HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 68
Bearbeiter: Stephan Schlegel
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2299/09, Beschluss v. 16.01.2010, HRRS 2010 Nr. 68
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 2. Juni 2009 - (2) 4 Ausl. A 22/08 (152 und 153/09) OLG Hamm - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit in ihm die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Strafverfolgung für zulässig erklärt wird. Der Beschluss wird insoweit aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 17. September 2009 - (2) 4 Ausl. A 22/08 (338/09) OLG Hamm - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit die Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die Zulässigkeit der Auslieferung zurückgewiesen worden sind. Der Beschluss wird insoweit aufgehoben.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zulässigkeit der Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung an die Republik Türkei wegen Staatsschutzdelikten bei drohender Verurteilung zu einer sogenannten erschwerten lebenslänglichen Freiheitsstrafe.
Der Beschwerdeführer besitzt die türkische Staatsangehörigkeit. Unter Bezugnahme auf einen Haftbefehl des Schwurgerichts zu D. vom 28. November 2007 ersuchte die türkische Regierung um seine Auslieferung. Ihm wird vorgeworfen, als Gebietsverantwortlicher der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für die Region E. die Ausführung eines Bombenanschlags auf den Gouverneur von B. am 5. April 1999 durch ein Mitglied der PKK, den T..., beschlossen und angeordnet zu haben. Bei diesem Bombenattentat kamen T... und eine weitere Person ums Leben; weitere 14 Personen, darunter Polizeibeamte, wurden verletzt.
Mit Beschluss vom 13. Januar 2009 ordnete das Oberlandesgericht Hamm die förmliche Auslieferungshaft gegen den Beschwerdeführer an. Dieser wurde am 2. April 2009 festgenommen und befindet sich seitdem in Auslieferungshaft. Der Beschluss wurde dem Verfolgten am 2. April 2009 durch den Richter des Amtsgerichts Bochum verkündet.
Mit Beschluss vom 2. Juni 2009 erklärte das Oberlandesgericht Hamm die Auslieferung des Verfolgten in die Türkei zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der ihm mit Anklage der Oberstaatsanwaltschaft der Republik bei dem staatlichen Sicherheitsgericht zu D. vom 28. November 2007 und dem hierauf gestützten Haftbefehl des Schwurgerichts zu D. vom 28. November 2007 zur Last gelegten Straftaten für zulässig und ordnete die Fortdauer der Auslieferungshaft an. Bedenken gegen das in der Türkei zu erwartende Strafverfahren gegen den Verfolgten ergäben sich nicht. Die türkischen Behörden hätten zugesichert, dass die Rechte und Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention gewahrt würden. Die gemäß Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards sowie die unabdingbaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung stünden einer Auslieferung nicht entgegen.
Mit Schriftsatz vom 26. Juni 2009 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag nach § 33 Abs. 1 IRG und verband damit die Anhörungsrüge. Er rügte unter anderem mit näheren Ausführungen die Verletzung rechtlichen Gehörs dadurch, dass ihm das Oberlandesgericht Hamm den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft vom 19. Mai 2009 vor seiner Entscheidung nicht zur Kenntnis gebracht habe, in dem diese beantragt hatte, die Auslieferung des Verfolgten in die Türkei für zulässig zu erklären.
Mit Beschluss vom 24. August 2009 wies das Oberlandesgericht Hamm einen Antrag des Beschwerdeführers, den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht R... wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, als unbegründet zurück.
Mit Beschluss vom 17. September 2009 wies das Oberlandesgericht Hamm die Anhörungsrüge sowie die Einwendungen des Verfolgten gegen die Zulässigkeit der Auslieferung zurück. Aus der fehlenden Übersendung der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 19. Mai 2009 zur Kenntnisnahme und eventuellen Stellungnahme ergebe sich keine Gehörsverletzung. Der Verfolgte habe im Rahmen seiner mündlichen Anhörung vor dem Amtsgericht Bochum am 29. April 2009 Gelegenheit zur Stellungnahme und damit hinreichend rechtliches Gehör gehabt. Überdies sei es, so das Oberlandesgericht Hamm wörtlich: "im Auslieferungsverfahren - wie in jedem anderen Haftbefehlsverfahren - nicht vorgesehen, dass den Verfolgten die jeweiligen Antragsschriften der Generalstaatsanwaltschaft vor der Beschlussfassung durch den Senat zur Kenntnisnahme und eventuellen Stellungnahme übermittelt werden".
