Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2011
12. Jahrgang
PDF-Download
Von Prof. Dr. Ulrich Eisenberg, Berlin
Im Einklang mit der staatlichen Aufgabe, eine Sekundärviktimisierung nach Möglichkeit zu vermeiden, kommt der Entwurf von der verbalisierten Intention her, den Interessen solcher Personen, die als Opfer von Straftaten sich bezeichnen oder bezeichnet werden, in erheblicher Weise entgegen. Dies gilt zunächst für sämtliche vorgesehenen Änderungen bezüglich des Tatvorwurfs sexuellen Missbrauchs, und zwar unabhängig von den Tatumständen, d. h. im Unterschied zu dem auf Internate und Heime bezogenen politischen Ausgangspunkt.[1] Zudem gilt es in verschiedener, über den Namen des Gesetzes erheblich hinaus gehender Weise auch für andere deliktische Tatvorwürfe, und zwar sowohl strafverfahrensrechtlich als auch zivilrechtlich.[2] Soweit der Entwurf sich mehrfach auf Erörterungen eines Runden Tischs[3] bezieht, mag das Bewusstsein dafür eingeschränkt worden sein, dass es sich beweisrechtlich stets um mutmaßliche Opfer handelt,[4] zumal einzelne der vorgesehenen Änderungen der StPO mit Grundlagen des Strafverfahrensrechts schwerlich vereinbar sind; auch entbehrt der Entwurf einer Stärkung des Schutzes vor Falschbelastungen, obgleich sich der Bedarf
schon wegen des enthaltenen vermögensrechtlichen Bezugs aufdrängte[5].
Der Entwurf kommt zugleich in mehrfacher Hinsicht Belangen solcher Berufsgruppen entgegen, für die Kriminalität positive Funktionen erfüllt. Dies gilt zunächst hinsichtlich der Rechtsanwaltschaft,[6] insbesondere betreffend die Anwaltschaft von Personen, die sich als Opfer von Straftaten bezeichnen. Es gilt aber auch für die Strafjustiz, soweit die strafverfolgungsfördernde Intention sowie die neuerlich erweiterte Möglichkeit zur Anklage bei dem Landgericht (Jugendkammern in Jugendschutzsachen) einen Beitrag zur strafjustitiellen Auslastung oder auch Stellenerhöhung leisten. In diesem Zusammenhang insgesamt betrachtet verdienstvoll sind die vorgesehenen Konkretisierungen der Eignung der an Jugendgerichten und Jugendstaatsanwaltschaften Amtierenden, zumal insoweit etwa entstehende Mehrkosten durch eher geeignete jugendgerichtliche Interventionen fiskalisch ggfs. zumindest ausgeglichen werden können.
aa) Bezüglich der Kann-Vorschrift einer Video-Aufzeichnung der Zeugenvernehmung sieht der Entwurf drei Änderungen des § 58a Abs. 1 StPO vor, und zwar ohne Eingrenzung hinsichtlich der Art eines mutmaßlichen Delikts, d. h. nicht etwa nur betreffend den Tatvorwurf sexuellen Missbrauchs.
Zum einen betrifft es eine Einfügung in Satz 2 "als richterliche Vernehmung"[7] zu dem Zweck, dass in der Hauptverhandlung mehr als bisher von der vernehmungsersetzenden Möglichkeit gemäß § 255a Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht werde,[8] und zwar in Abkehr von der Praxis polizeilicher bzw. staatsanwaltlicher Vernehmung. Wesentlich für die Wahrheitsermittlung ist jedoch nicht der Status der amtierenden Person, sondern vorrangig die persönliche Fähigkeit zu neutraler, nicht voreingenommener Würdigung. Auch kommt eine richterliche Vernehmung - anders als eine polizeiliche - schon wegen der Voraussetzungen gemäß § 268c Abs. 2 StPO einschließlich des Akteneinsichtsrechts[9] im Allgemeinen nicht ohne eine gewisse zeitliche Versetzung zustande.
Zum anderen ist vorgesehen, Nr. 1 dahingehend zu ändern, dass auch solche sich als Opfer einschlägiger Delikte bezeichnende inzwischen Erwachsene darunter fallen, die den Zeitpunkt der mutmaßlichen Tat als in ihrer Kindheit oder Jugend liegend angeben. Diese Änderung ist rechtssystematisch brüchig, weil Minderjährigkeit bislang und als Ausnahme im Hinblick auf das Verfahren ("bei Antragstellung") als relevant anerkannt ist. Bar jeder Erörterung der von den strafjustitiell Amtierenden zu verantwortenden Beweiswürdigung[10] wird hierzu lediglich ausgeführt,[11] die Beratungen des Runden Tischs hätten "gezeigt", dass die Folgen mutmaßlicher Taten das Ermittlungs- und Strafverfahren zu einer "besonderen Belastung" machen können. Indes haben an der Veranstaltung Betroffene nicht teilgenommen, und Beratungen können als Anlass gesetzgeberischer Aktion die zur Vermeidung von Unfug bestehende Notwendigkeit des Vorliegens rechtspsychologischer und -tatsächlicher Befunde mitnichten ersetzen.
Zudem ist statt der bisherigen Fassung "zur Wahrung …. geboten ist" eine weitere Fassung mit "besser gewahrt werden können" beabsichtigt. Hiermit ist beabsichtigt, die Anzahl der Vernehmungen schon im Ermittlungsverfahren zu reduzieren.[12] Offen bleibt, ob gar auch auf eine Vernehmung durch Polizei bzw. StA vor Einleitung eines Ermittlungsverfahrens verzichtet werden soll . Zugleich wird im Hinblick auf eine etwaige Präjudizwirkung[13] eine zu erwartende höhere Geständnisbereitschaft angeführt[14] - eine sich wegen der Selbstbelastungsfreiheit bzw. des Vernehmungsdrucks (bei nicht seltener Vorab-Dämonisierung des Beschuldigten) verbietende Erwägung.
bb) Die Handhabung des § 58a StPO birgt erhebliche Gefahren für die Erforschung der Wahrheit, weil die Aufzeichnung - wenngleich sie die vernehmende wie auch die vernommene Person (und zudem etwa sonstige Anwesende) einbeziehen muss - ein Surrogat bleibt und faktisch nicht die Vorgänge umfasst, die dem aufgezeich-
neten Abschnitt der Konfrontation zwischen Vernehmungsperson und Beschuldigtem vorausgegangen bzw. nachgefolgt sind. Auch können sich beim Abspielen besonders umfangreicher Aufzeichnungen Schwierigkeiten hinsichtlich der Konzentration der Zuschauenden ergeben, wogegen Bemühungen um Kürzung ("Zusammenschneiden") wegen nicht auszuschließender Verzerrungen noch abträglicher sind. Strafprozessual ist zudem zu besorgen, dass sich der Akzent bei der Urteilsbegründung verstärkt auf die aufgezeichneten Angaben des Zeugen verlagern könnte, da diese ggfs. auch in der Revision überprüft werden,[15] woraus unüberwindbare rechtstatsächliche Benachteiligungen für den Beschuldigten folgen können.[16]
Ohnehin bestehen anhaltende Bedenken gegenüber § 58a StPO deshalb, weil es an einer hinreichenden Überprüfung etwaiger Suggestiveffekte einer (wirklichen oder nur) zugeschriebenen Gefährdung ebenso wie etwaiger verzerrender Wirkungen auf Aussagefähigkeit und Glaubhaftigkeit der Aussage wie auch auf deren Würdigung seither fehlt. Auch ist nicht sicher, ob oder inwieweit durch die Aufzeichnung (und den ggfs. damit verbundenen Druck) eine sekundäre Viktimisierung des (zumal minderjährigen) mutmaßlichen Opfers vermieden oder eher vermieden werden kann.
