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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2010
11. Jahrgang
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Wiss. Mit. Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu, Univ. Erlangen-Nürnberg
Das deutsche Notwehrrecht kennt – im Unterschied zu anderen Rechtsordnungen – keine Güterabwägung.[1] Daher besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass das "schneidige" Notwehrrecht durch ein normatives Korrektiv relativiert werden muss. Jene sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts fasst man unter dem Begriff der "Gebotenheit" zusammen.[2] Mit der Gebotenheit bezweckt man eine Versagung des Notwehrrechts in Fällen, in denen die Leitprinzipien des § 32 StGB (Rechtsbewährungsgedanke und Individualrechtsgüterschutz) gar nicht betroffen sind, der Angegriffene dennoch – rechtsmissbräuchlich – Notwehr ausübt.[3] Der Ausschluss des Notwehrrechts soll also die absolute Ausnahme bilden und nur dann bejaht werden, wenn man zu schlicht untragbaren Ergebnissen gelangt,[4] man erinnere sich an das Schulbeispiel der "Kirschendiebe".[5]
Dass dieser Gedanke nur schwerlich aufgehen kann, wenn man die "Provokation" als eine jener vier (bis dato anerkannten) Fallgruppen der Gebotenheit ansieht, liegt auf der Hand. Viele Körperverletzungsdelikte durchlaufen einen Aufschaukelungsprozess; die einfache Gewaltdelinquenz basiert oftmals u.a. auf geringfügigen "Provokationen" des späteren Opfers einerseits und Überreaktion des Täters andererseits.[6] Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass die Provokationsdogmatik Anwendung findet (das Notwehrrecht also eingeschränkt wird), obwohl der konkrete Sachverhalt hierfür kaum einen Anlass gibt. Es überrascht nicht, dass sich der BGH jüngst mehrmals mit der Notwehrprovokation auseinandersetzen musste
und hierbei von den Instanzgerichten zu einer Urteilsaufhebung "provoziert" wurde.[7]
Die Fehler in den erstinstanzlichen Urteilen werden nachvollziehbar, wenn man sich Rechtsprechung und Literatur zur Provokationsdogmatik zu Gemüte geführt hat:[8] Die Diskussion rund um die "Fallgruppen" der Provokation scheint kein Ende zu nehmen, ständig tauchen neue Konstellationen auf, die zudem unterschiedliche Bezeichnungen tragen sollen.[9]
Dem Rechtsanwender fällt es schwer, der inzwischen äußerst unübersichtlichen Kasuistik Leitprinzipien zu entnehmen. Der Versuch, diese Unordnung durch eine Kategorisierung bzw. Bildung von Fallgruppen zu beseitigen, führt nicht nur zu jenem "gefährlichen" Schubladendenken, sondern verfehlt überdies auch seinen Zweck, da man bei jedem Fall erneut zu der Erkenntnis gelangt, dass der konkrete Sachverhalt in keine der Schubladen passt. Im folgenden Beitrag soll dieses Dilemma anhand der jüngst erschienenen Rechtsprechung zur Notwehrprovokation dargestellt und eine Abkehr von der derzeitig allzu diffizilen Provokationsdogmatik angeregt werden.
Dass die absichtliche oder sonst schuldhafte Herbeiführung der Notwehrlage zu einer Präklusion bzw. Einschränkung der Notwehrrechte führen kann, wird kaum mehr bestritten.[10] Neben der Notwehrprovokation sind allerdings noch weitere Fallgruppen anerkannt, in denen das Notwehrrecht aus sozialethischen Aspekten eingeschränkt werden muss. Ein Vergleich mit diesen Fallgruppen erklärt, warum die Notwehrprovokation als derart problematisch empfunden wird und weswegen in gängigen Lehrbüchern und Handkommentaren die Ausführungen zur Notwehrprovokation dreimal so umfangreich sind, wie die zu den sonstigen anerkannten Fallkonstellationen.
Sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts kommen weiterhin in Betracht:
Schnell erkennt man, dass sich die Notwehrprovokation von den soeben aufgezählten sonstigen Fallgruppen bereits strukturell unterscheidet: Während in Fällen schuldlos Handelnder oder Bagatellangriffen objektiv feststehende, starre Eigenschaften die Schmälerung des Notwehrrechts herbeiführen, ist in den Fällen der Notwehrprovokation das Täterverhalten, also ein dynamisches Merkmal für die Einschränkung maßgeblich (welches zudem über einen bestimmten Zeitraum zu ermitteln ist).
Dies führt auch zu unterschiedlichen Begründungen hinsichtlich der Legitimation der Einschränkung: Während in den sonstigen Fallgruppen objektive Kriterien das Rechtsbewährungs- bzw. Schutzinteresse entfallen lassen,[14] ist es bei der Provokation ausschließlich das Verhalten bzw. Mitverschulden des Täters, das den Rechtsbewährungsgedanken anzweifeln lässt.[15]
Letztlich muss man feststellen, dass die sonstigen Fallgruppen der Gebotenheit weitestgehend konkretisiert sind und man Normen (§§ 13, 19, 20, 21, 240 StGB) oder sonstige Begrifflichkeiten (Angriff, krasses Missverhältnis etc.) zur Orientierung heranziehen kann. Der Begriff der "Provokation" ist dagegen unbestimmt, lässt eine sehr weite Auslegung zu[16] und bedarf grundsätzlich einer näheren Erläuterung.
Diese Ausführungen verdeutlichen nicht nur, dass die Provokationsdogmatik im Verhältnis zu den anderen Fallgruppen komplexer ausfällt, sondern erklären auch,
warum dies so ist: Der normative Charakter des Begriffs, die beschriebene "Dynamik" und Einzelfallbezogenheit müssen nicht nur näher definiert werden, sondern bedürfen ihrerseits einer wertenden Einschränkung, damit es nicht zu einer uferlosen bzw. allzu schnell angenommenen Präklusion der Notwehrrechte kommt.
Rechtsprechung und Literatur unterscheiden zunächst grundsätzlich zwischen Absichts- und sonst vorwerfbarer Provokation. Innerhalb der sonst vorwerfbaren Provokation erfolgt teilweise noch eine Einteilung nach bestimmten Fallgruppen und Vorsatzformen.
Bei der sog. Absichtsprovokation führt der Verteidiger den Angriff geplant herbei, um den Angreifer unter dem Vorwand einer äußerlich gegebenen Notwehrlage (im Deckmäntelchen des § 32 StGB)[17] verletzen zu können.[18] In diesen Fällen ist dem Verteidiger das Notwehrrecht nach ganz h.M. abzusprechen, wobei lediglich die Begründungsmodelle divergieren[19]: Der vollständige Ausschluss der Notwehrrechte bei einer Absichtsprovokation lässt sich damit erklären, dass derjenige, der das ihm zustehende Recht missbraucht, den Boden des Rechts verlässt und daher als der eigentliche Angreifer einzustufen ist. Daher ist der Absichtsprovokateur weder schutzwürdig, noch kann er sich auf den Rechtsbewährungsgedanken berufen.[20] Soweit man (wie die Rechtsprechung) eine Verteidigungsabsicht fordert, kann man in den Fällen der Absichtsprovokation die Voraussetzungen des § 32 StGB bereits wegen fehlender Verteidigungsabsicht verneinen. Auch ein sog. "Motivbündel" (das für eine Bejahung der Verteidigungsabsicht ausreichen würde) kann in diesen Fällen nicht festgestellt werden.[21]
Schwieriger gestaltet sich die Behandlung einer sonst vorwerfbaren Provokation: Nach h.A. ist bei einem schuldhaften Vorverhalten des Angegriffenen dessen Notwehrrecht einzuschränken, wenn sich die Notwehrhandlung gegen den Provozierten selbst richtet und das Vorverhalten in einem zeitlich-räumlichen Zusammenhang zum späteren Angriff steht.[22] Strittig ist, ob das Vorverhalten rechtswidrig sein muss oder bereits sozialethisch missbilligtes Verhalten ausreicht.[23] Jedenfalls basiert die Einschränkung des Notwehrrechts in gewissem Grade auf "Mitverschuldensaspekten", d.h. die Mitverantwortung an der Situation führt zu einer Minderung des Rechtsbewährungsinteresses.[24] Bei der Einschränkung sind die konkreten Fallumstände miteinzubeziehen, wobei Art und Intensität der drohenden Rechtsgutverletzung in Relation zur erfolgten Provokation zu setzen sind.[25] Die Einschränkung erfolgt nach dem so genannten "Drei-Stufen-Modell", d.h. dem Verteidigenden wird nicht das Notwehrrecht im Ganzen abgesprochen, sondern er muss lediglich zurückhaltender reagieren, demnach gilt: Erst ausweichen, dann zur Schutzwehr übergehen und erst als allerletztes Mittel zum Gegenangriff (Trutzwehr) ansetzen.[26]
