO herbeigeführt (vgl. BVerfGE 29, 45, 48; BGH NStZ 1982, 476, 477

mwN). Zur Anwendung auf die Hinzuziehung von Ergänzungsrichtern.

3. Das Wissen, das ein Richter während des Laufs eines anhängigen Verfahrens dienstlich erlangt und durch eine dienstliche Erklärung in die Hauptverhandlung einbringt, macht den Richter nicht zum Zeugen. Eine Vernehmung als Zeuge wäre ein unzulässiges Beweismittel i.S.d. § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO; es entzöge dem Angeklagten den gesetzlichen Richter (BGH NJW 1993, 2758).

4. Die Vorschrift des § 26a StPO gestattet ausnahmsweise, dass ein abgelehnter Richter selbst über ein gegen ihn angebrachtes Befangenheitsgesuch entscheidet. Voraussetzung für diese Ausnahme von dem in § 27 StPO erfassten Regelfall der Entscheidung ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters ist, dass keine Entscheidung in der Sache getroffen wird, vielmehr die Beteiligung des abgelehnten Richters auf eine echte Formalentscheidung oder die Verhinderung des Missbrauchs des Ablehnungsrechts beschränkt bleibt (BVerfG, NJW 2005, 3410). Dies gilt auch für die Anwendung des § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO. Allerdings ist es zum Beleg der Prozessverschleppungsabsicht regelmäßig erforderlich, dass die Richter das eigene Verhalten im Rahmen des Prozessgeschehens schildern. Allein hierdurch werden sie aber nicht zu Richtern in eigener Sache. Auch der Umstand, dass die abgelehnten Richter auf vorangehende Beschlüsse Bezug nehmen, mit denen sie bereits eine Prozessverschleppungsabsicht in anderem Zusammenhang festgestellt hatten, macht sie nicht zu Richtern in eigener Sache. Schon in der sogar mehrfachen Wiederholung gleichlautender Anträge kann eine Absicht zur Verfahrensobstruktion erkennbar werden.

5. Der Auftrag der Verteidigung liegt – bei allem anerkennenswerten Engagement für den Mandanten – nicht ausschließlich im Interesse eines Angeklagten, sondern auch in einer am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege (BGHSt 29, 99, 106). Der Verteidiger, von dem das Gesetz besondere Sachkunde verlangt (§§ 138, 139, 142 Abs. 2 StPO, § 392 AO), ist der Beistand, nicht der Vertreter des Beschuldigten, an dessen Weisungen er auch nicht gebunden ist (BGH NStZ 1992, 140).

6. Für die Rüge, ein Ablehnungsgesuch sei zu Unrecht nach § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO abgelehnt worden, folgt aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, dass der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dieser Verfahrensrüge (ebenso wie bei Ablehnung eines Beweisantrags wegen Prozessverschleppungsabsicht) auch sein eigenes prozessuales Verhalten wiedergeben muss, soweit es nach dem Inhalt des beanstandeten Beschlusses für die Entscheidung mitbestimmend war. Dem steht nicht entgegen, dass hiermit verlangt wird, dass mit dem Revisionsvorbringen auch solche Umstände vorgetragen werden müssen, die der erhobenen Rüge den Boden entziehen können (vgl. BGHSt 52, 355, 357).

7. Insbesondere dann, wenn sich der Verfahrensgang durch eine kaum zu überblickende Anzahl von Anträgen der Verteidigung auszeichnet, die sich auf umfangreiche Anlagen beziehen, sich teilweise wiederholen und zum Teil auf andere Anträge oder Beschlüsse Bezug nehmen, kann die Revision nicht von ihrer sich aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ergebenden Pflicht entbunden werden, die (und nur die) auf die jeweilige Angriffsrichtung bezogenen Verfahrenstatsachen so vorzutragen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung die einzelnen Rügen darauf überprüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegen würde, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (vgl. BGH NJW 2007, 3010, 3011; BGH NStZ 2005, 463; BVerfG NJW 2005, 1999, 2001).

8. Der dem Spezialitätsgrundsatz zugrunde liegende Tatbegriff umfasst den gesamten mitgeteilten Lebenssachverhalt, innerhalb dessen der Verfolgte einen oder mehrere Straftatbestände erfüllt haben soll. Im Rahmen dieses historischen Vorgangs sind die Gerichte des ersuchenden Staates nicht gehindert, die Tat abweichend rechtlich oder tatsächlich zu würdigen, soweit insofern ebenfalls Auslieferungsfähigkeit besteht (BGH NStZ 2003, 684; 1986, 557).