Der von dem Verfolgten erhobene Einwand, ihm drohe im Falle seiner Verurteilung eine sogenannte erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe bis zum Tod, ohne dass die Möglichkeit einer bedingten Strafaussetzung beziehungsweise vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug bestünde, greife nicht durch. Die Auslieferung verstoße nicht gegen unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung. Nach der Auskunft des Bundesamtes für Justiz vom 30. Juni 2009 habe die Botschaft der Republik Türkei mitgeteilt, dass nach Art. 104 der türkischen Verfassung der Präsident der Republik als Oberhaupt des Staates das Gnadenrecht ausübe und Strafen aus Gründen dauernder Krankheit, Behinderung und altersbedingt mindern oder erlassen könne.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG.
Das Oberlandesgericht habe seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG dadurch verletzt, dass es den Antrag der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft vom 19. Mai 2009 nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt habe.
Wesentliches Zulässigkeitshindernis sei, dass nach einer Auslieferung das Verfahren gegen ihn nach Maßgabe von Art. 302 des türkischen Strafgesetzbuches durchgeführt werde. Im Falle einer Verurteilung werde er daher zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden. Erschwerung bedeute, dass eine Umwandlung in eine befristete Freiheitsstrafe nicht zulässig sei, eine bedingte Entlassung sei danach ausgeschlossen. Die Gefangenen blieben bis zu ihrem physischen Ableben im Strafvollzug. Diese Form der lebenslangen Freiheitsstrafe sehe das Gesetz bei Vergehen gegen die Staatssicherheit (Art. 302 - 304, 307 und 308 des türkischen Strafgesetzbuches) und gegen die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 309 - 315 des türkischen Strafgesetzbuches) vor.
Das Bundeskanzleramt, das Bundesministerium der Justiz und das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang statt.
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, das gilt namentlich für den Umfang der fachgerichtlichen Pflicht zu prüfen, inwieweit Auslieferungen mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind (vgl. BVerfGE 50, 205 <214 f.>; 75, 1 <16>; 113, 154 <162 ff. > stRspr).
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, soweit sie sich gegen die Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft im Beschluss des Oberlandesgerichts vom 2. Juni 2009 sowie gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 24. August 2009 richtet. Der Vortrag des Beschwerdeführers genügt insoweit nicht den Darlegungsanforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG, da ihm keine substantiierte Begründung beigegeben ist.
Die angegriffene Entscheidung über die Anhörungsrüge im Beschluss vom 17. September 2009 ist vorliegend kein tauglicher Beschwerdegegenstand. Die Entscheidung, mit der das Oberlandesgericht die Anhörungsrüge zurückweist, schafft keine eigenständige Beschwer, sondern lässt eine durch die Ausgangsentscheidung eingetretene Verletzung rechtlichen Gehörs fortbestehen, indem eine "Selbstkorrektur" durch das Fachgericht unterbleibt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Juli 2007 - 2 BvR 496/07 -, NStZ-RR 2007, S. 381 f.).
Die Auslieferung bei drohender Verhängung einer sogenannten erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verstößt gegen unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, soweit diese erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe so ausgestaltet ist, dass sie nicht lediglich eine Strafaussetzung zur Bewährung gesetzlich ausschließt, sondern auch die bloß theoretische Möglichkeit einer späteren Begnadigung unter die rechtliche Bedingung dauernder Krankheit, Behinderung oder des Alters stellt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die deutschen Gerichte von Verfassungs wegen gehalten, im Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind (vgl. BVerfGE 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <19>; 108, 129 <136>; 113, 154 <162>).
a) Zu den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen zählt der Kernbereich des aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Den zuständigen Organen der Bundesrepublik Deutschland ist es danach verwehrt, einen Verfolgten auszuliefern, wenn die Strafe, die ihm im ersuchenden Staat droht, unerträglicher Art ist, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint. Tatbestand und Rechtsfolge müssen sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 50, 205 <214 f.>; 75, 1 <16> ; stRspr). Ebenso zählt es wegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, dass eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein darf. Die zuständigen Organe der Bundesrepublik Deutschland sind deshalb gehindert, an der Auslieferung eines Verfolgten mitzuwirken, wenn dieser eine solche Strafe zu gewärtigen oder zu verbüßen hat (vgl. BVerfGE 75, 1 <16 f.>; 108, 129 <136 f.>; 113, 154 <162>).