Dieses Konzept hat zwar eine zu begrüßende Signalwirkung, ist aber in der praktischen Anwendung unergiebig, da in den Fällen der Eskalation der Sachverhalt sich bereits so sehr zugespitzt hat, als dass eine Flucht bzw. Schutzwehr dem Opfer oftmals nicht mehr möglich sein wird und der Angegriffene i.E. meist doch gerechtfertigt nach § 32 StGB handelt. Es bietet sich daher an, die starre Formel des BGH aufzuweichen und dem Rechtsanwender eine flexiblere Formel zur Hand zu geben. Tatsächlich erfolgt (gerade wegen des geschilderten Phänomens der "erzwungenen Trutzwehr") die Umsetzung des Drei-Stufen-Modells ohnehin in dieser Form. Daher ist der Rechtsprechung im Ergebnis vollkommen beizupflichten, soweit es um die Rechtsfolgen bzw. die Behandlung einer sonst vorwerfbaren Provokation geht.
Dies ändert allerdings nichts daran, dass bis dato kaum oder nie ausreichend pointiert wurde, wann überhaupt solch eine Einschränkung erfolgen soll, wann also eine "vorwerfbare Provokation" anzunehmen ist.
Den letzten Beschlüssen des BGH zu dieser Problematik sind neue Konkretisierungsbemühungen zu entnehmen:
A und B sind Nachbarn in einem Mehrfamilienhaus. Eines Abends trifft der angetrunkene und gereizte A den körperlich unterlegenen B im Treppenhaus und schlägt ihm grundlos mit der Faust gegen den Oberarm. B geht einer Konfrontation aus
dem Weg und verlässt den Ort des Geschehens. A verfolgt den B, woraufhin dieser den A wüst beschimpft und ihm mit dem Einsatz seines Klappmessers droht, falls dieser ihn nicht endlich in Ruhe lasse. Dennoch packt A den B am Oberarm und B sticht mit seinem Messer zu.
Der Beschluss des BGH hat seinen Schwerpunkt eigentlich in der Frage, ob die Verteidigungshandlung des B erforderlich war, was er im Ergebnis – im Gegensatz zur Vorinstanz – frei nach dem Grundsatz "Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" bejaht. Er nimmt hierbei allerdings auch auf eine etwaige Einschränkung des Notwehrrechts Bezug, weil B durch seine Beleidigungen zur Eskalation des Geschehens beigetragen haben könnte (in diese Richtung das LG). Ob man diese Bezugnahme des BGH dahingehend (miss)verstehen soll, als das die Einschränkung im Rahmen der Gebotenheit in die Frage der Erforderlichkeit hineinspielt, also eine "Wechselwirkung" zwischen Erforderlichkeit und Gebotenheit anzunehmen ist, sei dahingestellt. Jedenfalls signalisiert der BGH im Rahmen seiner Ausführungen, dass Provokationen des Verteidigers durch Vorprovokationen des späteren Angreifers relativiert werden. In der Literatur wird diese Konstellation, insbesondere von Cramer als Fallgruppe der provozierten Provokation aufgegriffen. Auch Cramer lehnt eine Einschränkung ab, wenn die Provokation des Verteidigers seinerseits durch eine Vorprovokation des Angreifers verursacht wurde und die Provokation nur "adäquate Folge" der Vorprovokation war.[27]
Der BGH vermeidet es, diesen Umstand der Vorprovokation überzubewerten; stattdessen wird bekräftigt, dass die Umstände des Einzelfalles und insbesondere der zeitlich-örtliche Zusammenhang zwischen Provokation und Angriffshandlung maßgeblich sind. So kommt er auch zu dem einzig richtigen Ergebnis, dass eine Provokation abzulehnen und somit eine Einschränkung des Notwehrrechts auszuschließen ist.