9. Der Begriff der „anderen Tat“ im Sinne des § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG knüpft allein an die Beschreibung der Straftat in der Auslieferungsbewilligung, diese wiederum an den Europäischen Haftbefehl an. Eine „andere Tat“ liegt nicht vor, wenn sich die Angaben im Europäischen Haftbefehl und diejenigen im späteren Urteil hinreichend entsprechen. Der Umstand, dass der dem Auslieferungsersuchen und der Auslieferungsbewilligung zugrunde liegende Haftbefehl im weiteren Verlauf des Ermittlungsverfahrens – verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend – eine dem jeweiligen Ermittlungsstand angepasste Konkretisierung erfahren hat, lässt die Identität der Tat unberührt.

10. Es bleibt offen, ob aus § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG, der Art. 27 Abs. 3 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1 ff.) wortgleich umsetzt, folgt, dass sich aus einer Verletzung des Spezialitätsgrundsatzes kein Verfahrenshindernis, sondern lediglich ein Vollstreckungshindernis ergibt (so EuGH NStZ 2010, 35).

11. Im Fall der unterlassenen Abgabe einer Umsatzsteuerjahreserklärung beginnt die Verfolgungsverjährung mit Ablauf der Erklärungsfrist (st. Rspr.; BGH wistra 2009, 189 mwN).

12. Bei der Blankettstrafnorm des § 370 AO, die erst zusammen mit den sie ausfüllenden steuerrechtlichen Vorschriften die maßgebliche Strafvorschrift bildet (vgl. BGH NStZ 2007, 595), muss sich aus den Feststellungen ergeben, welches steuerlich erhebliche Verhalten im Rahmen der jeweiligen Abgabenart zu einer Steuerverkürzung geführt hat.

13. Bei der Hinterziehung von Veranlagungssteuern durch Unterlassen ist – sofern kein Schätzungsbescheid ergangen ist – für die Vollendung der Tat i.S.v. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO derjenige Zeitpunkt maßgebend, zu dem die Veranlagung spätestens stattgefunden hätte, wenn die Steuererklärung eingereicht worden wäre (st. Rspr. BGH NStZ-RR 1999, 218). Dies ist dann der Fall, wenn das zuständige Finanzamt die Veranlagungsarbeiten für die

betreffende Steuerart und den betreffenden Zeitraum im Wesentlichen abgeschlossen hat.

14. Mit „anderen Gründen“ im Sinne des Kompensationsverbots des 370 Abs. 4 Satz 3 AO sind nur solche Tatsachen gemeint, auf die sich der Täter nicht bereits im Besteuerungsverfahren berufen hat (BGH NJW 1987, 1273). Steuervorteile, die dem Täter schon aufgrund seiner Angaben zustanden, dürfen ihm im Steuerstrafverfahren nicht vorenthalten werden.

15. Denn eine Besserstellung des Steuerpflichtigen wird nicht erst durch die tatsächliche Durchführung des Verlustabzugs, sondern bereits durch die Feststellung des (vortragsfähigen) Verlusts in einem Grundlagenbescheid bewirkt. Insofern erlangt der Steuerpflichtige einen Vorteil spezifisch steuerlicher Art, der auf dem Tätigwerden der Finanzbehörde beruht und der eine hinreichend konkrete Gefährdung des Steueranspruchs begründet, die für die Annahme eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils genügt (vgl. BGHSt 53, 99, 106f.).


Entscheidung

216. BGH 1 StR 422/10 – Beschluss vom 14. Dezember 2010 (LG Wuppertal)

Anordnung eines Selbstleseverfahrens bei einem Analphabeten als Angeklagtem (Widerspruch; herbeizuführender Gerichtsbeschluss; Wechsel des Verteidigers; Zwischenrechtsbehelf); im Einzelfall entbehrliche Berechnungsdarstellung und Angabe der Schadenshöhe bei der Umsatzsteuerhinterziehung (Vorsteuerabzug; Hinterziehungssystem); Feststellung des Hinterziehungsvorsatzes.

§ 370 AO; § 15 UStG; § 15 StGB; § 267 StPO; Art. 6 EMRK; § 249 StPO; § 238 Abs. 2 StPO

1. Der Vorsitzende bestimmt nach pflichtgemäßem Ermessen, ob ein Selbstleseverfahren durchzuführen ist. Dabei sind auch Anhaltspunkte für Analphabetismus in die Erwägungen einzubeziehen. Einen Rechtssatz, dass in derartigen Fällen ein Selbstleseverfahren keinesfalls zulässig sei, gibt es nicht. Wird ein solches Verfahren für zweckmäßig gehalten, so ist die Situation damit vergleichbar, dass der Angeklagte Urkunden zwar lesen, aber mangels Sprachkenntnissen nicht verstehen kann. Auch dann ist ein Selbstleseverfahren möglich, jedoch muss das Gericht ermöglichen, dass ihm der Inhalt der Urkunde zur Kenntnis gebracht wird.