Hinsichtlich der Muss-Vorschriften des § 69 StPO ist, wiederum ohne Eingrenzung nach der Art eines mutmaßlichen Delikts, als neuer Satz 2 des Abs. 2 vorgesehen, Zeugen "Gelegenheit zu geben, sich zu den Auswirkungen, die die Tat auf sie hatte, zu äußern". Eine solche Einfügung verstößt gegen die Unschuldsvermutung, und sie nährt die Gefahr, dass durch die Aufforderung oder Anregung gleichsam eine suggestive Wirkung hinsichtlich der Unterstellung des Erwiesenseins der angeblichen Tat ausgelöst und der Zeuge zudem gar zur Verletzung der Pflicht, wahrheitsgemäß auszusagen (§ 48 Abs. 1 StPO), provoziert werden könnte. Gemäß §§ 160, 244 Abs. 2 StPO ist wegen der Relevanz für die Rechtsfolgenbemessung (§ 46 Abs. 2 StGB) die Ermittlung ohnehin auf verschuldete Auswirkungen der Tat zu erstrecken, und zwar ggfs. unter Heranziehung der Gerichtshilfe (§ 160 Abs. 3 S. 2 StPO).
aa) Für die Kann-Vorschrift des § 255a Abs. 2 StPO sind zwei Änderungen vorgesehen (denen zufolge der bisherige Satz 2 zu Satz 4 wird). Hiergegen bestehen gewichtige Einwände.
Zum einen ist die Einfügung eines neuen Satz 2 beabsichtigt, demzufolge die Vorschrift auch für erwachsene Zeugen angewandt werden darf, sofern angegeben wird, die mutmaßliche Tat sei in der Kindheit oder Jugend geschehen. Auch hier handelt es sich um einen rechtssystematischen Bruch (vgl. oben unter a) bb)). Ansonsten kommt die Entwurfsbegründung über die Version nicht hinaus, für die genannten Personen könne die erneute Vernehmung in der Hauptverhandlung "zu einer ebenso großen Belastung führen wie für minderjährige Zeugen", wenngleich einschränkend hinzugefügt wird, die Abwägung zugunsten der Vernehmungsersetzung "wird umso weniger zu bejahen sein, je näher der Zeuge zum Tatzeitpunkt der Vollendung seines 18. Lbj. war und je länger die Tat zurückliegt".[17]
Zum anderen ist die Einfügung eines neuen Satzes 3 vorgesehen, wonach das Gericht bei seiner Ermessensentscheidung (vgl. aber Nr. 130a Abs. 4 RiStBV) nach Satz 1 auch die schutzwürdigen Interessen des Zeugen zu berücksichtigen hat, wozu beabsichtigt ist, es sei auch zu prüfen, inwieweit die besondere Schutzbedürftigkeit die Vernehmungsersetzung "gebietet"[18].
bb) Einwände ergeben sich daraus, dass nach § 255 a StPO für die Vorführung der Videoaufnahmen die Vorschriften zur Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung gemäß § 251, 252, 253 und 255 sowie 325 StPO entsprechend gelten, wobei § 255a Abs. 2 S. 1 StPO eine gesteigerte Durchbrechung des Unmittelbarkeitsprinzips erlaubt. Das Abspielen der Videoaufnahme steht aber nur dann der Verlesung von Vernehmungsniederschriften gleich, wenn der exakte Wortlaut von Frage und Antwort ebenso wie Pausen oder sonstige Reaktionen sichtbar werden. Demgegenüber bergen die verschiedensten technischen Möglichkeiten des Straffens (oder gar Manipulierens) der Aufzeichnung erhebliche Gefahren für die genannte Voraussetzung. Zwar kann die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) insbesondere dann, wenn die (frühere) Vernehmung verkürzt gewesen ist, die persönliche Einvernahme verlangen,[19] jedoch würde dies durch die vorgesehene neue Muss-Vorschrift des § 255a Abs. 2 Satz 3 StPO zumindest eingeschränkt. Das Gleiche gilt für Verfahrenskonstellationen, in denen sich neue Gesichtspunkte oder gar neue Ermittlungsergebnisse bzw. Beweisthemen ergeben, die bei der Erstvernehmung noch nicht präsent waren, und bei denen ggfs. auch einem entsprechenden Beweisantrag stattzugeben ist.[20] Aussagepsychologisch wirft eine nur ergänzende Befragung im Sinne abgetrennter Inhalte erhebliche Probleme bezüglich der Verlässlichkeit der Antworten auf.
Hinsichtlich der Anwesenheit der Öffentlichkeit als zentraler Kontrollfunktion ist in § 171b Abs. 1 GVG ein einzuschiebender neuer Satz 2 - der bisherige würde Satz 3
- folgenden Wortlauts vorgesehen: "Die besonderen Belastungen, die für Kinder und Jugendliche mit einer öffentlichen Verhandlung verbunden sein können, sind dabei zu berücksichtigen" (hierauf wird aus Raumgründen an dieser Stelle nicht näher eingegangen).
In § 406d Abs. 2 StPO ist die Anfügung einer neuen Nr. 3 vorgesehen, derzufolge unter bestimmten Voraussetzungen auch die erneute Gewährung von Vollzuglockerungen oder Urlaub auf Antrag mitzuteilen ist (auch hierauf wird aus Raumgründen an dieser Stelle nicht näher eingegangen).
