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HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 69

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 328/09, Beschluss v. 20.07.2009, HRRS 2010 Nr. 69


BVerfG 2 BvR 328/09 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 20. Juli 2009 (OLG Saarbrücken/LG Saarbrücken)

Übermaßverbot (Ablehnung der Aussetzung des Rests der lebenslangen Freiheitsstrafe nach Verbüßung der Mindestdauer von fünfzehn Jahren; richterliche Aufklärungspflicht; Gebot bestmöglicher Sachverhaltsaufklärung; Regelerfordernis eines Prognosegutachtens).

Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG; § 57a Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für den besonders intensiven Eingriff eines möglicherweise lebenslangen Freiheitsentzuges ergeben sich verfassungsrechtliche Grenzen insbesondere aus dem Übermaßverbot. Dieses verlangt, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Verurteilten und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor unter Umständen zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen zu einem gerechten und vertretbaren Ausgleich gebracht wird (vgl. BVerfGE 117, 71, 97).

2. Aus dem Übermaßverbot folgt, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben (vgl. BVerfGE 117, 71, 102, 105).

3. Mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzuges steigen die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung. Dem verfahrensrechtlichen Gebot einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung kommt gerade in einem solchen Fall die Bedeutung eines Verfassungsgebots zu. Das Gericht hat sich ein möglichst umfassendes Bild von der zu beurteilenden Person zu verschaffen und die Grundlagen seiner Prognose selbständig zu bewerten.

4. Im Rahmen des unbefristet wirkenden Freiheitsentzuges fordert das Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung, einen erfahrenen Sachverständigen zu Rate zu ziehen, der die richterliche Prognose durch ein hinreichend substantiiertes und zeitnahes Gutachten vorbereitet. Die Entscheidung über die Fortdauer der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe hat sich daher im Regelfall auch über den eigentlichen Anwendungsbereich des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO hinaus auf ein Sachverständigengutachten zu stützen, das der besonderen Tragweite dieser Entscheidung gerecht wird. Dabei ist auch darauf Bedacht zu nehmen, dass das ärztliche Gutachten anerkannten wissenschaftlichen Standards genügt. Der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen muss der Richter durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken (BVerfGE 117, 71, 105 f. m.w.N.).

5. Im Falle der erstmaligen Prognoseentscheidung nach der Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren darf das Gericht in aller Regel die Einholung eines Gutachtens nicht allein mit der Begründung verweigern, dass es eine Strafrestaussetzung nicht beabsichtige. Nach einem derart langen Zeitraum fehlt es im Regelfall an Beurteilungsgrundlagen, die einem Gericht erlauben, ohne sachverständige Beratung, eine gesicherte Prognose darüber abzugeben, ob die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten fortbesteht. Das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung erfordert daher regelmäßig für die erstmalige Entscheidung über die Strafrestaussetzung bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe ein zeitnahes wissenschaftlich fundiertes Gutachten.

Entscheidungstenor

Der Beschluss des Landgerichts Saarbrücken vom 1. Dezember 2008 - I StVK 637/08 - und der Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 7. Januar 2009 - 1 Ws 256/08 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.

Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Saarbrücken zur erneuten Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe zurückverwiesen.

Das Saarland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu ersetzen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Ablehnung der Aussetzung des Rests der lebenslangen Freiheitsstrafe nach Verbüßung der Mindestdauer von fünfzehn Jahren.

I.