Hobbygärtner H verjagt zwei Eindringlinge, die ihm selbst angebauten Cannabis entwenden wollten auf seinem Grundstück und versteckt "zur Strafe" deren Fahrräder in seinem Anwesen. Als diese mit einem Dritten zurückkehren, um ihre Fahrräder zurückzuholen, wollen sie zugleich die Gelegenheit nutzen und sich am Gärtner rächen. Als der körperlich überlegene Dritte den H in den Schwitzkasten nimmt, greift dieser zu seinem Messer und sticht zu.
Die Vorinstanz verurteilte H wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223, 224 I Nr.2, 5 StGB, weil sie der Auffassung war, dass H wegen des Versteckens der Fahrräder eine Rückkehr provoziert hätte und somit in seinem Notwehrrecht eingeschränkt war. Der BGH hebt in seinem Beschluss das Urteil zu Recht auf und bezweifelt bereits das Vorliegen einer Provokation. Hierbei konkretisiert er den Begriff der "Provokation" folgendermaßen:
Der 5. Senat betont erneut, dass zwischen der Provokation und dem später erfolgten Angriff ein enger zeitlich-örtlicher und v.a. auch inhaltlicher Zusammenhang bestehen muss, was im Gärtnerfall jedenfalls anzuzweifeln sei. Hierbei deutet – Stichwort "inhaltlicher Zusammenhang" – der BGH an, dass eine Provokation des später Angegriffenen auch so beschaffen sein kann, dass nur die Verletzung bestimmter Rechtsgüter zu erwarten ist (im konkreten Fall also die nochmalige Verletzung des Hausrechts bzw. des Eigentums, nicht aber Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit). Diese Feststellung deckt sich auch mit der eingangs des Beschlusses verwendeten, simplen Definition:
Eine schuldhafte Provokation kann demnach zur Einschränkung des Notwehrrechts führen, wenn bei vernünftiger Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls der Angriff als adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheint.
Dieser griffige Ansatz ist absolut zu begrüßen und basiert ihrerseits auf den oben bereits erläuterten Überlegungen Cramers, der das Kriterium der Adäquanz im Rahmen der "provozierten Provokation" heranzog. Nach Subsumtion unter diese Formel, verneint der BGH eine Provokation und kommt zu dem Ergebnis, dass die Verteidigungshandlung auch erforderlich war und H somit nicht rechtswidrig handelt. Überlegungen zur "provozierten Provokation" und dem Umstand, dass es sich bei dem Dritten um eine Person handelt, die nicht unmittelbar provoziert wurde, muss der Bundesgerichtshof somit erst gar nicht aufgreifen.