Insgesamt betrachtet begegnet der Entwurf in den vorgenannten Teilen einer bei mutmaßlich tatsächlichen Opfern sexuellen Missbrauchs in Totalen Institutionen wie z. B. Internaten, Heimen und (Jugend-)Strafvollzugsanstalten nicht selten vorhandenen besonderen Schutz- und Wehrlosigkeit nur in eingeschränkter Weise.[21] So werden allgemein "Abhängigkeits- und Machtverhältnisse in privaten und öffentlichen Einrichtungen" angeführt und mit solchen "im familiären Bereich" gleichbehandelt.[22] Einen zwar lediglich punktuellen, aber aufschlussreichen Hinweis auf den qualitativen Unterschied enthielt indes noch ein vorheriges Protokoll[23] bezüglich der Möglichkeit eines der Strafverfolgung entgegenstehenden Willens des mutmaßlichen Opfers, wonach "der Opferwille bei Missbrauch innerhalb der Familie einen wesentlich höheren Stellenwert habe, als wenn dieser innerhalb einer Institution erfolge"[24].
Insbesondere trägt der Entwurf den Belangen derjenigen Betroffenen, für die die Vernehmung emotional und intellektuell eine vergleichsweise stärkere Belastung darstellt als für gedachte "durchschnittliche" Zeugen -und die sich möglicherweise auch an Aufrufen zu telefonischer Mitteilung weniger beteiligen[25] -, d. h. hilflosen oder gar behinderten Menschen,[26] nicht effektiv Rechnung. Schon ein Zwischenbericht[27] hatte es mit der Empfehlung bewenden lassen, Regelungen zu treffen, wogegen in einer vorausgegangenen Sitzung[28] noch die besondere Situation behinderter Menschen und insbesondere erörtert wurde, ob eine gesetzliche Regelung "sinnvoll" ist, die Amtierende zur besonderen Rücksichtnahme auf deren Belange "anhalten soll".
Demgegenüber stellen sich Anlass und auch Bezeichnung des Entwurfs auf dem Hintergrund des besonderen öffentlichen Aufsehens hinsichtlich Vorwürfen sexuellen Missbrauchs im Bereich von Institutionen gewissermaßen als Trittbrett dar, um bereits in zurückliegender Zeit vergeblich angestrebte (noch) weiter gehende gesetzliche Änderungen zum Vorteil nicht einschlägig betroffener Personen und in Rede stehender Berufsgruppen durchzusetzen. So wird auch Belangen des Bewahrens sozialer Bindungen Minderjähriger durch Einschränkung der Strafverfolgung weniger Rechnung getragen.[29]
Erkenntnisse der forensischen Aussageforschung ebenso wie zahlreiche Beispiele aus der strafjustitiellen Praxis lassen erkennen, dass ein Begnügen mit nur einer Vernehmung in aller Regel mit der strafverfahrensrechtlichen Ermittlungspflicht nicht vereinbar wäre, zumal grundsätzlich nicht auszuschließen ist, dass Nebenkläger bzw. Nebenklageberechtigte (vermöge der zwischenzeitlich ausgedehnten Befugnisse hinsichtlich Informationsgewinnung und selbstständigem Beweisantragsrecht) eine offensive Prozessstrategie betreiben[30] und verfahrensbezogene Kenntnisse auch bei Erfüllung der Zeugenpflichten verwerten können, sodass die Wahrheitsermittlung gefährdet sein kann. Zudem sind empirisch nicht untersucht (und in der Entwurfsbegründung nicht erörtert) Folgen für solche Zeugen, denen psychische Robustheit nicht zur Disposition steht und die gleichwohl die Last des Durchstehens einer alles entscheidenden einzigen Vernehmung und insbesondere des Aushaltens dieser
oder jener, auf diese Vernehmung konzentrierter Beeinflussungen zu tragen hätten.
aa) Bei dem Tatvorwurf sexuellen Missbrauchs an einer minderjährigen Person als Zeuge im Strafverfahren ist im Rahmen der Überprüfung der Glaubhaftigkeit, d. h. Erlebnisbegründetheit der Aussage nahezu regelmäßig auch aufzuklären, ob eine absichtliche bzw. irrtümliche Induktion einer Falschaussage vorliegt. Insbesondere kann dies durch eine dritte Person, ggfs. eingebunden in eine Institution geschehen,[31] wobei die Falschaussage vom Zeugen ggfs. als wahr übernommen wird und sodann ein subjektives Überzeugtsein von dem Realitätsgehalt sich einstellt. Eine systematische Untersuchung von Alternativerklärungen zu der Hypothese, dass es sich um eine erlebnisbegründete Aussage handelt, muss hingegen scheitern, wenn sich ggfs. induzierte Aussagen kriteriologisch nicht mehr von erlebnisbegründeten unterscheiden oder "teilweise sogar eine höhere Qualität"[32] erreichen. Daraus ergibt sich, dass bei begründeten Hinweisen auf suggestive Einflüsse das Beweismittel "invalidiert" ist und also eine aussagepsychologische Würdigung sich erübrigt.[33]
bb) Namentlich in Verfahrenskonstellationen, in denen - wie es bei dem Tatvorwurf eines Delikts gegen die sexuelle Selbstbestimmung häufig ist - Aussage gegen Aussage steht und bei denen daher die Anforderungen an die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) erhöht sind, kommen in der Hauptverhandlung Abweichungen von der ursprünglichen Aussage nicht selten etwa dergestalt vor, dass der einzige Belastungszeuge seine frühere Aussage nicht mehr aufrecht hält,[34] die das "Kerngeschehen" betreffende Aussage ändert[35] bzw. sich ein Teil der belastenden Vorwürfe als unwahr herausstellt.[36] Sind wesentliche Details bewusst falsch wiedergegeben worden, kann eine Verurteilung auf diese Aussage nicht gestützt werden, d. h. es bedarf über die Aussage hinausgehender belastender Indizien.[37] Bezüglich der Entwicklungsgeschichte der Aussage kommt es auf Widerspruchsfreiheit und Konstanz als Zeichen von Glaubhaftigkeit an, wenngleich diese Kriterien, abgesehen von Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Kern- und Randbereich der Aussage,[38] keinesfalls überbewertet werden dürfen.[39]
Der Frage nach der Aussagemotivation und also auch der Interessenlage des Zeugen kommt bei der Einschätzung der Glaubhaftigkeit einer Aussage naturgemäß eine zentrale Bedeutung zu. So ist die Beweiswürdigung fehlerhaft und revisionsrechtlich angreifbar, wenn Eigeninteressen des Zeugen oder ihn beeinflussender Dritte (z. B. insbesondere die Vermeidung einer Selbstbelastung; Beeinflussung anderer Rechtsstreite) nicht berücksichtigt werden. Ob solche Umstände gegeben sein können, lässt sich indes bei nur einer Vernehmung und ohne nähere Untersuchung der konkreten sozialen Konstellation oftmals nicht erkennen, und zwar unabhängig von der Aktenkenntnis des Verteidigers; auch darf die Floskel "ohne ersichtliches Belastungsinteresse" nicht ohne weiteres zur Beurteilung der Aussage als glaubhaft führen.[40]
Eine besondere Gefahr für die Wahrheitsfindung liegt in irreführenden, einer weiteren Kontrollmöglichkeit entzogenen Eindrücken anlässlich nur einer Vernehmung, zumal sich bei der Würdigung von Inhalt und Begleiterscheinungen einer Aussage jede pauschale Wertung verbietet. So dürfen zwar z. B. logische Folgerichtigkeit, Detailreichtum oder Schilderung unerwarteter Einzelheiten ggfs. als Indizien für die Glaubhaftigkeit einer Aussage gewertet werden, das Vorliegen dieser Kriterien beweist aber die Wahrheit einer Aussage ebenso wenig, wie ihr Nichtvorliegen eine wahre Aussage ausschließt. Die gleiche Zurückhaltung ist bei der Feststellung des Aussageverhaltens des Zeugen geboten, da z. B. sicheres bzw. unsicheres Auftreten und/oder klares bzw. undeutliches Formulieren des Zeugen grundsätzlich auf sehr verschiedenen Gründen beruhen kann und primär von persönlichen sowie situativen Bedingungen abhängt.