2. Jedoch kann, von den hier nicht in Rede stehenden Richtern abgesehen, jeder Verfahrensbeteiligte, also auch der Angeklagte, auch darauf verzichten, vom Inhalt der Urkunden Kenntnis zu nehmen. Verzichtet er nicht, kann der Inhalt gegebenenfalls durch einen hierzu bereiten Verteidiger zur Kenntnis gebracht werden, sonst auf andere Weise. Es ist dem Strafprozessrecht auch sonst nicht fremd, dass erforderlichenfalls Urkunden vorgelesen werden.

3. Auf die Rüge der fehlerhaften Anordnung oder Durchführung des Selbstleseverfahrens kann eine Verfahrensrüge nicht mit Erfolg gestützt werden, wenn zuvor kein Gerichtsbeschluss herbeigeführt wurde. Hinsichtlich der Anordnung ist eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO herbeizuführen, bei der das Ermessen des Spruchkörpers an die Stelle des Ermessens des Vorsitzenden tritt. Geht es nicht um die Anordnung, sondern die ebenfalls zunächst vom Vorsitzenden zu bestimmende Art der Durchführung des Selbstleseverfahrens, ist eine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeizuführen, wobei dann nur die Rechtmäßigkeit, nicht aber die Zweckmäßigkeit der beanstandeten Maßnahme zu überprüfen ist.

4. Der Bundesgerichtshof hat offen gelassen, ob eine Rüge auch dann daran scheitert, dass keine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeigeführt wurde, wenn die behauptete Rechtsverletzung durch den Vorsitzenden nicht mehr mit der Einhaltung „der unumstößlichen, eindeutigen Grenzen zulässiger Verfahrensgestaltung“ vereinbar wäre (BGH JR 2007, 381, 384). Dem ist schon dann nicht näher nachzugehen, wenn es um die Wahrung eines Rechts geht, auf das der Angeklagte nach seinem Belieben verzichten kann. Wird die Verletzung eines derartigen Rechts gerügt, bleibt es bei dem Grundsatz, dass eine solche Rüge nur Erfolg haben kann, wenn eine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeigeführt wurde.


Entscheidung

130. BGH 3 StR 63/10 – Urteil vom 29. April 2010 (LG Stade)

Mord; Beweiswürdigung (unvollständige, unzureichende); rechtsfehlerhafte Zurückweisung eines Beweisantrages (Annahme eines Verwertungsverbots); Bedeutungslosigkeit einer Beweistatsache (tatsächliche Gründe, rechtliche Gründe); Unzulässigkeit einer Beweiserhebung.

§ 211 StGB; § 261 StPO; § 244 StPO; § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 163a Abs. 4 StPO

1. Eine Tatsache ist im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 aus Rechtsgründen ohne Bedeutung, wenn sie weder allein noch in Verbindung mit weiteren Tatsachen geeignet ist, unmittelbar ein Tatbestandsmerkmal des dem Angeklagten vorgeworfenen Delikts auszufüllen oder für den Rechtsfolgenausspruch direkt Relevanz zu gewinnen, oder darüber hinaus auch dann, wenn eine Verurteilung schon aus anderen bereits erwiesenen Gründen nicht möglich ist, etwa wegen Vorliegens von Prozesshindernissen, Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründen.

2. Unterfällt ein Beweismittel einem Beweisverwertungsverbot, so ist ein auf die Erhebung eines darauf gestützten Beweises gerichteter Beweisantrag nicht wegen (rechtlicher) Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache, sondern wegen Unzulässigkeit der Beweiserhebung (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO) zurückzuweisen.

3. Eine unterbliebene Beschuldigtenbelehrung begründet grundsätzlich ein Verwertungsverbot für Äußerungen, die der Beschuldigte in der ohne Belehrung durchgeführten Vernehmung gemacht hat. Auch fehlerhafte Belehrungen können je nach Gestaltung des Einzelfalls dazu führen, dass die Einlassung unverwertbar ist.

4. Für den Regelfall empfiehlt es sich zwar, die Belehrung eines zu vernehmenden Beschuldigten in den Worten des § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO zu erteilen. Zwingend ist dies

aber nicht; es stellt auch nicht ohne Weiteres einen Verfahrensfehler dar, wenn die Worte des Gesetzes nicht benutzt werden. Maßgebend ist vielmehr, dass die Belehrung dem Beschuldigten Klarheit über seine Aussagefreiheit verschafft und eine diesbezügliche etwaige Fehlvorstellung ausschließt.