Die Fälle, sowie deren Lösung durch den BGH, haben deutlich illustriert, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung weit entfernt von einem kategorischen Denken im Sinne eines "Alles-oder-Nichts"- Prinzips ist. Es gibt nicht die Notwehrprovokation, vielmehr hängt, sowohl das "Ob", als auch das "Wie" der Einschränkung immer von den Umständen des Einzelfalles ab.[28]
Diese "Gesamtschau" darf sich allerdings nur auf die Provokation als solches beziehen, d.h. die Gesamtschau muss gerade der Beantwortung der Frage dienen, ob eine Provokation vorliegt und nicht etwa ob eine Einschränkung – wegen vergleichbarer Aspekte – angemessen erscheint. Insofern sei nochmals die (etwas verwirrende) Bemerkung des Senats in seiner viel diskutierten Chantage-Entscheidung in Erinnerung gerufen: Demnach sei die Möglichkeit einer Gesamtschau mehrerer Umstände, die für sich genommen keiner der genannten Fallgruppen angehören, aber in einer gewissen sachlichen Nähe zu ihnen stehen, im Interesse der Rechtssicherheit zu verwerfen.[29]
Der Senat bringt damit zum Ausdruck, dass dem rechtlichen Laien eine grundsätzliche Richtschnur zur Verfügung stehen muss. Da jede Einschränkung zu einer Ausweitung der Strafbarkeit führt, ist diese restriktive Inter-
pretation zu begrüßen.[30] Allerdings darf man diese Ausführungen nicht dahingehend missverstehen, dass die Provokation als solche keiner Einzelfallbetrachtung unterliege (denn dies ist – siehe oben – die gängige Praxis). Gemeint ist vielmehr, dass feststehen muss, in welchen Fällen grundsätzlich das Notwehrrecht eingeschränkt ist. Hierfür reicht allerdings, dass der Normadressat weiß, dass in Fällen der Provokation sein Notwehrrecht eingeschränkt ist.
Diese sollte sich – in konsequenter Fortführung des vom Senat verfolgten Ziels der Rechtssicherheit – dann aber gerade nicht an starren Fallgruppen, sondern an einer für den Rechtsanwender weitaus klareren abstrakten Definition der Notwehrprovokation orientieren. Diesen Weg geht auch der fünfte Senat: Legt man deren "Adäquanz-Formel" zu Grunde und integriert nun die sonstigen Überlegungen und Teilaspekte aus Rechtsprechung und Literatur, ergibt sich folgende Kontrollfrage, die man in allen Fällen der Provokation heranziehen kann:
Hat der Angegriffene durch sein rechtswidriges oder auch sozial missbilligtes Vorverhalten die Reaktion des Angreifers verursacht und kann diese Reaktion als das "Werk" des Angegriffenen angesehen werden, kommt eine Einschränkung des Notwehrrechts in Betracht, wenn ein enger zeitlich-räumlicher Zusammenhang zwischen Provokation und Angriff gegeben ist.
Liegt allerdings der "Gegenschlag" des Provozierten (vom Terminus her ähnlich wie bei der objektiven Zurechnung) völlig außerhalb dessen, was nach allgemeiner Lebenserfahrung noch in Rechnung zu stellen ist, muss auch eine Einschränkung des Notwehrrechts abgelehnt werden; d.h. je atypischer, oder untechnisch ausgedrückt "übertriebener" die Reaktion des Angreifers ist, desto weniger ist der Angegriffene in seinen Rechten beschränkt. In die Beurteilung, ob bzw. wann eine Reaktion atypisch sein soll, spielen verschiedene Aspekte hinein, bspw. Verhältnis von Angreifer und Provokateur, Alter, Geschlecht, Statur, Bildungsstand, Ort des Geschehens, soziales Milieu, beeinträchtigte Rechtsgüter und sonstiges Vorverhalten. Der Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsgrad kann dagegen erst bei der Frage eine Rolle spielen, inwieweit die Notwehrrechte des Angegriffenen einzuschränken sind.
Die Formel passt auch auf die etwas atypischeren Mehrpersonenkonstellationen: So können auch insbesondere die (nicht vollkommen lebensfremden) Fälle gelöst werden, in denen der Angegriffene primär eine andere Person provoziert hat, als der nunmehr Angreifende (bspw. ein Dritter, der die Beleidigung seines besten Freundes nicht verkraften kann). Konnte der Provozierende nach den Gesamtumständen damit rechnen, dass der Dritte nun ebenfalls angreifen könnte, kommt eine Einschränkung des Notwehrrechts in Betracht.