1. Das Landgericht Saarbrücken hatte den Beschwerdeführer 1994 wegen Mordes am Säugling seiner damaligen Freundin zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Der Ablauf der Mindestdauer von 15 Jahren wurde für den 2. Januar 2009 vorgemerkt. Im Jahr 2003 bewarb sich der Beschwerdeführer erstmals um Aufnahme in die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugsanstalt. Diese wurde ihm jedoch nicht gewährt, da das Behandlungskonzept eine Behandlungsdauer von zwei bis vier Jahren vor der voraussichtlichen Entlassung vorsah, so dass dem Beschwerdeführer empfohlen wurde, sich zum Januar 2005 erneut um die Aufnahme in die sozialtherapeutische Abteilung zu bewerben. Mit Schreiben vom 29. September 2004 beantragte er bei der Justizvollzugsanstalt, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, therapeutische Maßnahmen aufzunehmen. Laut einem Vermerk der Justizvollzugsanstalt vom Dezember 2005 befand sich der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt auf der Warteliste für Einzelgespräche mit einem Therapeuten. Diese wurden im März 2006 aufgenommen. Ab August 2006 nahm der Beschwerdeführer für sechs Monate an der geschlossenen therapeutischen Gruppe "Alkohol und Delikt" teil, nach deren Beendigung ihm aus therapeutischer Sicht zur weiteren Festigung und Rückfallprophylaxe eine stationäre Entwöhnungstherapie nach Haftentlassung empfohlen wurde. Am 22. August 2007 wurde er in die Orientierungsphase der Behandlung in der sozialtherapeutischen Abteilung aufgenommen. Diese musste jedoch im Dezember 2007 abgebrochen werden, weil der Beschwerdeführer einen Mitgefangenen tätlich angegriffen hatte. Nach einer Bewerbung des Beschwerdeführers um Wiederaufnahme in die sozialtherapeutische Abteilung wurde er im März 2008 erneut in die Orientierungsphase aufgenommen. Im Rahmen der Vorbereitung der Aussetzungsentscheidung nach Vollstreckung von 15 Jahren fragte der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers bei der Justizvollzugsanstalt an, ob dessen Begutachtung vorgesehen sei. Tatsächlich fand eine Begutachtung nicht statt.

2. Durch den hier angegriffenen Beschluss des Landgerichts Saarbrücken vom 1. Dezember 2008 wurde die Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe abgelehnt. Die Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände ergebe, dass die Aussetzung gegenwärtig unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit noch nicht verantwortet werden könne, da dem Beschwerdeführer keine ausreichend günstige Prognose gestellt werden könne. Zwar bescheinige ihm die Leiterin der Justizvollzugsanstalt ein meist freundliches Verhalten, sehr gute Leistungen auf seiner Arbeitsstelle und eine motivierte Mitarbeit bei Einzeltherapiegesprächen. Dennoch könne ihm keine günstige Prognose gestellt werden, da seine der Tatbegehung zu Grunde liegende Persönlichkeits- und Alkoholproblematik bisher nicht aufgearbeitet worden sei. Er befinde sich erst seit März beziehungsweise September 2008 in der sozialtherapeutischen Abteilung. Darauf, dass dieser späte Beginn nicht von ihm verschuldet sei, könne er sich nicht berufen. Zum einen beeinflusse ein vorhandenes oder fehlendes Verschulden nicht die in der Therapie vollzogene Entwicklung und somit nicht die Prognose. Zum anderen sei der Beschwerdeführer im August 2007 schon einmal in die sozialtherapeutische Abteilung aufgenommen worden, aus der er jedoch noch innerhalb der Orientierungsphase habe zurückverlegt werden müssen, weil er einen Mithäftling tätlich angegriffen habe. Dies zeige nicht nur, dass auch der Beschwerdeführer zu dem späten Beginn beigetragen habe, und dass die Gewaltproblematik nach wie vor bestehe. Aufgrund seines Verhaltens habe der Beschwerdeführer auch noch nicht in Außenlockerungen erprobt werden können, was angesichts der Länge der bisherigen Inhaftierung erforderlich sei.

3. Die gegen diesen Beschluss eingelegte sofortige Beschwerde wurde durch den angegriffenen Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 7. Januar 2009 als unbegründet verworfen. Der Einholung eines Prognosegutachtens bedürfe es nicht, weil auch der Senat nach Würdigung aller relevanten Umstände die Aussetzung nicht in Erwägung ziehe (§ 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO). Die im Urteil festgestellte massive Persönlichkeits- und Alkoholproblematik habe sich entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht lediglich in einem einzelnen konflikthaften Kapitalverbrechen geäußert. Der Beschwerdeführer sei vielmehr schon als Jugendlicher und Heranwachsender mehrfach mit Gewalt gegen Personen und Sachen in Erscheinung getreten; fünf weitere gegen ihn wegen zum Teil massiver Körperverletzungsdelikte geführte Verfahren seien lediglich im Hinblick auf die Anklage wegen Mordes gemäß § 154 StPO eingestellt worden. Diese kriminogene Problematik habe noch nicht soweit aufgearbeitet werden können, dass eine hinreichend günstige Prognose möglich wäre.

II.

Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Durch den verspäteten Zugang zur Sozialtherapie sei eine günstige Prognose verhindert worden. Da die Therapie auf eine Dauer von vier Jahren konzipiert sei, hätte sie von Seiten der Justizvollzugsanstalt so rechtzeitig angeregt werden müssen, dass diese vier Jahre vor der Entscheidung über die Aussetzung abgelaufen wären. Nur dann hätte ihm der Erfolg der Therapie bei Erreichen der Mindestverbüßungszeit zugute kommen können. Die Gerichte hätten außerdem ihre Pflicht zur Sachaufklärung verletzt. Für eine fundierte Prognoseentscheidung sei ein Fachgutachten einzuholen gewesen.

III.

Das Ministerium der Justiz des Saarlandes hat von einer Stellungnahme abgesehen. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Gefangenenpersonalakten vorgelegen.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 in Verbindung mit § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.

1. Die Regelung des § 57a StGB über die Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe konkretisiert eine Forderung der Menschenwürde in der Strafvollstreckung (vgl. BVerfGE 45, 187 <245>; 64, 261 <272> ). Sie schafft einen Ausgleich zwischen dem Resozialisierungsanspruch und dem Freiheitsgrundrecht des zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten einerseits und dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit andererseits (vgl. BVerfGE 117, 71 <112>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 -, NJW 1998, S. 2202 <2203>).

Ob die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe auszusetzen ist, ist eine Frage der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts. Die im Aussetzungsverfahren nach § 57a Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu treffende Prognoseentscheidung obliegt daher in erster Linie den Strafvollstreckungsgerichten und ist einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Dieses kann aber auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen, wenn Grundrechte des Gefangenen in ihrer Bedeutung und Tragweite grundsätzlich verkannt worden sind oder die Entscheidung der Strafvollstreckungsgerichte objektiv willkürlich ist (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 29, 312 <317>; 72, 105 <114 f.>; 74, 102 <127> ; stRspr). Ob dies der Fall ist, lässt sich - vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die zu treffende Prognoseentscheidung - nur auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalls beurteilen.

Für den besonders intensiven Eingriff eines möglicherweise lebenslangen Freiheitsentzuges ergeben sich verfassungsrechtliche Grenzen insbesondere aus dem Übermaßverbot. Dieses verlangt, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Verurteilten und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor unter Umständen zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen zu einem gerechten und vertretbaren Ausgleich gebracht wird (vgl. BVerfGE 117, 71 <97>).

a) Das Übermaßverbot stellt zunächst materielle Anforderungen an die Prognoseentscheidung. Je länger der Freiheitsentzug dauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für dessen Verhältnismäßigkeit. Der nachhaltige Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs stößt jedoch dort an Grenzen, wo es im Blick auf die Art der von dem Betroffenen drohenden Gefahren, deren Bedeutung und Wahrscheinlichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Betroffenen in die Freiheit zu entlassen (vgl. BVerfGE 117, 71 <97 f.> ). Die im Rahmen der Aussetzungsentscheidung zu treffende Prognose betrifft die Verantwortbarkeit der Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende Rückfalltaten. Je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muss das Rückfallrisiko sein. Bei Straftaten, die wie der Mord (§ 211 StGB) mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, ist das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit besonders hoch zu veranschlagen. Wegen der Art der im Versagensfall zu befürchtenden Taten kommt eine bedingte Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe nur unter strengen Voraussetzungen in Betracht (vgl. BVerfGE 117, 71 <99>).

Die besonders hohe Wertschätzung des Lebens rechtfertigt die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht nur in den Fällen, in denen eine fortbestehende Gefährlichkeit des Verurteilten positiv festgestellt werden kann, sondern auch dann, wenn nach Erfüllung des verfassungsrechtlichen Gebots ausreichender richterlicher Sachaufklärung eine günstige Gefährlichkeitsprognose nicht gestellt werden kann, weil verbleibende Zweifel an einer hinreichend günstigen Prognose zu Lasten des Verurteilten gehen (vgl. BVerfGE 117, 71 <100 f.>).

b) Darüber hinaus begründet das Übermaßverbot verfahrensrechtliche Anforderungen. Sie betreffen vor allem das Verfahren zur Wahrheitserforschung und damit insbesondere die Feststellung der der Aussetzungsentscheidung zu Grunde liegenden Prognosebasis. Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben (vgl. BVerfGE 117, 71 <102, 105>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 - 2 BvR 2009/08 -, NJW 2009, S. 1941 ff., m.w.N.).

Mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzuges steigen die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung. Dem verfahrensrechtlichen Gebot einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung kommt gerade in einem solchen Fall die Bedeutung eines Verfassungsgebots zu. Das Gericht hat sich ein möglichst umfassendes Bild von der zu beurteilenden Person zu verschaffen und die Grundlagen seiner Prognose selbständig zu bewerten.

Im Rahmen des unbefristet wirkenden Freiheitsentzuges fordert das Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung, einen erfahrenen Sachverständigen zu Rate zu ziehen, der die richterliche Prognose durch ein hinreichend substantiiertes und zeitnahes Gutachten vorbereitet. Die Entscheidung über die Fortdauer der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe hat sich daher im Regelfall auch über den eigentlichen Anwendungsbereich des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO hinaus auf ein Sachverständigengutachten zu stützen, das der besonderen Tragweite dieser Entscheidung gerecht wird. Dabei ist auch darauf Bedacht zu nehmen, dass das ärztliche Gutachten anerkannten wissenschaftlichen Standards genügt. Der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen muss der Richter durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken (BVerfGE 117, 71 <105 f.> m.w.N.).

Im Falle der erstmaligen Prognoseentscheidung nach der Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren darf das Gericht in aller Regel die Einholung eines Gutachtens nicht allein mit der Begründung verweigern, dass es eine Strafrestaussetzung nicht beabsichtige. Nach einem derart langen Zeitraum fehlt es im Regelfall an Beurteilungsgrundlagen, die einem Gericht erlauben, ohne sachverständige Beratung, eine gesicherte Prognose darüber abzugeben, ob die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten fortbesteht. Das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung erfordert daher regelmäßig für die erstmalige Entscheidung über die Strafrestaussetzung bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe ein zeitnahes wissenschaftlich fundiertes Gutachten.

2. Diesem Maßstab halten die angegriffenen Entscheidungen nicht stand. Sie genügen nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung, denn sie haben ihrer Entscheidung kein zeitnahes Gutachten zur Gefährlichkeitsprognose des Beschwerdeführers zu Grunde gelegt. Das Oberlandesgericht hat dies zwar damit begründet, dass es nach Würdigung aller relevanten Umstände eine Aussetzung nicht in Erwägung ziehe. Dabei hat sich das Gericht aber wesentlich auf die ausweislich des Strafurteils aus dem Jahre 1995 bestehende massive Persönlichkeits- und Alkoholproblematik gestützt. Auch der Verweis auf die Gewaltproblematik des Beschwerdeführers stützt sich auf Vorgänge, die in die Zeit vor seiner Verurteilung im Jahre 1995 fallen.

Soweit die angegriffenen Urteile darauf abstellen, dass die unmittelbare kriminogene Problematik - trotz der anerkennenswert frühzeitigen Bemühungen des Beschwerdeführers - noch nicht so weit aufgearbeitet worden sei, dass eine hinreichend günstige Prognose möglich wäre, genügt diese Begründung nicht, um von einem sachverständigen Prognosegutachten nach einem derart langen Freiheitsentzug abzusehen. Es wird schon nicht deutlich, worauf die Erkenntnisse der Gerichte im Einzelnen beruhen. Allein der Hinweis, dass eine Therapie wegen eines tätlichen Angriffs des Beschwerdeführers auf einen Mithäftling einmal abgebrochen werden musste, begründet für sich genommen noch nicht eine negative Prognose, die ein Verzicht auf sachverständige Beratung rechtfertigen könnte. Es wird auch nicht erkennbar, worauf die Gerichte ihre Annahme stützen, dass von einem bereits eingetretenen (charakterlichen) Wandel derzeit noch nicht ausgegangen werden könne. Diese richterliche Einschätzung bedarf mit Blick auf die hohe Bedeutung des Freiheitsgrundrechts einer sachverständigen Absicherung. Insbesondere kann nur auf diese Weise geklärt werden, ob und wie die bereits erfolgte Teilnahme des Beschwerdeführers an Einzeltherapiestunden und der therapeutischen Gruppe "Alkohol und Delikt" gewirkt hat. Nach alledem stützt sich die Entscheidung nicht auf Gesichtspunkte, die ausnahmsweise ein Absehen von einer Begutachtung hätten rechtfertigen können.

V.

Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG.

Die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 Alt. 1 BVerfGG.

HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 69

Bearbeiter: Stephan Schlegel