Entscheidung

207. BGH StB 46/09 – Beschluss vom 4. März 2010 (Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs)

Akteneinsicht (Zeuge; Zeugenbeistand); Zeuge (Beeinflussung durch die Kenntnis der Angaben Dritter); Selbstbelastungsfreiheit; Auskunftsverweigerungsrecht (Gefahr der Strafverfolgung; mosaikartiges Beweisgebäude).

§ 475 StPO; § 477 StPO; § 147 StPO; § 58 StPO; § 243 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 55 StPO

1. § 55 Abs. 1 StPO gewährt dem Zeugen das Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihn selbst oder einen Angehörigen der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.

2. Eine Verfolgungsgefahr im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO ist anzunehmen, wenn eine Ermittlungsbehörde aus einer wahrheitsgemäßen Aussage des Zeugen Tatsachen entnehmen könnte, die sie zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (§ 152 StPO) veranlassen oder zur Aufrechterhaltung oder Verstärkung eines Tatverdachts führen könnten. Hierfür genügt es bereits, wenn der Zeuge bestimmte Tatsachen angeben müsste, die lediglich mittelbar den Verdacht einer Straftat begründen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die wahrheitsgemäße Beantwortung einer Frage zwar allein eine Strafverfolgung nicht auslösen, jedoch „als Teilstück in einem mosaikartigen Beweisgebäude“ zu einer Belastung des Zeugen beitragen könnte.

3. Für die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung muss es konkrete tatsächliche Anhaltspunkte geben; bloße Vermutungen oder rein denktheoretische Möglichkeiten reichen nicht aus. Selbst wenn danach von einer Verfolgungsgefahr ausgegangen werden muss, so ist der Zeuge gemäß § 55 Abs. 1 StPO grundsätzlich nur berechtigt, die Auskunft auf einzelne Fragen zu verweigern. Nur ausnahmsweise ist er zu einer umfassenden Verweigerung der Auskunft befugt, wenn seine gesamte in Betracht kommende Aussage mit einem möglicherweise strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass im Umfang der vorgesehenen Vernehmungsgegenstände nichts übrig bleibt, wozu er ohne die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat wahrheitsgemäß aussagen könnte.

4. Ein Zeuge hat, sofern er nicht Verletzter ist, ein Akteneinsichtsrecht nur als „Privatperson“ im Sinne von § 475 StPO. Dies gilt selbst dann, wenn ein Auskunftsverweigerungsrecht im Sinne des § 55 StPO im Raume steht, da der Zeuge seine Besorgnis zu erkennen gibt, sich selbst belasten zu müssen, wenn er wahrheitsgemäße Angaben macht.

5. Einem anwaltlichen Zeugenbeistand steht – im Gegensatz zum Verteidiger (vgl. § 147 Abs. 1 StPO) – ein eigenes Recht auf Akteneinsicht nicht zu. Seine Rechtsstellung leitet sich aus der des Zeugen ab. Er hat keine eigenen Rechte als Verfahrensbeteiligter und keine weitergehenden Befugnisse als der Zeuge selbst.

6. Gemäß § 58 Abs. 1, § 243 Abs. 2 Satz 1 StPO ist ein Zeuge in Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen zu vernehmen; während der Einlassung des Angeklagten (sofern diese vor der Zeugenvernehmung abgegeben wird) hat er den Sitzungssaal zu verlassen. Der Zeuge soll auf diese Weise unbeeinflusst von der Kenntnis der Angaben Dritter aussagen. Hieraus folgt mittelbar, dass Zwecke des Strafverfahrens einer Akteneinsicht des Zeugen regelmäßig entgegen stehen (§ 477 Abs. 2 Satz 1 StPO), denn der Beweiswert der Aussage eines Zeugen wäre gemindert, wenn er vor ihr im Einzelnen wüsste, was andere Zeugen zu dem Beweisthema bekundet haben.


Entscheidung

255. BGH 2 StR 563/10 – Beschluss vom 21. Dezember 2010 (LG Aachen)

Anforderungen an die Rüge einer mangelnden Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Wege der Vollstreckungslösung (gesonderter Angriff; Anforderungen an die erforderliche Verfahrensrüge).

Art. 6 EMRK; Art. 13 EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Zulässiges Ziel einer Revision kann es auch sein, eine Kompensation einer nach Aufhebung der erstinstanzlichen Verurteilung und Zurückverweisung durch den Bundesgerichtshof eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zu begehren.

