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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2011
12. Jahrgang
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Von Wiss. Mitarbeiter Fabian Stam, Köln
Das Urteil scheint auf den ersten unbefangenen Blick zu überzeugen. Von Interesse ist hier die folgende Feststellung des 2. Senats: "Weder eine erhebliche Alkoholisierung noch gar ein Handeln in affektiver Erregung und aufgrund spontanen Entschlusses sprechen gegen das Vorliegen von Tötungsvorsatz zum Handlungszeitpunkt; vielmehr sind diese Umstände nach sicherer Erfahrung gerade besonders geeignet, die Hemmschwelle auch für besonders gravierende Gewalthandlungen herabzusetzen."[1] Hiermit folgt der Senat der Auffassung Fischers, nach der spontane Gewalttätigkeit häufig durch Gleichgültigkeit geprägt, dem Täter "alles egal" ist, was letztlich in entsprechenden Konstellationen eher für als gegen das Vorliegen von Tötungsvorsatz spreche.[2] Dabei vermischt der 2. Senat jedoch die Hemmschwelle zur Begehung von Gewalttaten in alkoholisiertem oder affektivem Zustand mit der Hemmschwelle zur Tötung. Dass die Hemmschwelle zur Begehung von Gewalttaten etwa unter Alkoholeinfluss sinkt, ist - insofern ist dem Senat zuzustimmen - evident. Dass sich Alkoholisierung und Affekt auch entsprechend auf die Hemmschwelle zur Tötung auswirken, ist hingegen nicht evident.
Dabei kann die Überlegung, ob der Senat mit seiner Aussage inhaltlich richtig liegt, vorliegend dahinstehen. Denn zu kritisieren ist, dass der 2. Senat sich mit dieser Entscheidung über die bis dato ständige Rechtsprechung des BGH hinwegsetzt, ohne diese auch nur zu erwähnen. Nach ständiger Rechtsprechung ist Tötungsvorsatz nämlich aufgrund der besonders hohen Tötungshemmschwelle auch bei höchstgefährlichen Gewalthandlungen nicht ohne weiteres zu bejahen; vielmehr stellen insbesondere eine affektive Tatbegehung und eine erhebliche Alkoholisierung stets zu prüfende Indikatoren gegen das Vorliegen von Tötungsvorsatz dar.[3] Dies ignoriert der 2. Senat und stellt die angegriffene Argumentation des LG, die sich im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung befindet, als abwegig, ja aus der Luft gegriffen dar.
Hier weicht der Senat in der Frage, ob ein gesicherter Erfahrungssatz, der die nach § 261 StPO grundsätzlich freie Beweiswürdigung des Tatrichters einschränkt, existiert, also einer Rechtsfrage, ab. Selbst für den Fall, dass die Ansicht des 2. Senats sachlich zuträfe, stünde es ihm nicht zu, diese Entscheidung zu fällen. Denn Aufgabe obergerichtlicher Rechtsprechung ist es gerade auch, die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung,[4] also Rechtssicherheit zu gewährleisten, die ein Grundpfeiler des Rechtsstaats ist. Dass dies nicht dazu führen kann und darf, eine einmal gebildete Rechtsauffassung für immer beizubehalten, ist dabei ebenso wichtig wie selbstverständlich. Für Fälle der vorliegenden Art, in denen ein Senat des Bundesgerichtshofs von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen will, hält das GVG deshalb das Instrument der Divergenzvorlage nach § 132 Abs. 2 bereit. Anders als bei der Vorlage nach § 132 Abs. 4 GVG wegen der besonderen Bedeutung einer Rechtsfrage steht es dabei nicht im Ermessen des erkennenden Senats, ob er vorlegt oder nicht. Ein Senat, der, wie hier der 2., in einer Rechtsfrage von der Auffassung eines anderen Senats abweichen will, ist verpflichtet, diese dem Großen Senat vorzulegen. Allein der Große Senat ist in diesem Fall der gesetzliche Richter.[5]
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG soll eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter jedoch nur dann vorliegen, wenn die Vorlage willkürlich, nicht aber bloß irrtümlich unterlassen wurde.[6] Dies präzisiert das BVerfG etwa dahingehend, dass die Auslegung der Zuständigkeitsnorm bei verständiger Würdigung der Grundgedanken des Grundgesetzes nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen,[7] die Auslegung schlechthin unvertretbar sein[8] oder die Entscheidung die Tragweite des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG grundlegend verkennen muss.[9] Letztlich verweigert das BVerfG also eine Definition des Willkürbegriffs, belässt es bei Einzelfallentscheidungen und zieht sich auf eine Evidenzkontrolle zurück, d.h. auf solche Fälle, bei denen es an der Abweichung der Rechtsauffassung zweier Senate keine Zweifel geben kann.