Gänzlich ermangelt der Entwurf einer Erörterung der Gefahren von Falschaussagen und Fehlurteilen, obgleich das kasuistische Schrifttum ebenso wie die empirische Forschung immer wieder deutliche Anhaltspunkte oder gar Nachweise für Fehlbeurteilungen nicht nur seitens polizeilich Vernehmender oder Sachverständiger, sondern auch seitens des vernehmenden Gerichts aufgezeigt haben,[41] ohne dass dem durch die revisionsgerichtliche
Beurteilung stets abgeholfen würde oder werden könnte.[42] Die Hinweise legen den Schluss nahe, dass Ermittlungsbehörden (wie z. B. auch Jugendämtern) verschiedentlich eine gewisse Kritiklosigkeit eigen ist, wenn es um Strafanzeigen wegen Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung geht, und dass gerichtlich Amtierende nicht immer die erforderliche Distanz zu den zusammengetragenen Ermittlungsergebnissen aufzubringen vermögen.
Die Pflicht des Zeugen zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Aussage darf zwar nicht mit den Maßnahmen nach § 70 StPO durchgesetzt werden, ihre Verletzung kann jedoch ggfs. einen Straftatbestand erfüllen. Indes könnte den Gefahren von Falschaussagen effektiv kaum durch eine (abermalige) Erhöhung des Strafrahmens etwa für Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB) und für falsche Verdächtigung (§ 164 StGB) begegnet werden, weil die genannten Straftatbestände aus beweisrechtlichen Gründen in der Praxis zumal auf der Ebene gerichtlicher Aburteilung im Allgemeinen nur eine untergeordnete Bedeutung haben.[43] Dies mag insoweit auch damit in Zusammenhang stehen, dass falsche Strafanzeigen bzw. Zeugenaussagen für die Amtierenden beschäftigungspolitisch positiv funktional sind. - Präventiv kaum geeignet ist die in § 469 Abs. 1 StPO vorgesehene Kostentragungspflicht, weil sie voraussetzt, dass die Unwahrheit sowie Vorsatz oder Leichtfertigkeit feststehen; hinsichtlich der in § 469 Abs. 2 StPO geregelten Abhängigkeit von dem Antrag der StA könnten zudem Belange des Schutzes vor Selbstbelastung hinderlich wirken.
Immerhin hat der Entwurf in Abweichung von Erörterungen innerhalb einer Unterarbeitsgruppe davon abgesehen, in § 58a StPO eine Einfügung dazu vorzunehmen, die Videovernehmung von der Zustimmung des mutmaßlichen Opfers "abhängig zu machen"[44]. Dies ist deshalb nicht unwesentlich, weil der zur Aussage verpflichtete Zeuge die Aufzeichnung zu dulden hat, und weil sie (im Rahmen der Beschränkungen nach § 58a Abs. 2 Satz 1 StPO) auch in einem gegen den Zeugen ggfs. anhängigen oder anhängig werdenden (vgl. aber §§ 58a Abs. 2 Sätze 2, 3, 100b Abs. 6 StPO) Verfahren verwertbar ist.
Innerhalb des § 397a StPO sind zwei wesentliche Änderungen vorgesehen.
a) Zum einen ist in § 397a Abs. 1 die Einfügung einer neuen Nr. 4 - unter Verschiebung der bisherigen Nr. 4 als Nr. 5 - mit folgendem Wortlaut beabsichtigt: "durch eine rechtswidrige Tat nach den §§ 174-182 und 225 des Strafgesetzbuches verletzt ist und er zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte oder seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann". Bei Altern. 1 als Verschiebung des Alters auf den Zeitpunkt der mutmaßlichen Tat handelt es sich wiederum um einen rechtssystematischen Bruch (vgl. oben I. 1. a) aa)). Zur Begründung wird ausgeführt, "ein Opferanwalt ist jedoch vielfach auch dann nötig", wie die Beratungen des Runden Tischs "gezeigt" hätten (zur Ungeeignetheit als Anlass gesetzgeberischer Aktion vgl. oben I. 1. a) aa)), und der Verletzte werde "häufig nur schwer darlegen können", nicht in der Lage zu sein, seine "Interessen selbst ausreichend wahrzunehmen"[45]. Nicht erörtert ist, dass Gefahren für die Wahrheitsermittlung durch die Beiordnung ggfs. erhöht werden (vgl. oben I. 1. b)),[46] und auch etwaige Auswirkungen auf die Kostenlast für den Verurteilten finden keine Erwähnung.[47] Soweit die Altersgrenze von 18 Jahren zur Zeit der mutmaßlichen Tat bereits überschritten war, ist gemäß der neuen Nr. 4 Altern. 2 des § 397a Abs. 1 StPO vorgesehen, inhaltlich die bisherige Regelung auch hier einzufügen, d. h. das Fehlen der Fähigkeit zur Interessenwahrnehmung als Anspruchsvoraussetzung.
b) Zum anderen ist hinsichtlich des Antrags der Nebenklage auf Prozesskostenhilfe für die Hinzuziehung eines Anwalts vorgesehen, § 397a Abs. 3 Satz 2 StPO zu streichen, d. h. auch in Fällen des § 397a Abs. 2 StPO die Anfechtung der Entscheidung zuzulassen. Abgesehen von Vorzügen im Sinne einer teilweisen Einheitlichkeit der Judikatur wird hierzu angenommen, dies "verbessert den Rechtsschutz für den Verletzten"[48].
Bezüglich der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 StPO ist - bei gleichzeitiger Streichung von § 140 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz StPO und Anpassung von § 142 Abs. 2 StPO - eine Ergänzung um eine § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO mit folgendem Wortlaut vorgesehen: (für Verfahren, in denen) "dem Verletzten nach §§ 397a und 406g Abs. 3 und 4 StPO ein Rechtsanwalt beigeordnet ist". Der (gekürzte) Auffangtatbestand des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO bleibt indes erhalten - relevant etwa für die Fallkonstellation, dass dem Verletzten kein Anwalt beigeordnet wurde, er jedoch selbst einen Anwalt beauftragt hat.