Die unabdingbaren Grundsätze sind allerdings noch nicht verletzt, wenn die zu vollstreckende Strafe lediglich als in hohem Maße hart anzusehen ist und bei einer strengen Beurteilung anhand deutschen Verfassungsrechts nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte. Der Schutz eines rechtsstaatlichen, von der Achtung der Würde des Menschen bestimmten Kernbereichs kann im völkerrechtlichen Verkehr nicht identisch sein mit den innerstaatlichen Rechtsauffassungen. Das Grundgesetz geht von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft aus. Es gebietet damit, insbesondere im Rechtshilfeverkehr Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (vgl. BVerfGE 75, 1 <16 f.>; 108, 129 <137>; 113, 154 <162 f.>), auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen. Sofern der in gegenseitigem Interesse bestehende zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr erhalten und auch die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung unangetastet bleiben soll, dürfen deutsche Gerichte nur die Verletzung der unabdingbaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung als unüberwindbares Hindernis für eine Auslieferung zugrunde legen. Deshalb lässt sich das Gericht im Hinblick auf die Verhängung und den Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht von der inzwischen in Deutschland gesetzlich ausgeprägten Verfahrenspraxis der regelmäßigen Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach fünfzehn Jahren verbüßter Strafe (§ 57a StGB) leiten. Eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung stellt als solche keine unerträglich harte oder unmenschliche Strafe dar, die einer Auslieferung entgegensteht, wie das Bundesverfassungsgericht für den Fall einer Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika bei dort drohender Verurteilung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe ("imprisonment in the state prison for life without the possibility of parole") entschieden hat (vgl. BVerfGE 113, 154 <163 f.>).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört es zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden (BVerfGE 45, 187 <229 und Leitsatz 3 Satz 1>; 113, 154 <164>). Es ist danach mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar, wenn ein Verurteilter in der Strafhaft ungeachtet seiner persönlichen Entwicklung jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben muss (vgl. BVerfGE 45, 187 <245>). Dies gilt auch im Falle einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe und der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, wenngleich im Einzelfall - verfassungsrechtlich unbedenklich - lebenslange Freiheitsstrafen tatsächlich auch bis zum Lebensende vollstreckt werden können (vgl. BVerfGE 64, 261 <272>). Fallgestaltungen, die es strikt verwehrten, dem innerlich gewandelten, für die Allgemeinheit ungefährlich gewordenen Gefangenen auch nach sehr langer Strafverbüßung, selbst im hohen Lebensalter, die Wiedergewinnung der Freiheit zu gewähren, und ihn damit auch von vornherein zum Versterben in der Haft verurteilten, sind dem Strafvollzug unter der Herrschaft des Grundgesetzes allerdings grundsätzlich fremd (vgl. BVerfGE 64, 261 <272>; 113, 154 <164>; zu den besonderen Umständen der Sicherungsverwahrung und den aus dem hohen Rang des Freiheitsrechts folgenden besonderen Anforderungen an das regelmäßige Überprüfungsverfahren des Fortbestands des Sicherungsinteresses, vgl. BVerfGE 117, 71 <102 f.>).