2. Dies folgt aus Sinn und Zweck sowie systematischer Stellung der so genannten Vollstreckungslösung, welche die frühere Strafabschlagslösung abgelöst hat (BGHSt 52, 124). Bei der Vollstreckungslösung wird der Ausgleich für einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot aus dem Vorgang der Strafzumessung herausgelöst, bleibt aber Teil des Rechtsfolgenausspruchs im weiteren Sinne (vgl. BGH, Beschluss vom 22. November 2010 – 5 StR 489/10). Sie konstituiert die notwendige Kompensation für rechtsstaatswidrige Verzögerungen des zugrunde liegenden Verfahrens als eigenständigen, allein an den Maßstäben des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK orientierten Prüfungsvorgang, der Unrecht, Schuld- und Strafhöhe unberührt lässt.

3. Die für die Geltendmachung einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes grundsätzlich erforderliche Verfahrensrüge (vgl. BGH StV 2009, 118; NJW 2007, 2647) muss aber die die Verzögerung begründenden Tatsachen vollständig mitteilen.


Entscheidung

268. BGH 4 StR 459/10 – Beschluss vom 2. Dezember 2010 (LG Bautzen)

Unzulässige Revision mangels Beschwer des Angeklagten (Beschlussverwerfung; mangelnde Unterbringung in einer Entziehungsanstalt).

§ 349 Abs. 1, Abs. 2 StPO; § 64 StGB

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass ein Angeklagter ein gegen ihn ergangenes Urteil nicht allein deswegen anfechten kann, weil gegen ihn neben der Strafe keine Maßregel nach § 64 StGB angeordnet worden ist (BGHSt 28, 327, 330 f.; 37, 5, 7; 38, 4, 7; 38, 362, 363). Dementsprechend wirkt ein Aufhebungsantrag des Generalbundesanwalts wegen der Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu Lasten des Angeklagten und hindert nicht die Verwerfung der Revision durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO (st. Rspr., BGH NStZ-RR 2006, 103). Hieran hat sich durch die Novellierung der §§ 64, 67 StGB durch das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I S. 1327) nichts geändert.


Entscheidung

194. BGH 5 StR 209/10 – Beschluss vom 20. Juli 2010 (LG Bremen)

Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit (Unzulässigkeit; aus zwingenden rechtlichen Gründen völlig ungeeignete Begründung); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefahrenprognose; Verhältnismäßigkeit).

§ 26a StPO; § 63 StGB; § 62 StGB

Die Beteiligung von Richtern an einer Vorentscheidung vermag deren Befangenheit grundsätzlich nicht zu begründen. Dies gilt für Richter eines Revisionsgerichts in besonderem Maße, wenn deren Vorentscheidung zu einem Erfolg des Rechtsmittels des Beschwerdeführers geführt hat.


Entscheidung

232. BGH 2 ARs 289/10 2 AR 184/10 – Beschluss vom 22. Dezember 2010 (OLG München)

Ausschließung als Verteidiger; sofortige Beschwerde (mangelnde Abänderungskompetenz; Grenzen der Umdeutung eines Rechtsmittels bei Anträgen eines Rechtsanwalts in eine Gegenvorstellung).

§ 138a StPO; § 311 Abs. 3 Satz 1 StPO

1. Im Verfahren über die sofortige Beschwerde besitzt das Gericht, dessen Beschluss angefochten ist, keine Abänderungskompetenz (§ 311 Abs. 3 Satz 1 StPO) und nur im Fall der Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör eine Abhilfebefugnis (§ 311 Abs. 3 Satz 2 StPO). Eine Verwerfungskompetenz, wie sie in beschränktem Umfang für andere Rechtsmittel vorgesehen ist (§§ 319 Abs. 1, 346 Abs. 1 StPO), kennt das Beschwerderecht der Strafprozessordnung nicht. Dementsprechend ist das erstinstanzliche Gericht nicht dazu befugt, die Unzulässigkeit des Rechtsmittels festzustellen und es deshalb in eine Gegenvorstellung umzudeuten.

2. Zudem ist für die Umdeutung eines von einem Rechtsanwalt ausdrücklich als „sofortige Beschwerde nach § 138d Abs. 5 Satz 1 StPO“ bezeichneten Rechtsmittels in eine Gegenvorstellung kein Raum, da dies seinem erkennbaren Willen widerspricht.


Entscheidung

220. BGH 1 StR 509/10 – Beschluss vom 30. November 2010 (LG Nürnberg-Fürth)

Anforderungen an einen hinreichenden Hinweis (Hinweispflicht); Beweisantrag auf polygraphische Untersuchung (Begriff; mangelnde Eignung); Recht auf ein faires Verfahren (Übergehen eines Hilfsbeweisantrages).