§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG aF trägt dem verbalisierten Ziel der Vermeidung von Sekundärviktimisierungen weniger Rechnung.[50] In § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG ist die Anfügung eines Satzes 2 beabsichtigt, demzufolge i. S. eines Regelbeispiels[51] besondere Schutzbedürftigkeit insbesondere dann vorliege, "wenn zu erwarten ist", dass die Vernehmung "mit einer besonderen Belastung verbunden" sein wird, "und deshalb mehrfache Vernehmungen vermieden werden sollten". "Besondere Schutzbedürftigkeit" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der durch die StA auszulegen ist, d. h. ihr steht weiterhin kein Wahlrecht hinsichtlich der Entscheidung zu, ob sie Anklage bei dem AmtsG oder bei dem LG erhebt. Wegen der rechtstatsächlichen Bedenken gegenüber nur einer Vernehmung wird auf die oben stehenden Ausführungen unter I. 2. b) verwiesen.
Für § 26 Abs. 2 GVG - die Vorschrift gilt nach § 74 b Satz 2 GVG entsprechend für die Anklageerhebung bei Jugendkammern - ist eine Änderung des bisherigen Wortlauts und eine Aufteilung in zwei Sätze vorgesehen, wobei die zweite Altern. des § 26 Abs. 2 GVG aF inhaltlich als Satz 2 erhalten bliebe.[52] Als beabsichtigter § 26 Abs. 2 Satz 1 GVG wird statt der Einschränkung von § 26 Abs. 2 Altern. 1 GVG aF darauf abgestellt, ob "damit die schutzwürdigen Interessen von Kindern oder Jugendlichen …besser gewahrt werden können", und bei Vorliegen der Voraussetzungen der Vorschrift soll die StA nur noch in Ausnahmefällen vor dem allgemeinen Strafgericht anklagen,[53] d. h. es wird die tendenziell regelmäßige Anklage bei dem Jugendschutzgericht bezweckt. - Soweit jedoch nach der Geschäftsverteilung unter den Gerichten für allgemeine Strafsachen z. B. besondere Jugendschutzkammern eingerichtet sind, werde auch weiterhin die Anklage dann nicht bei den Jugendgerichten zu erheben sein, wenn durch eine "Spezialisierung bei den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten" eine gleichwertige Wahrung der in Rede stehenden schutzwürdigen Belange "zu erwarten ist"[54].
Nach der vorgesehenen Vorschrift hat die StA auch hierin kein Wahlrecht, sondern einen Beurteilungsspielraum.[55]
Gemäß eines vorgesehenen anzufügenden § 26 Abs. 3 GVG "gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend" für die Beantragung gerichtlicher Untersuchungshandlungen "im Ermittlungsverfahren", wobei Abs. 1 die Zuständigkeit der Jugendschutzgerichte im Ermittlungsverfahren betrifft.
Bezüglich der Eignung Amtierender bei Jugendgerichten und Jugendstaatsanwaltschaften ist beabsichtigt, §§ 36 und 37 JGG zu ergänzen,[56] und zwar - für § 36 JGG gemäß der bisherigen Form als Mussvorschriften, für § 37 JGG hingegen in unterschiedlichen Formen.
a) Zum einen ist ein dem § 36 Abs. 1 Satz 1 JGG anzufügender Satz 2 Hs. 1 vorgesehen, wonach Richter oder Beamte "auf Probe" im ersten Jahr nach Ernennung nicht zum Jugendstaatsanwalt bestellt werden dürfen. Zur Begründung wird angeführt,[57] im ersten Jahr sei die Einarbeitung in die Tätigkeit bei der StA zeitlich erschöpfend, so dass es nicht möglich sei, sich während dieser Phase zusätzlich Kenntnisse in einschlägigen außerjuristischen Spezialgebieten (vgl. dazu unten 2. a) zu verschaffen. Um während dieses Jahres jedoch an die Aufgaben der Sitzungsvertretung in Jugendsachen herangeführt zu werden, sieht der Entwurf als § 36 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 JGG vor, dass sie diese Aufgaben unter der Voraussetzung wahrnehmen dürfen, dass ein Jugendstaatsanwalt anwesend ist und ihre Tätigkeit beaufsichtigt.
b) Zudem ist es nach einem vorgesehenen neuen Abs. 2 Satz 1 unzulässig, "jugendstaatsanwaltschaftliche Aufgaben" - sei es im vorbereitenden, sei es im gerichtlichen Verfahren - einem Amtsanwalt zu übertragen. Formal nennt § 37 JGG nicht Amtsanwälte. Inhaltlich ist ihnen wegen der ausschließlichen Zuständigkeit in Verfahren vor dem AmtsG (§ 142 Abs. 2 GVG) - nicht also vor der Jugendkammer - die Gewinnung praktischer Erfahrung im Umgang mit dem Spektrum von Jugenddelinquenz versagt, und weithin gilt dies aufgrund landesrechtlicher OrgStA[58] auch für die Entbindung von Verfahren vor dem Jugendschöffengericht.
c) Nach einem vorgesehenen neuen, die Regelung gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 142 Abs. 3 GVG konkretisierenden § 36 Abs. 2 Satz 2 JGG dürfen Referendare die Sitzungsvertre-
tung in Verfahren vor den Jugendgerichten "nur unter Aufsicht und im Beisein" - d. h. nicht aufgrund vorausgegangener Absprachen, Weisungen oder telefonischer Rücksprachen - eines Jugendstaatsanwalts wahrnehmen. Dieses Verbot der alleinigen Sitzungsvertretung durch Referendare entspricht traditionellen Empfehlungen,[59] die insbesondere darauf abheben, dass für den Schuld- wie für den Rechtsfolgenausspruch wesentliche Umstände mitunter erst während der Hauptverhandlung bekannt werden, die eine unmittelbare Berücksichtigung durch einen anwesenden Jugendstaatsanwalt erforderlich machen. In Jugendschutzsachen wird ohnehin davon ausgegangen, dass eine Sitzungsvertretung durch Referendare ausscheidet.