Für den Strafvollzug im Geltungsbereich des Grundgesetzes genügt zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Institut der Begnadigung allein nicht, um die verfassungsrechtlich unaufgebbare Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit in einer Weise abzusichern, die rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht. Vielmehr folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip für die Strafvollstreckung in Deutschland das Erfordernis einer gerichtlich kontrollierbaren und kontrollierten Entlassungspraxis. Die Voraussetzungen, unter denen die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann, und das dabei anzuwendende Verfahren sind gesetzlich zu regeln (vgl. BVerfGE 45, 187 <243 ff. und Leitsatz 3 Satz 2>). Im Auslieferungsverkehr mit dem ersuchenden Staat kommt es demgegenüber nur darauf an, dass in dessen Rechtssystem jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht. Verfahrensrechtliche Einzelheiten, mit denen diese praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit in Deutschland verstärkt und gesichert wird, müssen dafür nicht erfüllt werden. Sie gehören nicht zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung (vgl. BVerfGE 113, 154 <165>).
b) Eine Strafe ist allerdings auch unter Berücksichtigung des im völkerrechtlichen Verkehr grundsätzlich gebotenen Respekts vor einer fremden Rechtsordnung dann grausam und erniedrigend, wenn sie ohne hinreichende praktische Aussicht - sei es in einem den Gerichten anvertrauten oder in einem grundsätzlich erfolgversprechenden Gnadenverfahren - auf Wiedererlangung der Freiheit regelmäßig bis zum Tod vollstreckt wird. Die aus der Würde des Menschen und dem Rechtsstaatsprinzip folgenden unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze können insofern auch dann verletzt sein, wenn in einer Rechtsordnung nur bei schweren Gebrechen oder bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung des Häftlings von der weiteren Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstafe bis zum Tod abgesehen werden kann. Die gilt jedenfalls, wenn auch bei Vorliegen dieser Umstände die Wiedererlangung der Freiheit ungewiss bleibt, weil der Häftling nur auf den Gnadenweg hoffen kann.
Im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den menschenwürdigen Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe ist die Auslieferung des Beschwerdeführers wegen drohender erschwerter lebenslanger Freiheitsstrafe unzulässig, jedenfalls bei einer Ausgestaltung und Handhabung dieser Strafe, die nach den bisherigen Feststellungen des Oberlandesgerichts möglich ist. Die Auslieferung des Beschwerdeführers würde gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze für die Vollziehung einer lebenslangen Freiheitsstrafe verstoßen.
Das Oberlandesgericht hat zu dem Gesichtspunkt der fehlenden Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgeführt, dass der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte zumindest die Chance haben müsse, wieder die Freiheit erlangen zu können. Dies sei beim Beschwerdeführer der Fall. Nach Auskunft des Bundesamtes für Justiz vom 30. Juni 2009 habe die Botschaft der Republik Türkei mitgeteilt, dass nach Art. 104 der türkischen Verfassung der Präsident der Republik als Oberhaupt des Staates das Gnadenrecht ausübe und Strafen aus Gründen dauernder Krankheit, Behinderung und altersbedingt mindern oder erlassen könne. Damit habe der Verfolgte grundsätzlich die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug. Dass dies nur unter eingeschränkten Voraussetzungen möglich sei, müsse als der türkischen Rechtsordnung immanent hingenommen werden und führe zu keiner anderen Beurteilung.
Diese Ausführungen halten verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
Das Oberlandesgericht hat zwar mit Blick auf die sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Anforderungen an den menschenwürdigen Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe geprüft, ob für den Beschwerdeführer eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht. Es hat dies aber zu Unrecht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bejaht. Dies führt zu einem Verfassungsverstoß, auch wenn berücksichtigt wird, dass sowohl die Ermittlung des Sachverhalts als auch Anwendung des einfachen Rechts Aufgaben des zuständigen Fachgerichts sind (vgl. BVerfGE 108, 129 <137>; 113, 154 <166>).
