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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2010
11. Jahrgang
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1. Art. 5 Abs. 1 EMRK enthält eine abschließende Aufzählung legitimer Gründe für Freiheitsentziehungen. Eine Einschränkung der Freiheit der Person, die nicht unter einen oder mehrere dieser Gründe zu subsumieren ist, verstößt gegen Art. 5 EMRK.
2. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK legitimiert nur Freiheitsentziehungen, die in einer substantiellen Verbindung mit der Verurteilung stehen. Dies ist im Fall der Aufhebung der früheren Zehnjahresfrist bei der Sicherungsverwahrung nicht gegeben, auch wenn dem Verurteilten im Urteil selbst keine Frist bestimmt wurde.
3. Art. 7 EMRK garantiert insbesondere das Prinzip nullum crimen, nulla poena sine lege. Er verbietet die rückwirkende Anwendung einer Strafnorm und ihre extensive Auslegung zum Nachteil des Angeklagten. Ein Strafgesetz, das Art. 7 EMRK genügen will, muss qualitativen Anforderungen genügen, die insbesondere seine Zugänglichkeit und die Vorhersehbarkeit umfassen. Diese Anforderungen gelten sowohl für die Definition der Tat als auch für die der Tat nachfolgenden Strafe.
4. Der Begriff der Strafe in Art. 7 EMRK ist autonom auszulegen. Um einen effektiven Schutz zu gewährleisten, ist nicht nur auf die Erscheinung (die Bezeichnung) einer Maßnahme zu blicken. Der Gerichtshof muss selbst würdigen, ob eine Maßnahme nach ihrer Substanz an
Art. 7 EMRK zu messen ist. Ausgangskriterium ist dabei, ob die Maßnahme infolge der Verurteilung wegen einer Straftat auftritt.
5. Die Sicherungsverwahrung stellt eine Strafe im Sinne des Art. 7 EMRK dar. Sie ist auch nicht nur eine besondere Ausgestaltung des Vollzuges der Strafe im Sinne der Rechtsprechung des EGMR.
6. Sicherungsverwahrte nach deutschem Recht bedürfen im Vollzug dieser Strafe in besonderem Ausmaß psychologischer Fürsorge und Unterstützung.
1. Art. 103 Abs. 2 GG erfasst insbesondere Straf- und Bußgeldtatbestände (vgl. BVerfGE 81, 132, 135; 87, 399, 411). Legt eine Sanktionsnorm (vorliegend wie § 15 Abs. 1 Nr. 4 BerlLImSchG) das bewehrte Verhalten nicht selbst fest, sondern verweist sie auf eine verwaltungsrechtliche Vorschrift, müssen beide Vorschriften in ihrer Gesamtheit sowie ihre Auslegung und Anwendung im Einzelfall den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG genügen.
2. Das Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit oder Bußgeldbewehrung so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Das schließt allerdings nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die der Deutung durch den Richter bedürfen.
3. Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung oder Bußgeldbewehrung. Dabei ist „Analogie“ nicht nur im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in der Norm zum Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in dem sie steht. Dabei kommt im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht der grammatikalischen Auslegung eine herausgehobene Bedeutung zu; hier zieht der Wortsinn einer Vorschrift die unübersteigbare Grenze.
4. Mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG ist es nicht vereinbar, wenn Beantwortung der Frage, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Vorschrift vorliegen nicht generell-abstrakt durch den Gesetzgeber erfolgt, sondern durch die vollziehende Gewalt für den konkreten Einzelfall (vorliegend der Eindruck eines Polizeibeamten, ein Musikspiel sei „störend“).
5. Die Auslegung, derzufolge der Begriff des „Lärms“ auch das Musizieren in der eigenen Wohnung erfassen kann, überschreitet nicht den möglichen Wortsinn und den Inhalt des gesetzlichen Ordnungswidrigkeitentatbestandes von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 BerlLImSchG.
1. Die Auslieferung bei drohender Verhängung einer sogenannten erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe nach türkischem Recht verstößt gegen unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, soweit diese erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe so ausgestaltet ist, dass sie nicht lediglich eine Strafaussetzung zur Bewährung gesetzlich ausschließt, sondern auch die bloß theoretische Möglichkeit einer späteren Begnadigung unter die rechtliche Bedingung dauernder Krankheit, Behinderung oder des Alters stellt.