In den umgekehrten Fällen der "provozierten Nothilfe" ist dieser Ansatz, soweit man eine Einschränkung des Nothilferechts durch Provokation des Angegriffenen überhaupt für möglich erachtet, ebenfalls hilfreich:[31] In den unproblematischen Konstellationen, in denen der Angegriffene und später Nothilfe Ausübende Dritte gemeinsam "provoziert" haben, wird eine Einschränkung nach oben genannter Formel ohne Weiteres möglich sein. Schwierig sind die Fälle zu lösen, in denen der Dritte selbst nicht provoziert hat: Hier wird die oben genannte Formel um den Faktor zu erweitern sein, ob die grundsätzlich zurechenbare Provokation dem helfenden Dritten ebenfalls (nach einer normativen Gesamtbetrachtung) zuzurechnen ist.
Der Begriff der Provokation hat durch Bemühungen der Literatur und höchstrichterliche Rechtsprechung ausreichend Konturen erfahren; jedoch ergeben sich diese nicht so ohne Weiteres, was auf die sehr komplexe Darstellung in Lehrbüchern/Kommentaren einerseits und der einzelfallorientierten Judikatur anderseits zurückzuführen ist. Mit der Formel des 5. Senats, die es etwas zu konkretisieren gilt (siehe oben), wird dem Rechtsanwender eine praktisch gut umsetzbare Richtschnur zur Hand gegeben, welche die inzwischen etwas unübersichtlich geratene Literatur wieder auf den Punkt bringt. Keine Änderungen ergeben sich indessen bei den Rechtsfolgen: Die kurze Rechtsprechungsanalyse ließ andeuten, dass das Drei-Stufen-Modell nach wie vor Geltung beansprucht, allerdings in aufgeweichter Form, was auf die umfassende Einzelfallbetrachtung zurückzuführen ist.
[1] Vgl. diesbezüglich den umfassenden Rechtsvergleich von Rönnau/Hohn in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Auflage (2006), § 32 Rn.6 ff.
[2] Fischer, StGB, 56. Auflage (2009), § 32 Rn.36 ff.
[3] Rosenau in Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB (2009), § 32 Rn.30 ff.
[4] Vgl. zum Ganzen Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4.Auflage (2005), § 15 Rn.55 ff.
[5] RGSt 55, 82; eingehend Fahl JA 2000, 460.
[6] Bock, Kriminologie, 3.Auflage (2007), Rn.759.
[7] Siehe hierzu im Einzelnen unten, vgl. auch BGH NStZ 2006, 332 = HRRS 2005 Nr.873.
[8] BGHSt 39, 374; BGHSt 42, 97, 101; BGH NStZ 2002, 425; Kühl Jura 1991, 57; 175; BGH 48, 207 ff. mit Bespr. Roxin JZ 2003, 966; Fischer (Fn. 2), § 32 Rn.41 ff.; LK-Rönnau/Hohn (Fn. 1), § 32 Rn.245.
[9] Zum Begriff der provozierten Provokation Cramer in Schönke/Schröder, StGB, 27.Auflage (2006), § 32 Rn.58; zur Abwehrprovokation OLG Stuttgart NJW 1992, 850; Arzt JR 1980, 212; BGH NStZ 1999, 40; Küpper JA 2001, 438; zur Vorsatzprovokation BGHSt 39, 374; BGH 5 StR 392/07 – Urteil vom 06.12.2007 = HRRS 2008 Nr.128; Roxin StV 06, 235, 237.
[10] Vgl. hierzu nur BGHSt 39, 374, 379; BGHSt 42, 97, 101; BGH 5 StR 158/06 – Beschluss vom 24.05.2006 = HRRS 2006 Nr. 788 ; BGH NStZ-RR 2007, 200 = HRRS 2007 Nr.555; Jahn JuS 2006, 466; Kühl StV 1997, 298; Matt NStZ 1993, 271; Zaczyk JuS 2004, 750; Roxin NJW 1972, 1821; Mitsch GA 1986, 533.
[11] BayObLG NJW 1991, 2031; BGHSt 5, 245; BGH GA 1965, 148.