§ 265 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 2 4. Var. StPO; § 338 Nr. 8 StPO

1. Ein Hinweis gemäß § 265 StPO muss nicht aus Rechtsgründen stets auf neuen tatsächlichen Erkenntnissen beruhen. Dies ist nur nach forensischer Erfahrung vielfach der Fall. Ein Hinweis nach § 265 StPO ist aber auch dann geboten, wenn sich der Sachverhalt selbst nicht geändert hat, er aber nach Auffassung des Gerichts dennoch rechtlich anders als noch in der zugelassenen Anklage zu bewerten ist.

2. Verlangt der Angeklagte formell eine Untersuchung unter Einsatz eines Polygraphen liegt allein darin noch kein Beweisantrag.

3. Gegen einen auch nur geringfügigen indiziellen Beweiswert des Ergebnisses einer mittels eines Polygraphen vorgenommenen Untersuchung bestehen weiterhin die im Urteil BGHSt 44, 308, 323 ff. dargelegten grundsätzlichen Einwände betreffend den hier allein in Rede stehenden sog. Kontrollfragentest.


Entscheidung

167. BGH 3 StR 564/09 – Beschluss vom 4. Februar 2010 (LG Hildesheim)

Lückenhafte Beweiswürdigung (fehlende Erörterung naheliegender Sachverhaltsalternativen).

§ 261 StPO

Die Würdigung der erhobenen Beweise obliegt zwar allein dem Tatrichter, sodass sie vom Revisionsgericht auf die Sachrüge nur daraufhin überprüft werden, ob sie Rechtsfehler aufweist. Dies ist jedoch etwa dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft ist, insbesondere weil das Tatgericht sich nicht mit nahe liegenden alternativen Geschehensabläufen befasst, obwohl sich dies nach dem Beweisergebnis aufdrängt.


Entscheidung

143. BGH 3 StR 156/10 – Beschluss vom 24. Juni 2010

Beistand der Nebenklage (Fortwirkung der Bestellung über die Instanz hinaus; hinreichende Gründe für einen Wechsel des Beistands).

§ 397a StPO; § 143 StPO

1. Die Beistandsbestellung durch das erstinstanzliche Gericht wirkt bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens fort; sie erstreckt sich somit auch auf die Revisionsinstanz.

2. Ein Wechsel in der Person des Nebenklagebeistandes kann in entsprechender Anwendung des § 143 StPO nur durch Rücknahme der ursprünglichen Beiordnung und Bestellung eines neuen Beistandes erfolgen. Hierfür bedarf es jedoch des Vortrags hinreichender sachlicher Gründe, die den Wechsel in der Person des Beistands rechtfertigen können.


Entscheidung

151. BGH 3 StR 403/09 – Beschluss vom 14. Januar 2010 (LG Hannover)

Unterrichtung des Angeklagten vom wesentlichen Inhalt dessen, was in seiner Abwesenheit verhandelt worden ist; Beruhen; Bedeutung einer Nachvernehmung.

§ 231b Abs. 2 StPO; § 231a Abs. 2 StPO; § 337 StPO

1. Ein Urteil beruht schon dann auf einem Rechtsfehler, wenn es möglich erscheint oder wenn nicht auszuschließen ist, dass es ohne den Rechtsfehler anders ausgefallen wäre. An dem Beruhen fehlt es nur, wenn die Möglichkeit, dass der Verstoß das Urteil beeinflusst hat, ausgeschlossen oder rein theoretisch ist.

2. Nach aller Erfahrung dienen ergänzende Vernehmungen von Belastungszeugen der Abklärung von Widersprüchen, die sich im Verlauf der Beweisaufnahme nach der ersten Vernehmung ergeben haben. Dies spricht für die Bedeutung der weiteren Aussage eines bereits vernommenen Zeugen. Daher wird regelmäßig nicht ausgeschlossen werden können, dass die Verteidigungsmöglichkeiten eines Angeklagten, der über den Inhalt der zweiten Vernehmung verfahrensfehlerhaft nicht unterrichtet wird, in einer Weise eingeschränkt sind, dass das Urteil hierauf beruhen kann.


Entscheidung

178. BGH 5 StR 127/10 – Beschluss vom 27. April 2010 (LG Flensburg)

Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung (Aussage gegen Aussage; Aussagekonstanz; Detailreichtum); Urteilsgründe; sexueller Missbrauch von Kindern.

§ 261 StPO; § 267 Abs. 3 StPO; § 176 StGB

1. Die Beweislage in einer Konstellation „Aussage gegen Aussage“ stellt besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung des Tatrichters. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat.

2. Bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung in einer Konstellation „Aussage gegen Aussage“ ist eine Gesamtabwägung aller relevanten Umstände erforderlich. Hierbei wird regelmäßig eine Auseinandersetzung mit den Umständen zu erfolgen haben, unter denen sich der mutmaßlich Geschädigte erstmals zu belastenden Angaben entschloss. Außerdem wird eine detaillierte Darstellung geboten sein, inwieweit der Belastungszeuge konstante Angaben machte und wie sich der Detailreichtum zwischen verschiedenen Vernehmungen entwickelte.


Entscheidung

163. BGH 3 StR 530/09 – Beschluss vom 19. Januar 2010 (LG Düsseldorf)

Durchsuchung von Wohnräumen (Gefahr im Verzuge; Anordnung durch die Polizei); richterlicher Bereitschaftsdienst; Verwertbarkeit von Beweismitteln.

§ 102 StPO; § 105 StPO; § 98 StPO; § 261 StPO

Der Senat lässt offen, ob das Fehlen eines richterlichen Bereitschaftsdienstes zur Prüfung von Anträgen auf Durchsuchungen von Wohnräumen während der Nachtzeit in einer Großstadt wie Düsseldorf als ein schwerwiegender Organisationsmangel anzusehen ist, der im Einzelfall zu einem Beweisverwertungsverbot führen kann.


Entscheidung

126. BGH 3 StR 24/10 – Beschluss vom 13. April 2010 (LG Hildesheim)

Abwesenheit während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung; Verfahrenstrennung; prozessuales Verhältnis zwischen Mitangeklagten; Betrug (psychische Beihilfe; bloßes Dabeisein; aktives Tun).

§ 338 Nr. 5 StPO; § 2 StPO; § 3 StPO; § 4 StPO; § 263 StGB; § 27 StGB

1. Werden Strafsachen gegen mehrere Angeklagte, die wegen eines sachlichen Zusammenhangs miteinander verbunden waren (§§ 2, 3 StPO), wieder getrennt, so führt dies zu einer grundlegenden Veränderung des prozessualen Verhältnisses der Angeklagten zueinander.

2. Zwar liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nur vor, wenn die Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung abwesend war. Dies ist bei der Verhandlung und Entscheidung über die Abtrennung des Verfahrens im Hinblick auf einen von mehreren Angeklagten jedoch der Fall, da nicht denkgesetzlich ausgeschlossen ist, dass das Urteil gegen den Angeklagten, im Hinblick auf den das Verfahren letztlich abgetrennt wurde, auf der Abwesenheit seines Verteidigers während des Verfahrensabschnitts beruht, in dem über die Abtrennung verhandelt und entschieden wurde.

3. Dass der Tatrichter eine Trennung auch außerhalb der Hauptverhandlung beschließen kann, führt zu keinem anderen Ergebnis, denn darin läge eine andere Gestaltung des Verfahrens mit eigenständigen prozessualen Regelungen zur Wahrung der Rechte der Verteidigung. Wählt der Tatrichter jedoch den Weg der Entscheidung in der Hauptverhandlung, so muss sich das Verfahren an den hier geltenden Vorschriften – auch zur notwendigen Anwesenheit – messen lassen.

4. Geht der Haupttäter einen Vertrag ein und erfüllt er damit den Tatbestand des Betruges, so genügt die Anwesenheit eines Dritten an seiner Seite bei Vertragsschluss für sich allein noch nicht den Anforderungen, die nach § 27 Abs. 1 StGB an eine Beihilfe durch den Dritten zu stellen sind. Soweit keine Garantenpflicht besteht, setzt auch die psychische Beihilfe ein aktives Handeln voraus; sie muss den Haupttäter im Tatplan, im Tatentschluss oder im Tatausführungswillen bestärken und so dessen tatbestandsmäßiges Handeln erleichtern oder fördern. Dies bedarf der konkreten Feststellung.


Entscheidung

161. BGH 3 StR 519/09 – Beschluss vom 12. Januar 2010 (LG Flensburg)

Ablehnung eines Beweisantrages (völlig ungeeignetes Beweismittel; Bedeutungslosigkeit; Beruhen).

§ 244 Abs. 3 StPO; § 337 StPO

1. Ein Urteil beruht schon dann auf einem Rechtsfehler, wenn nicht auszuschließen ist, dass es ohne den Rechtsfehler anders ausgefallen wäre. An dem Beruhen fehlt es nur, wenn die Möglichkeit, dass der Verstoß das Urteil beeinflusst hat, ausgeschlossen oder rein theoretisch ist.

