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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 220

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 509/10, Beschluss v. 30.11.2010, HRRS 2011 Nr. 220


BGH 1 StR 509/10 - Beschluss vom 30. November 2010 (LG Nürnberg-Fürth)

Anforderungen an einen hinreichenden Hinweis (Hinweispflicht); Beweisantrag auf polygraphische Untersuchung (Begriff; mangelnde Eignung); Recht auf ein faires Verfahren (Übergehen eines Hilfsbeweisantrages).

§ 265 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 2 4. Var. StPO; § 338 Nr. 8 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein Hinweis gemäß § 265 StPO muss nicht aus Rechtsgründen stets auf neuen tatsächlichen Erkenntnissen beruhen. Dies ist nur nach forensischer Erfahrung vielfach der Fall. Ein Hinweis nach § 265 StPO ist aber auch dann geboten, wenn sich der Sachverhalt selbst nicht geändert hat, er aber nach Auffassung des Gerichts dennoch rechtlich anders als noch in der zugelassenen Anklage zu bewerten ist.

2. Verlangt der Angeklagte formell eine Untersuchung unter Einsatz eines Polygraphen liegt allein darin noch kein Beweisantrag.

3. Gegen einen auch nur geringfügigen indiziellen Beweiswert des Ergebnisses einer mittels eines Polygraphen vorgenommenen Untersuchung bestehen weiterhin die im Urteil BGHSt 44, 308, 323 ff. dargelegten grundsätzlichen Einwände betreffend den hier allein in Rede stehenden sog. Kontrollfragentest.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 22. März 2010 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Der Angeklagte ist vom Landgericht wegen - gemeinschaftlich mit dem nicht revidierenden Mitangeklagten P. begangenen - Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Seine hiergegen gerichtete, auf die Verletzung sachlichen und förmlichen Rechts gestützte Revision bleibt ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO). Näher ist dies nur zu den geltend gemachten Verstößen gegen § 265 StPO (1.), § 244 StPO (2.) und § 338 Nr. 8 StPO (3.) auszuführen.

1. Während dem Angeklagten mit der Anklageschrift vorgeworfen worden war, sein Opfer heimtückisch und habgierig getötet zu haben, hat das Landgericht ihn wegen einer heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen begangenen Tat verurteilt. In der Hauptverhandlung hatte der Vorsitzende den Angeklagten darauf hingewiesen, dass u.a. auch "sonstige niedrige Beweggründe" als Mordmerkmal in Betracht kommen. Die Revision meint, dieser Hinweis sei unzulänglich gewesen, weil der die rechtliche Bewertung tragende Sachverhalt hätte genau bezeichnet werden müssen. Diese Rüge geht fehl. Denn die ihr zugrunde liegende Annahme, ein Hinweis gemäß § 265 StPO müsse aus Rechtsgründen stets auf neuen tatsächlichen Erkenntnissen beruhen, ist unzutreffend.

Freilich ist dies nach forensischer Erfahrung vielfach der Fall, jedoch ist ein Hinweis nach § 265 StPO auch dann geboten, wenn sich der Sachverhalt selbst nicht geändert hat, er aber nach Auffassung des Gerichts dennoch rechtlich anders als noch in der zugelassenen Anklage zu bewerten ist (vgl. KK/Engelhardt, StPO, 6. Aufl. § 265 Rn. 17). Ein Verfahrensverstoß ist daher allein mit der Behauptung, geänderte tatsächliche Grundlagen eines Hinweises gemäß § 265 StPO seien nicht mitgeteilt worden, nicht schlüssig dargetan.

Im Übrigen könnte eine auf die Behauptung unzulänglicher tatsächlicher Erläuterung eines Hinweises gemäß § 265 StPO gestützte Rüge schon im Ansatz nur dann Erfolg haben, wenn Urteil und zugelassene Anklage in tatsächlicher Hinsicht wesentlich voneinander abweichen würden. Derartige Differenzen vermag der Senat nicht zu erkennen; sie sind von der Revision auch nicht einmal abstrakt behauptet, erst recht nicht konkret ausgeführt worden (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 - 1 StR 587/09 mwN).

2. In der Hauptverhandlung hatte die Verteidigung den Antrag gestellt, dem Angeklagten "auf Staatskosten die Zulassung zur freiwilligen Durchführung einer wissenschaftlichen polygraphischen Untersuchung ... zu genehmigen".