[12] BGH GA 1969, 117; BGH NJW 1969, 802; krit. Engels GA 1982, 109; Frister GA 1988, 308.
[13] Zum Ganzen Joecks, StGB, 8.Auflage (2008), § 32 Rn. 18 ff.
[14] Hirsch in Festschrift für Dreher (1977), S. 211, 217; Jescheck/Weigend, 5. Aufl. (1996), § 32 III 3a.
[15] Roxin a.a.O. (Fn. 4), § 15 Rn. 69.
[16] Die Weite des Begriffs lässt sich an zwei Beispielen illustrieren: So könnte bereits sozialadäquates Verhalten, nämlich das Betreten eines Armutsviertels mit Statussymbolen als "Provokation" gewertet werden. Ebenso könnte sogar eine Flucht des Opfers, als "Provokation" empfunden werden, verfolgt und gestellt zu werden. Dass dies im Ergebnis nicht richtig sein kann, liegt auf der Hand; die Konkretisierung echter "Provokationen" dagegen ist umso schwerer.
[17] BGH NJW 1983, 2267, BGH JR 1984, 206; JuS 1984, 340; BGH NStZ 2001, 143; BGH NStZ 2006, 332 = HRRS 2005 Nr. 873; MDR 1954, 335; Joecks (Fn.13), § 32 Rn. 19.
[18] Wegen der kaum nachweisbaren "Absicht" ist die Fallgruppe in der Praxis nicht existent, vgl. Roxin StV 2006, 234.
[19] Dagegen ist eine Strafbarkeitsbegründung über die Grundsätze der actio illicita in causa abzulehnen; nach dieser Lehre wären zwar die Notwehrhandlungen in der konkreten Situation gerechtfertigt, allerdings käme man eventuell zu einer fahrlässigen Körperverletzung gem. § 229 StGB durch die Tathandlung des Provozierens, als bspw. Beleidigens(!). Nur dies bliebe dann nämlich als Anknüpfungspunkt für ein strafbares Verhalten, das letztlich zur Verletzung des Angreifers führt. Die Lehre von der actio illicita in causa sieht sich der gleichen Kritik wie die actio libera in causa ausgesetzt: sie steht im Widerspruch mit dem im Strafrecht verankerten Simultanitätsprinzip, vgl. § 16 StGB und ist daher nicht mit dem Bestimmtheitsgrundsatz gem. Art.103 II GG vereinbar, vgl. hierzu Baumann MDR 1962, 349 f.
[20] Kühl Jura 1991, 175, 178; Lenckner JR 1984, 206.
[21] BGH NJW 1983, 2267; BGH NStZ 2001, 143.
[22] BGH 5 StR 141/09, Beschluss vom 25.07.2009 = HRRS 2009 Nr. 700; BGHSt 42, 97.
[23] Roxin a.a.O. (Fn.4), § 15 Rn.72; BGH StV 1996, 87; vgl. hierzu auch den bekannten "Zugfensterfall" BGHSt 42, 97; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 39. Auflage (2009), Rn.349.
[24] Rosenau in Satzger/Schmitt/Widmaier (Fn. 3), § 32 Rn. 45.
[25] BGH NStZ 2003, 420, 421; BGHSt 39, 374, 379.
[26] BGH NStZ 2001, 143, 144; NStZ 1989, 113; BGHSt 24, 356, 356; BGHSt 26, 143, 145.
[27] Cramer in Schönke/Schröder (Fn. 9), § 32 Rn. 59 a.E.
[28] Zum Begriff der Provokation als Rechtsbegriff Schöneborn NStZ 1981, 201, 203; Schünemann JuS 1979, 275.
[29] BGH NJW 2003, 1955, 1960.
[30] Rosenau in Satzger/Schmitt/Widmaier (Fn. 3), § 32 Rn. 47.
[31] zur provozierten Nothilfe siehe Rönnau/Hohn in Leipziger Kommentar (Fn. 1), § 32 Rn. 259; Cramer in Schönke/Schröder (Fn. 9), § 32 Rn. 61a.