Die Entscheidung über das Beruhen hängt – insbesondere bei Verstößen gegen das Verfahrensrecht – stark von den Umständen des Einzelfalls ab.

2. Bei mit fehlerhafter Begründung abgelehnten Beweisanträgen kann ein Beruhen des Urteils in Ausnahmefällen ausgeschlossen werden, wenn die Anträge mit anderer Begründung zu Recht hätten abgelehnt werden können und die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten hierdurch nicht berührt wurden. Jedenfalls wenn mehrere Beweisanträge rechtsfehlerhaft zurückgewiesen wurden, wird sich das Beruhen des Urteils auf den Rechtsfehlern insgesamt kaum mehr ausschließen lassen, selbst wenn dies bei isolierter Betrachtung einzelner Rechtsfehler noch denkbar gewesen sein mag.

3. Insbesondere im Zusammenhang mit Hilfstatsachen des Beweises, also mit Tatsachen, die einen zwingenden oder möglichen Schluss auf den Beweiswert eines Beweismittels zulassen, kann sich für das Revisionsgericht die Überzeugung ergeben, dass der Tatrichter den Beweisantrag auch mit der Begründung der tatsächlichen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache hätte zurückweisen und der Angeklagte sich in Kenntnis einer solchen Ablehnung nicht weitergehend hätte verteidigen können. Hierfür ist die gesamte Beweissituation, wie sie sich aus dem Urteil darstellt, ebenso von Bedeutung wie die Art und Anzahl der gestellten Beweisanträge.

4. Zwar kann ein Beweisbegehren, das sich auf ein völlig ungeeignetes Beweismittel stützt, nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt werden. Dabei muss es sich aber um ein Beweismittel handeln, dessen Inanspruchnahme von vornherein gänzlich aussichtslos wäre, so dass sich die Erhebung des Beweises in einer reinen Förmlichkeit erschöpfen müsste.

5. Der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels zurückgewiesen wird, bedarf einer Begründung, die ohne jede Verkürzung oder sinnverfehlende Interpretation der Beweisthematik alle tatsächlichen Umstände dartun muss, aus denen das Gericht auf die völlige Wertlosigkeit des angebotenen Beweismittels schließt.

6. Der Tatrichter darf eine Tatsache nur dann als aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos ansehen, wenn zwischen ihr und dem Gegenstand der Urteilsfindung keinerlei Sachzusammenhang besteht oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen kann, weil sie nur mögliche, nicht aber zwingende Schlüsse zulässt, und das Gericht den möglichen Schluss nicht ziehen will. Dies ist vom Tatrichter in freier Beweiswürdigung auf der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses zu beurteilen. Allerdings darf das Gericht dabei die unter Beweis gestellte Tatsache nicht in Zweifel ziehen oder Abstriche an ihr vornehmen; es hat diese vielmehr so, als sei sie voll erwiesen, seiner antizipierenden Würdigung zu Grunde zu legen.


Entscheidung

203. BGH 5 StR 487/09 – Beschluss vom 28. April 2010 (LG Potsdam)

Besetzungsreduktion; Zweierbesetzung; Dreierbesetzung; Bedeutung der Sache; Zahl der Angeklagten; Beweisprobleme; Beweisantrag des Nebenklägers (großzügigere Handhabung des Ablehnungsrechts).

§ 76 Abs. 2 GVG; § 244 StPO; § 397 Abs. 1 StPO

1. Eine große Anzahl von Angeklagten, die Bedeutung einer Sache, das öffentliche Interesse an einer Sache und absehbare beträchtliche Beweisprobleme sind Umstände, die eine Verhandlung unter Mitwirkung eines dritten Berufsrichters nahelegen, also den Verzicht auf den im Rahmen der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 76 Abs. 2 GVG möglichen Beschluss, in der Zweierbesetzung zu verhandeln.

2. Zwar steht auch dem Nebenkläger nach § 397 Abs. 1 Satz 3 StPO das Beweisantragsrecht zu. Ungeachtet dessen erscheint eine großzügigere Anwendung der gesetzlich vorgesehenen Ablehnungsgründe (§ 244 StPO) auf Beweisanträge des Nebenklägers im Vergleich zur Behandlung von Beweisanträgen des Angeklagten vertretbar. Diesem vermittelt das Beweisantragsrecht nicht nur wie dem Nebenkläger eine Stärkung der aktiven Einflussmöglichkeiten auf den Umfang der Beweisaufnahme, sondern auch eine Konkretisierung seines Rechts auf ein faires Verfahren und damit auf eine gewisse „Waffengleichheit“ sowie eine Ergänzung der für ihn streitenden Unschuldsvermutung.