Diesen Antrag hat das Landgericht mit der Begründung zurückgewiesen, das bezeichnete Beweismittel sei i.S.d. § 244 Abs. 3 Satz 2 4. Var. StPO ungeeignet.

a) Allerdings handelt es sich entgegen der Ansicht der Revision bereits nicht um einen Beweisantrag, dessen Ablehnung den Maßstäben des § 244 StPO hätte entsprechen müssen. Denn mit ihm wurde (noch) nicht die Vernehmung eines Sachverständigen zu einer bestimmten Beweistatsache verlangt, sondern lediglich die - eventuell nur - vorgeschaltete Untersuchung des Angeklagten unter Einsatz eines Polygraphen (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 1999 - 3 StR 272/99, NStZ 1999, 578).

b) Das Landgericht hätte jedoch auch einen auf die Einholung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens zielenden Antrag mit der von ihm genannten Begründung ablehnen dürfen. Denn gegen einen auch nur geringfügigen indiziellen Beweiswert des Ergebnisses einer mittels eines Polygraphen vorgenommenen Untersuchung bestehen die im Urteil des Senats vom 17. Dezember 1998 (1 StR 156/98, BGHSt 44, 308, 323 ff.) dargelegten grundsätzlichen Einwände betreffend den hier allein in Rede stehenden sog. Kontrollfragentest uneingeschränkt weiter. Es wäre deshalb sogar ohne Belang, wenn die Ansicht der Revision richtig wäre, dass inzwischen "eine hinreichend breite Datenbasis" einen Zusammenhang von mittels des Polygraphen gemessenen Körperreaktionen mit einem bestimmten Verhalten belegen würde. Dies ist aber nicht der Fall. Hierfür genügt die von der Revision angeführte Simulationsstudie mit lediglich 65 Versuchspersonen (vgl. H. Offe/S. Offe, MschrKrim 2004, 86) - bereits ungeachtet methodischer Einwände - nicht. Auch einem maßgeblichen Beitrag amerikanischer Wissenschaftler, die nach eigenem Bekunden einen Großteil ihrer bis zu 40jährigen Laufbahn der Forschung und Entwicklung polygraphischer Techniken gewidmet haben, lassen sich neuere Studien - noch dazu, wie die Revision vorträgt, "an realen Verdächtigen" - nicht entnehmen (vgl. Honts/Raskin/Kircher in Faigman/Saks/Sanders/Cheng, Modern Scientific Evidence, The Law and Science of Expert Testimony, Volume 5 [2009], S. 297 ff.).

3. Die Hauptverhandlung wurde nach dem letzten Wort der Angeklagten am 15. März 2010 (Montag) unterbrochen; die Urteilsverkündung war für den 22. März 2010 vorgesehen. Am 18. März 2010 (Donnerstag) ging ein an den Vorsitzenden adressiertes Fax der Verteidigerin mit folgendem Wortlaut ein: "In oben bezeichneter Angelegenheit übersende ich ... noch einen Hilfsbeweisantrag ..., den ich am Montag ... versehentlich vergessen hatte". Dieser auf die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens hinsichtlich des Mitangeklagten gerichtete Antrag war beigefügt und mit Ausführungen zu dessen psychischem Zustand bei der Tat und zu dessen nicht konstantem Aussageverhalten näher begründet. Ohne Reaktion hierauf wurde am 22. März 2010 das Urteil verkündet.

Hinsichtlich des deshalb geltend gemachten Verstoßes gegen das faire Verfahren (§ 338 Nr. 8 StPO) kann offen bleiben, ob die Grundsätze für die Bescheidung eines noch vor der Hauptverhandlung angebrachten Beweisantrages (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2001 - 1 StR 557/00, NStZ-RR bei Becker 2002, 68) auf die hier vorliegende Konstellation übertragbar sind (vgl. jew. mwN BGH, Beschluss vom 14. Mai 1981 - 1 StR 160/81, NStZ 1981, 311; KK/Schoreit, StPO, 6. Aufl. § 258 Rn. 27). Denn jedenfalls beruht das Urteil nicht auf dem Übergehen eines Hilfsbeweisantrages, wenn die Urteilsgründe insgesamt erkennen lassen, warum dem Beweisbegehren der Sache nach ohne Rechtsfehler keine Folge geleistet wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 30. September 1992 - 3 StR 430/92, NStZ bei Kusch 1993, 229). So verhält es sich hier:

Das Landgericht hat ausführlich dargelegt, dass die Aussage P. s glaubhaft sei, "da sie durch die weiteren Ergebnisse der Beweisaufnahme durchgängig bestätigt worden ist". Dies hat es mit Aussagen weiterer Zeugen und objektiven Spuren eingehend belegt. In seine Gesamtwürdigung hat es auch ausdrücklich einbezogen, dass die Angaben P. s in einigen - freilich nicht das Kerngeschehen betreffenden - Punkten nicht konstant waren. Unter diesen Umständen ist eine ohnehin nur ausnahmsweise anzunehmende Notwendigkeit zur Einholung des bezeichneten Gutachtens nicht erkennbar.

4. Im Übrigen verweist der Senat auf die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 6. Oktober 2010.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 220

Externe Fundstellen: NStZ 2011, 474

Bearbeiter: Karsten Gaede