Hinsichtlich § 37 JGG ist für den bisherigen Wortlaut, der als Abs. 1 beibehalten wird, die Anfügung von drei weiteren Sätzen und zudem die Anfügung von zwei neuen Absätzen beabsichtigt.
a) aa) Gemäß eines vorgesehenen neuen Abs. 1 Satz 2 des § 37 JGG sind mehr als nur rudimentäre[60] Kenntnisse auf den Gebieten der "Kriminologe, Pädagogik und Sozialpädagogik sowie der Jugendpsychologie" vorgesehen, weil für Jugend- wie für Jugendschutzsachen ein alters- und entwicklungsgemäßer Umgang mit Minderjährigen und Heranwachsenden und deren Bedürfnissen und Belangen erforderlich ist. Die Begründung hinsichtlich der Abweichung von Nr. 3 RiLi zu § 37 JGG, die auch die Disziplinen Jugendpsychiatrie und Soziologie enthält, ist wenig tragfähig. Bezüglich der Jugendpsychiatrie wird auf heranzuziehende Sachverständige verwiesen, obgleich insbesondere diesen gegenüber die Befähigung zu Leitung (§ 2 Abs. 2 JGG, § 78 StPO) und Kontrolle unerlässlich ist, und zwar nicht minder auch in Jugendschutzsachen. Für die Ersetzung der Soziologie durch die Sozialpädagogik wird u. a. die zu erwartende "gute Zusammenarbeit mit der JGH und der JHilfe"[61] angeführt, obgleich Erkenntnisse der Soziologie z. B. zu informellen und formellen Normensystemen oder zu Totalen Institutionen (vgl. dazu oben I. 2. a)) in ihrer Relevanz auch für den Einzelfall durch die Sozialpädagogik so nicht vermittelt werden.
Im Bemühen um Durchsetzung sieht der Entwurf vor, dass die Kenntnisse "belegbar" sein sollen, wobei die Bescheidung mit einer Soll-Vorschrift damit begründet wird, dass an schon seit längerem in Jugendsachen Amtierenden "deutlich geringere Anforderungen" zu stellen sein werden, und dass auch bei "neu eingesetzten Personen" die Kenntnisse ggfs. erst in berufsbegleitender Fortbildung oder dergleichen erworben werden könnten.[62] Als Beispiele für Belege werden, ohne dass eine Prüfung als erforderlich vorgesehen ist, die Beschäftigung bereits während des Universitätsstudiums im Rahmen von Wahlfachgruppe bzw. Schwerpunktbereich oder auch Nebenstudiengang, zudem eine "systematische berufsbegleitende oder sonstige" Fortbildung im Sinne einer "vergleichbaren Weiterqualifizierung" genannt.[63] Soweit die Anerkennung von Belegen einer "wertenden" Entscheidung des Präsidiums bzw. der Behördenleitung überlassen bleibe, wird es sich empfehlen, dies durch "im Einvernehmen mit den seither jugendstrafrechtlich Amtierenden" zu ergänzen. Andernfalls wäre - auch im Verhältnis von Jugendstrafsachen bzw. Jugendschutzsachen - zu besorgen, dass am ehesten (oder gar nur) solche Inhalte der jeweiligen Fachgebiete anerkannt werden könnten, die konform zur Strafrechtspraxis schlechthin sind, weniger (oder kaum) aber solche, die - im Rahmen strafrechtlicher Vorgaben - vorrangig an der Zukunft der Jugendlichen und Heranwachsenden orientiert sind. Eine solche Tendenz ließe sich umso eher begründen, als die angeführten Fachgebiete jeweils ein Spektrum an Forschungsperspektiven und -ergebnissen aufweisen, so dass ohne zusätzlich inhaltliche Qualitätsvoraussetzungen das Ziel einer Geeignetheit schwerlich erreichbar ist.
Hiernach wäre es im Einklang mit § 2 Abs. 1 JGG unerlässlich und eher konstruktiv, auf die Befähigung zu zukunftsorientierter oder aber retrospektiv-repressiver Verfahrensgestaltung und Rechtsfolgenentscheidung abzustellen. Demgegenüber kommt es darauf in Jugendschutzverfahren gegen erwachsene Beschuldigte, nicht an, vielmehr ist insofern eine Geeignetheit in Würdigung der Belange des mutmaßlichen Opfers intendiert. In diesem Zweispalt liegt die Schwäche des in Rede stehenden Teils des Entwurfs.
bb) Als neuer Satz 3 ist eine Muss-Vorschrift beabsichtigt, derzufolge die jugendrichterlichen oder jugendstaatsanwaltlichen Aufgaben dann, wenn Kenntnisse nicht belegt sind, erstmals "zunächst nur für ein Jahr zugewiesen werden dürfen", und auch nur unter der Voraussetzung, dass "der Erwerb der Kenntnisse alsbald zu erwarten ist". Gemäß einem vorgesehenen neuen Satz 4 ist in diesen Fällen eine Verlängerung der Zuweisung nur zulässig, wenn innerhalb des ersten Jahres die Wahrnehmung "einschlägiger Fortbildungsveranstaltungen oder eine anderweitige einschlägige Weiterqualifizierung" (z. B. durch "Selbststudium")[64] glaubhaft gemacht werden kann. Auch hierbei handelt es sich zwar um einen "deutlichen Anstoß" zu Verbesserungen, ohne dass indes der Erwerb einschlägiger Kenntnisse hinreichend überprüft werden könnte.
b) Im Einklang mit der Zielsetzung des Jugendstrafrechts obliegen dem Jugendrichter/der Jugendrichterin gemäß § 34 Abs. 1 JGG auch Untersuchungshandlungen und Entscheidungen im Ermittlungsverfahren[65], und Entsprechendes gilt gemäß einem vorgesehenen neuen Abs. 3 des § 26 GVG für Jugendschutzsachen. Dies bedeutet gemäß § 36 JGG, dass im Ermittlungsverfahren ebenfalls
einschlägig qualifizierte Jugendstaatsanwälte/Jugendstaatsanwältinnen eingesetzt werden müssen.
Wegen der Besetzung bei kleineren Amtsgerichten ermöglicht ein vorgesehener neuer Abs. 2 des § 37 JGG unter den darin genannten Voraussetzungen ein Abweichen von den vorgesehenen neuen Vorschriften des Abs. 1 Sätze 2-4 des § 37 JGG für den Einsatz im Bereitschaftsdienst . Bei der Beurteilung des Vorliegens dieser Voraussetzungen verbleibe ein gewisser Spielraum.[66]
c) Nach einem vorgesehenen neuen Abs. 3 Satz 1 des § 37 JGG "sollen" als Jugendrichter/Jugendrichterin beim AmtsG oder als Vorsitzender/Vorsitzende einer Jugendkammer nur Amtierende eingesetzt werden, die bereits mindestens ein Jahr lang "zum überwiegenden Teil" ihres Dienstes jugendrichterliche oder jugendstaatsanwaltschaftliche Aufgaben erfüllt haben. Wegen der Besetzung bei kleineren Amtsgerichten ermöglicht ein vorgesehener neuer Abs. 3 Satz 2 des § 37 JGG ein Abweichen hiervon für den Einsatz im Bereitschaftsdienst .