Wenn es aufgrund der unpräzisen Vorgaben des BVerfG im Einzelfall deshalb auch schwierig sein mag festzustellen, ob Willkür vorliegt oder nicht, so ist diese Frage jedoch jedenfalls dann zu bejahen, wenn der erkennende Senat offensichtlich und vorsätzlich von der Rechtsauffassung eines anderen Senats abweicht.[10] So liegt es hier. Bislang waren nach ständiger Rechtsprechung zunächst die Gefährlichkeit der Tathandlung zu untersuchen und dem sodann Anhaltspunkte, die trotz der hohen Gefährlichkeit gegen Tötungsvorsatz sprechen können, gegenüberzustellen.[11] Ein wesentliches Kriterium, das danach trotz der Gefährlichkeit der Tathandlung gegen Tötungsvorsatz sprechen kann, ist die Begehung der Tat in erheblich alkoholisiertem Zustand oder affektiver Erregung.[12] Wenn nun der 2. Senat ausführt, dass "ein Handeln in affektiver Erregung und aufgrund spontanen Entschlusses" nicht gegen Tötungsvorsatz spreche, dann liegt darin nicht weniger als eine 180-Grad-Wende in der Rechtsprechung, mithin ein Fall evidenter Abweichung von der bisherigen Rechtsauffassung des BGH. Daran, dass dies auch vorsätzlich erfolgte, kann in Anbetracht der einschlägigen Rechtsprechung, der auch der 2. Senat etwa in BGH, HRRS 2007 Nr. 141 Rn. 8[13] folgte, und der zuvor von Fischer[14] - der im Übrigen dem 2. Senat angehört - bereits formulierten Kritik an dieser kein Zweifel bestehen. Daneben enthält auch das Urteil des Landgerichts[15] einen ausdrücklichen Hinweis auf die ständige Rechtsprechung. Auch nach den engen Voraussetzungen des BVerfG handelt es sich also um eine willkürliche Nichtanrufung des Großen Senats und damit um einen Verstoß gegen das Recht des Beschuldigten auf seinen gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.
[1] BGH, Urt. v. 24. 2. 2010, Az.: 2 StR 577/09, Rn. 6, HRRS 2010 Nr. 432 Rn. 7 = NStZ-RR 2010, 214, 215.
[2] Fischer, StGB, 58. Aufl. (2011), § 212 Rn. 12.
[3] BGH HRRS 2007 Nr. 208, Rn. 8 f. = NStZ 2007, 331, 332; HRRS 2007 Nr. 141, Rn. 8 f. = NStZ-RR 2007, 45; HRRS 2004 Nr. 430 Rn. 4 = NStZ-RR 2004, 204, 205; HRRS 2004 Nr. 137 Rn. 5 = NStZ 2004, 329, 330; NStZ 2003, 603, 604; NStZ 2004, 51, 52; NStZ 1999, 454.
[4] Rissing-van Saan, in: Festschrift für Gunter Widmaier (2008), S. 505.
[5] Rissing-van Saan, in: Festschrift für Gunter Widmaier (2008), S. 505, 519; Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2005, § 132 Rn. 16; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Müller-Tepitz, Grundgesetz, 11. Aufl. 2008, Art. 101, Rn. 19; Maunz/Dürig/Maunz, Grundgesetz, 53. Aufl. 2009, Art. 101 Rn. 54.
[6] Vgl. die Nachweise bei Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Müller-Tepitz (Fn. 5), Art. 101, Rn. 20.
[7] BVerfGE 29, 198, 207.
[8] BVerfGE 87, 282, 284 f.
[9] BVerfGE 82, 286, 299.
[10] So wohl auch Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Müller-Tepitz (Fn. 5) Art. 101, Rn. 20 a.E. m.w.N.
[11] Ausführlich Steinberg JZ 2010, 712-718.
[12] Vgl. Nachweise zur ständigen Rechtsprechung in Fn. 3.
[14] Fischer (Fn. 2), § 212 Rn. 12.
[15] LG Frankfurt am Main, Urt. v. 25. 5. 2009, Az.: 5/KLS 6/10, S. 48.