Soweit das Oberlandesgericht die praktische Möglichkeit auf Wiedererlangung der Freiheit darin sieht, dass nach Art. 104 der türkischen Verfassung der Präsident der Republik als Oberhaupt des Staates das Gnadenrecht ausüben und Strafen aus Gründen dauernder Krankheit, Behinderung und altersbedingt mindern oder erlassen könne, vermag dies keine Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit im Sinne der unabdingbaren Grundsätze der deutschen Verfassungsordnung zu begründen. Die Frage, ob eine solche praktische Chance eröffnet ist, lässt sich nicht schematisch damit beantworten, dass irgendeine Form von Gnadenrecht vorgesehen ist. Vielmehr kommt es in jedem Einzelfall auf eine Gesamtbeurteilung der Ausgestaltung des jeweiligen Strafvollzugs an. Von entscheidender Bedeutung sind mögliche persönlichkeitszerstörende Wirkungen der Strafhaft, denen durch einen menschenwürdigen Strafvollzug begegnet werden muss (vgl. BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 36, 174 <188>; 40, 276 <284>; 45, 187 <245>). Prinzipiell mildert dabei die - wenn auch nur unsichere - Hoffnung auf eine möglicherweise vorzeitige Entlassung die mit der Strafhaft verbundenen psychischen Belastungen ab (vgl. BVerfGE 113, 154 <167>). Vorliegend ist insoweit ausschlaggebend, dass die bisherigen Feststellungen des Oberlandesgerichts nicht ausschließen, dass der Ausübung des Gnadenrechts nach Art. 104 der türkischen Verfassung in jedem Fall ein unumkehrbarer physischer Verfallsprozess vorauszugehen hat. Diese spezifische Bedingung nimmt einem Verurteilten - ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit - jegliche Hoffnung auf ein späteres selbstbestimmtes Leben in Freiheit (vgl. BVerfGE 45, 187 <245>). Das konkret in Rede stehende Gnadenrecht eröffnet damit keine wenigstens vage Aussicht auf ein Leben in Freiheit, die den Vollzug der lebenslangen Strafe nach dem Verständnis der Würde der Person überhaupt erst erträglich macht (dazu BVerfGE 45, 187 <245>), mithin den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung genügt: Es lässt den Verurteilten günstigstenfalls darauf hoffen, in Freiheit zu sterben.
Der Unzulässigkeit der Auslieferung steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 6. Juli 2005 (BVerfGE 113, 154), auf den sich das Oberlandesgericht bezieht, die Auslieferung bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung für mit dem Grundgesetz vereinbar hielt. Der dort entschiedene Fall lag insoweit anders, als das einschlägige Gnadenrecht keinerlei tatbestandliche Einschränkungen enthielt. Die praktische Chance des Verurteilten, seine Freiheit wiederzuerlangen, war damit - anders als in der vorliegenden Konstellation - nicht von vornherein in hoffnungsloser Weise versperrt (vgl. BVerfGE 113, 154 <167>).
Da die angegriffenen Beschlüsse vom 2. Juni 2009 und 17. September 2009 den Beschwerdeführer bereits in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzen, kann die Frage, ob auch die anderen vom Beschwerdeführer gerügten Grundrechtsverletzungen vorliegen, unbeantwortet bleiben. Indes hält die Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Hamm, wonach es genüge, dass dem Beschwerdeführer im Rahmen der amtsrichterlichen Vernehmung (§ 21, § 23 IRG bzw. § 28 IRG) rechtliches Gehör gewährt wurde, verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG scheidet nicht deshalb aus, weil der Beschwerdeführer sich in einem früheren Stadium des Verfahrens hat äußern können und geäußert hat. Denn das Grundrecht auf rechtliches Gehör erschöpft sich nicht darin, einem Betroffenen die Gelegenheit zu gewährleisten, dass er im Verfahren überhaupt gehört wird, sondern gewährleistet die Gelegenheit, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern, also grundsätzlich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite (vgl. BVerfGE 19, 32 <36>; 49, 325 <328>). Daraus folgt unter anderem, dass ein am Verfahren Beteiligter nicht verpflichtet ist, von sich aus nachzuforschen, ob von den übrigen Verfahrensbeteiligten Schriftsätze eingereicht oder Anträge gestellt worden sind (vgl. BVerfGE 17, 194 <197>; 50, 381 <385>; 64, 135 <144>). Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet die Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, dass das Gericht dem Beteiligten Gelegenheit geben muss, sich zum Gegenstand des Verfahrens sowie zum Verfahren selbst - insbesondere auch zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen, zum Vortrag der übrigen Beteiligten, zu Ergebnissen sowie entscheidungserheblichen Rechtsfragen - sachgemäß, zweckentsprechend und erschöpfend zu erklären (vgl. BVerfGE 50, 280 <284>; 50, 381 <384>; 89, 28 <35>).
Die Beschlüsse sind in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 Alternative 1, Abs. 3 BVerfGG.
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 68
Bearbeiter: Stephan Schlegel