Endlich ist es gemäß einem vorgesehenen neuen Abs. 3 Satz 3 des § 37 JGG einem Richter/einer Richterin auf Probe untersagt, im ersten Jahr nach seiner/ihrer Ernennung "Geschäfte des Jugendrichters" wahrzunehmen,[67] und zwar insoweit entsprechend der für Jugendstaatsanwälte in dem vorgesehenen neuen Abs. 1 Satz 2 des § 36 JGG.
[1] Vgl. BMJ, Zwischenbericht Runder Tisch vom 14. 7. 2010, Arbeitsgruppe "Durchsetzung staatlicher Strafanspruch - Rechtspolitische Folgerungen - Anerkennung des Leidens der Opfer sexuellen Missbrauchs in jeglicher Hinsicht", deren Unterarbeitsgruppe "Opferschutz im Ermittlungs- und Strafverfahren" diese Ausweitung bereits in deren Sitzung vom 28. 6. 2010 vorgenommen hat (vgl. im Einzelnen Protokoll).
[2] So sieht der Entwurf eine Verlängerung der Verjährungsfristen von Schadensersatzansprüchen nicht nur zugunsten von Opfern von Straftaten sexuellen Missbrauchs, sondern auch von Opfern vorsätzlicher Verletzung anderer höchstpersönlicher Rechtsgüter auf 30 Jahre vor (hierauf wird im Folgenden nicht näher eingegangen).
[3] Vgl. Fußn. 1.
[4] Schon sprachlich verwendet die Entwurfsbegründung (im Folgenden: Begr) durchgängig und ohne Einschränkung den Begriff Opfer.
[5] Nach einem Zweiten Zwischenbericht einer begleitenden Auswertung zur telefonischen Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung vom 12. 11. 2010 (Fegert u. a., S. 14) stehen b ei 366 (64%) einer Stichprobe der Anrufe "Entschädigungsforderungen zusammen mit der Forderung nach Abschaffung der Verjährungsfristen an erster Stelle", wobei Zahlungen "meistens in Form von finanziellen Hilfen für Behandlungen bzw. allgemein zur Unterstützung des Lebensunterhalts gefordert" wird, der "durch Frühberentung und Arbeitsunfähigkeit" oft an der Armutsgrenze liege; nur in wenigen der Anrufe werde "Entschädigung sozusagen als Wiedergutmachung oder als Art Schmerzensgeld" gewünscht.
[6] Vgl. zu rechtstatsächlichen Anhaltspunkten Barton/Flotho , Opferanwälte im Strafverfahren (2010). Für den vorliegenden Zusammenhang bereits BMJ (vgl. Fußn. 1), Unterarbeitsgruppe "Opferschutz im Ermittlungs- und Strafverfahren" betreffend Sitzungen vom 28. 6. und 16. 8. 2010, S. 48-50.
[7] Vgl. schon Zwischenbericht S. 46.
[8] Vgl. Begr S. 12: "angestrebte Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes", S. 13: "Signal an die Praxis".
[9] Vgl. aber BGH NJW 2003, 2763 mit abl. Bspr. Verf./Zötsch NJW 2003, 3677 f., Vogel/Norouzi JR 2004, 216 f.
[10] Vgl. hierzu etwa BGH StV 1996, 366; OLG Jena StV 1998, 118; LG Duisburg v 6. 7. 09 (36 Ns 295 Js 748/03), betr. autosuggestiven Verlauf inzwischen erwachsene Zeugin; aus der Forschung etwa Ernsdorff/Loftus Journal of Criminal Law and Criminology 1993, 129 ff., 155 ff.; betreffend falsche Angaben Adshead R&P 1997, 117 ff.
[11] Begr S. 12. Zustimmend DRB (Titz), Januar 2011.
[12] Vgl. zu Vorgaben bezüglich einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung EuGH JZ 2005, 838 mit krit. Anm. Hillgruber und Anm. Herrmann EuZW 2005, 436.
[13] Vgl. zu den Gefahren schon Fischer JZ 1998, 818-821.
[14] Begr S. 12. Zu den Gefahren für die Wahrheitsermittlungspflicht vgl. etwa BGH vom 10. 6. 2008 (5 StR 109/08) = HRRS 2008 Nr. 793; (VRiLG) Prüfer StV 1998, 232 ff. sowie grundlegend Gudjonsson The Psychology of Interrogations and Confessions (2003), 132 ff., 196 f.; erg. Verf., BewR StPO7 Rn. 730-738.
[15] Nach Wasserburg, FS-Christian Richter II, S. 557 führe indes diese Kontrollmöglichkeit zu eher restriktiver Handhabung von Bild- und Tonaufzeichnungen durch die tatgerichtliche Praxis.
[16] Für Aufzeichnung auch der Angaben des Beschuldigten Swoboda, Videotechnik im Strafverfahren (2002), 436-438, 442 ff.
[17] Begr S. 15.
[18] Begr S. 15.
[19] Vgl. etwa BGH NStZ 2003, 615; NStZ-RR 2005, 45 (LS).
[20] Vgl. etwa BGH NStZ 2003, 615; BGH NStZ-RR 2005, 45 (LS); OLG Karlsruhe StraFo 2010, 71; Rieß StraFo 1999, 5; Schlothauer StV 1999, 49; eher einschränkend Weigend/Greff Kriminalistik 1998, 534.
[21] Nach einer Auswertung (vgl. Fußn. 5) enthielten, bezogen auf eine entsprechende Teilstichprobe, d ie Angaben der Anrufenden meistens keine Details zum Missbrauchsgeschehen in Institutionen (S. 17), und soweit detaillierte Angaben vorliegen, seien sie meistens kurz gehalten. Auch gebe es, im Gegensatz zur Gesamtstichprobe, keine Betroffenen unter 19 Jahren (S. 16, 21).
[22] Begr S. 8.
[23] Unter dem 21. 7. 2010 verfasst ( 2. Sitzung der Arbeitsgruppe "Durchsetzung staatlicher Strafanspruch - Rechtspolitische Folgerungen - Anerkennung des Leidens der Opfer sexuellen Missbrauchs in jeglicher Hinsicht").
[24] Dem entspricht die insgesamt differenzierte Fassung dieser Thematik innerhalb eines Entwurfs von "Leitlinien zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden" (vgl. Fußn. 1, Zwischenbericht S. 58 ff., insbesondere zum entgegenstehenden Willen S. 64 f.).
[25] Nach einer Auswertung (vgl. Fußn. 5) lagen Angaben z ur Schulbildung (nur) von 736 Anrufenden vor (S. 5). Von diesen nannten als erreichten Schulabschluss 48% die Allgemeine Hochschulreife, 7,6% einen Fachhochschulabschluss, 24,8% einen Realschulabschluss und (nur) 14,8% einen Hauptschulabschluss, wogegen 1,5% angaben, auf einer Förderschule gewesen zu sein, und (nur) 3,3%, keinen Schulabschluss zu haben. Noch deutlicher könnte sich ein Privilegierungsfaktor in Auswertung des genannten Zwischenberichts betreffend Fragen zum Strafverfahren und zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung bei einer Teilstichprobe von 572 Personen zeigen, wozu bei 321 Anrufenden Angaben zum Schulabschluss vorliegen (S. 11): 48% Abitur, 35% Realschulabschluss, 11% Hauptschulabschluss.