2. Für den Strafvollzug im Geltungsbereich des Grundgesetzes genügt zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Institut der Begnadigung allein nicht, um die verfassungsrechtlich unaufgebbare Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit in einer Weise abzusichern, die rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht. Im Auslieferungsverkehr mit dem ersuchenden Staat kommt es demgegenüber nur darauf an, dass in dessen Rechtssystem jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht. Dafür reicht es aber nicht aus, wenn der Verurteilte günstigstenfalls darauf hoffen kann, in Freiheit zu sterben (Abgrenzung zu BVerfGE 113, 154, 167).
3. Das Grundrecht auf rechtliches Gehör erschöpft sich nicht darin, einem Betroffenen die Gelegenheit zu gewährleisten, dass er im Verfahren überhaupt gehört wird, sondern gewährleistet die Gelegenheit, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern, also grundsätzlich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite (vgl. BVerfGE 19, 32, 36; 49, 325, 328).
4. Die Entscheidung, mit der eine Anhörungsrüge zurückgewiesen wird, schafft keine eigenständige Beschwer, sondern lässt eine durch die Ausgangsentscheidung eingetretene Verletzung rechtlichen Gehörs fortbestehen, indem eine „Selbstkorrektur“ durch das Fachgericht unterbleibt.
1. Für den besonders intensiven Eingriff eines möglicherweise lebenslangen Freiheitsentzuges ergeben sich verfassungsrechtliche Grenzen insbesondere aus dem Übermaßverbot. Dieses verlangt, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Verurteilten und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor unter Umständen zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen zu einem gerechten und vertretbaren Ausgleich gebracht wird (vgl. BVerfGE 117, 71, 97).
2. Aus dem Übermaßverbot folgt, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben (vgl. BVerfGE 117, 71, 102, 105).
3. Mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzuges steigen die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung. Dem verfahrensrechtlichen Gebot einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung kommt gerade in einem solchen Fall die Bedeutung eines Verfassungsgebots zu. Das Gericht hat sich ein möglichst umfassendes Bild von der zu beurteilenden Person zu verschaffen und die Grundlagen seiner Prognose selbständig zu bewerten.
4. Im Rahmen des unbefristet wirkenden Freiheitsentzuges fordert das Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung, einen erfahrenen Sachverständigen zu Rate zu ziehen, der die richterliche Prognose durch ein hinreichend substantiiertes und zeitnahes Gutachten vorbereitet. Die Entscheidung über die Fortdauer der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe hat sich daher im Regelfall auch über den eigentlichen Anwendungsbereich des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO hinaus auf ein Sachverständigengutachten zu stützen, das der besonderen Tragweite dieser Entscheidung gerecht wird. Dabei ist auch darauf Bedacht zu nehmen, dass das ärztliche Gutachten anerkannten wissenschaftlichen Standards genügt. Der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen muss der Richter durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken (BVerfGE 117, 71, 105 f. m.w.N.).
5. Im Falle der erstmaligen Prognoseentscheidung nach der Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren darf das Gericht in aller Regel die Einholung eines Gutachtens nicht allein mit der Begründung verweigern, dass es eine Strafrestaussetzung nicht beabsichtige. Nach einem derart langen Zeitraum fehlt es im Regelfall an Beurteilungsgrundlagen, die einem Gericht erlauben, ohne sachverständige Beratung, eine gesicherte Prognose darüber abzugeben, ob die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten fortbesteht. Das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung erfordert daher regelmäßig für die erstmalige Entscheidung über die Strafrestaussetzung bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe ein zeitnahes wissenschaftlich fundiertes Gutachten.
1. Eine Missbrauchsgebühr gemäss § 34 Abs. 2 BVerfGG kann dann auferlegt werden, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist und ihre Einlegung von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss. Sie kann auch auferlegt werden, wenn gegenüber dem Bundesverfassungsgericht falsche Angaben über entscheidungserhebliche Umstände gemacht werden. Dabei genügt es, wenn die Falschangabe unter grobem Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten erfolgt. Ein vorsätzliches Verhalten oder gar eine absichtliche Täuschung ist nicht erforderlich. Die Missbrauchsgebühr kann dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers auferlegt werden, wenn ihm die missbräuchliche Handlung zuzurechnen ist.
2. Zur Auferlegung einer Missbrauchsgebühr von 1.500 € bei fehlender Auseinandersetzung mit Inhalt und Grundlagen der angegriffenen Entscheidungen, Falschangaben gegenüber dem Bundesverfassungsgericht und verkürztem Sachvortrag.