[26] Vgl. speziell etwa betreffend behindertes Kind BGH NStZ-RR 1997, 172: "sprachliche Vorgaben" Dritter.
[27] V om 16. 8. 2010, vorgenannte Unterarbeitsgruppe (Fußn. 1), S. 54 f.
[28] Vorgenannte Unterarbeitsgruppe, Protokoll vom 28. 6. 2010.
[29] Vgl. hierzu aber etwa Dawid, E. u. a. (Hrsg.): Kooperation von öffentlicher Jugendhilfe und Strafjustiz bei Sexualdelikten gegen Kinder (Wiesbaden 2010).
[30] Vgl. Weider StV 1987, 318; zum 2. OpferRRG Bung StV 2009, 435; Barton JA 2009, 753 ff.
[31] Dabei kann es sich um Privatpersonen (gleichfalls speziell Familienangehörige oder Bekannte, BGH StV 2001, 551) ebenso wie z. B. um Beschäftigte von Jugendämtern, Kindergärten oder sonstigen Initiativen (vgl. etwa KG StV 1997, 65 mit krit. Anm. Düring/Verf. StV 1997, 456; s. auch BGH StV 1998, 116; BGH NStZ-RR 1998, 16: Heilpädagogin) wie insbesondere auch mit Therapie befasste Personen handeln.
[32] Böhm u. a., in: Fabian (Hrsg.), Praxisfelder der Rechtspsychologie (2002), S. 154.
[33] Vgl. Steller, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie (2008), S. 306 f.
[34] Vgl. BGH StV 1998, 250; zu teilweisem "Abrücken" BGH StV 1996, 366; 1998, 363 sowie 580; NStZ-RR 2008, 255.
[35] Vgl. BGH NStZ-RR 1999, 139; 2008, 350. - Auch außerhalb von Aussage gegen Aussage-Konstellationen wird eine teilweise Falschbelastung als Indiz gegen die Glaubhaftigkeit gewertet, zumal wenn die Unrichtigkeit das Kerngeschehen betrifft, da dann Wahrnehmungs- und Erinnerungsfehler - anders als betreffend das Randgeschehen - weniger erklärbar sind.
[36] BGH vom 21. 5. 2008 (5 StR 197/08) = HRRS 2008 Nr. 620; BGH NStZ 2008, 581 = HRRS 2008 Nr. 796.
[37] Vgl. nur BGHSt 44, 256.
[38] Vgl. etwa BGH StV 2003, 604, betreffend den Tatvorwurf sexuellen Missbrauchs.
[39] Schon gar nicht darf aus der Konstanz einer Aussage zwingend auf deren Wahrheit geschlossen werden, da je nach Befähigung des Zeugen komplizierte bzw. einfachere Sachverhalte relativ leicht erfunden und konstant vorgetragen werden können (kritisch etwa auch OLG Düsseldorf StV 1982, 12).
[40] Vgl. BGH StV 1992, 98 sowie 556 (betr. § 31 BtMG); BGH StraFo 2006, 411; 2007, 202.
[41] Vgl. grundlegend Peters Fehlerquellen im Strafprozess, Bände I-II, 1970, 1972, 1974; Lange Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, 1980.; wegen anhaltender psychosozialer Auswirkungen - betreffend langjährige Freiheitsstrafen auf Grund von Fehlverurteilungen - vgl. zu empirischen Anhaltspunkten z. B. Grounds CanadJCrim 204, 168 f.; erg. Verf. BewR7 Rn. 913 ff., aber etwa auch 1548.
[42] Vgl. zu Nachw. aus jüngerer Zeit Schwenn StV 2010, 705 ff.
[43] Ähnlich zum Gesetz vom 29. 7. 2009 (BGBl I 2288) aus der Praxis der StA Frank/Titz ZRP 2009, 139. - Vgl. aber exemplarisch für besondere Fallkonstellationen etwa OLG Koblenz NStZ 2011, 95.
[44] Vgl. Zwischenbericht (Fußn. 1) S. 47.
[45] Begr S. 9, 16.
[46] Vgl. kritisch aus der Praxis Schroth NJW 2009, 2918 f.
[47] Rechtstatsächlich wurde in einer Akten-Vergleichsuntersuchung (betr. Verfahren im Bereich des OLG Hamm aus dem Jahre 2004) berechnet, dass allein durch Opferanwälte es zu einer Kostenerhöhung für den Verurteilten um durchschnittlich 1216,- Euro kam (vgl. Barton JA 2009, 758).
[48] Begr S. 16.
[49] Vgl. dazu schon Zwischenbericht (Fußn. 1) S. 45.
[50] Vgl. dazu schon Heghmanns DRiZ 2005, 291 (auch zu den verfassungsrechtlichen Bedenken).
[51] Vgl. Begr S. 17.
[52] Hierzu wird z. B. auf Fälle Bezug genommen, in denen - unabhängig vom Vorliegen der in Rede stehenden schutzwürdigen Interessen - zu erwarten sei, dass die Aussage eines jugendlichen Zeugen über Geschehnisse aus seiner Jugend durch das Jugendgericht besser gewürdigt werden könne (Begr S. 18).
[53] Begr S. 18.
[54] Begr S. 18.
[55] Begr S. 18.
[56] Zu inhaltlichen sowie gesetzessystematischen Bedenken vgl. Stellungnahme DRB (Titz), Januar 2011.
[57] Begr S. 20 f.
[58] Vgl. wegen Nachw. Verf., JGG14 § 36 Rn. 11.
[59] Vgl. AG Kamen vom 30. 6. 2009 (Cs 181 Js 24/09-43/09), nach Bericht in StRR 2010, 107: Referendar ohne Kompetenz als Verfahrenshindernis; anders aber, bei verkürzter Begründung, LG Duisburg StRR 2010, 460 mit Anm. Artkämper; zum Ganzen Verf., DRiZ 1998, S. 161-164.
[60] Vgl. Begr S. 23.
[61] Begr S. 22.
[62] Begr S. 23.
[63] Begr S. 23.
[64] Begr S. 23.
[65] Vgl. auch BVerfG ZJJ 2005, 320, 324; LG Berlin NStZ 2006, 525.
[66] Begr S. 24.
[67] Vgl. bereits de lege lata für den Vorsitzenden eines Jugendschöffengerichts § 2 Abs. 2 JGG, § 29 Abs. 1 S. 2 GVG (vgl. im Übrigen §§ 22 Abs. 6, 23 b Abs. 2 S. 2 sowie Abs. 3 S. 2 GVG).