HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 66
Bearbeiter: Stephan Schlegel
Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 2717/08, Beschluss v. 17.11.2009, HRRS 2010 Nr. 66
1. Das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 4. Juni 2008 - (331 OWi) 3091 PLs 918/08 (262/08) Umw - verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
2. Der Beschluss des Kammergerichts vom 12. September 2008 - 2 Ss 228/08 - 1 Ws (B) 315/08 - wird damit gegenstandslos. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
3. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
4. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Festsetzung einer Geldbuße wegen einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 des Landes-Immissionsschutzgesetzes Berlin (LImSchG Bln).
1. Der Beschwerdeführer bewohnt mit seiner Frau und sechs gemeinsamen Kindern zur Miete ein Reihenhaus in Berlin. Nach dem Beschwerdevorbringen sind alle Mitglieder der Familie "musikbegeistert, einige praktizierende Musiker". Die Tochter des Beschwerdeführers spielt Klavier, nahezu jeden Tag übt sie am späten Nachmittag für etwa eine Stunde.
Nach den Feststellungen des angegriffenen Urteils spielte die damals sechzehnjährige Tochter des Beschwerdeführers am Sonntag, dem 3. Februar 2008, zu Übungszwecken bis gegen 19:00 Uhr etwa eine Stunde lang Präludien und Französische Suiten von Bach am Klavier. Der Nachbar des Beschwerdeführers, Herr R., fühlte sich hierdurch gestört und rief nach einer halben bis einer dreiviertel Stunde die Polizei zum Ort. Er will das Klavierspiel zwar wochentags, nicht aber an Sonntagen hinnehmen. Der Polizeibeamte K. konnte bei seinem Erscheinen die Klaviermusik in der Wohnung des Herrn R. deutlich wahrnehmen und empfand diese ebenfalls als belästigend, sofern es sich nicht um einen kurzfristigen Einzelfall handeln sollte. Nachdem der Polizeibeamte sich entfernt hatte, spielte die Tochter des Beschwerdeführers nochmals für circa eine Viertelstunde weiter am Klavier.
Das Bezirksamt setzte mit Bußgeldbescheid vom 4. März 2008 gegen den Beschwerdeführer wegen einer vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit gemäß § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln ein Bußgeld von 75 € fest. Gemäß § 4 LImSchG Bln ist es an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen verboten, Lärm zu verursachen, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 4 LImSchG Bln ohne eine zugelassene Ausnahme nach § 10 LImSchG Bln oder eine Genehmigung nach § 11 LImSchG Bln Lärm verursacht, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird.
Gegen den Bußgeldbescheid erhob der Beschwerdeführer Einspruch. Mit Urteil des Amtsgerichts vom 4. Juni 2008 wurde gegen ihn unter Feststellung des geschilderten Sachverhalts gemäß den vorgenannten Vorschriften eine Geldbuße von 50 € festgesetzt. Die Sachverhaltsfeststellung beruhe auf der weitgehend geständigen Einlassung des Beschwerdeführers, den damit übereinstimmenden Aussagen der Zeugen R. und K. sowie der Inaugenscheinnahme des Fotos des Raumes mit dem Klavier. Der Beschwerdeführer habe mit der am Tattag für circa eine Stunde erfolgten Klaviermusik entgegen § 4 LImSchG Bln an einem Sonntag zugelassen, dass Lärm verursacht werde, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört werde. Das Gericht verkenne dabei nicht, dass schon nach dem Wortlaut des § 4 LImSchG Bln, der eine Erheblichkeit der Störung verlange, die Klaviermusikübungen objektiv störend gewesen sein müssten. Demgemäß entspreche es der ständigen Rechtsprechung des Gerichts, dass sich allein aufgrund der Angaben nur eines Hausbewohners, nur einer Mietpartei, nur eines Nachbarn diese objektive Feststellung nicht sicher treffen lasse. Hier sei es aber nicht nur der Nachbar des Beschwerdeführers, der die Musikübungen als störend empfunden habe, sondern auch der Polizeibeamte K., dessen Angaben auch schon deshalb besondere Bedeutung hätten, weil er in den offenbar bestehenden Nachbarschaftsstreit in keiner Weise verwickelt sei. Der Wand an Wand zum Nachbarn gelegene Ort, wo das Klavierspiel stattfinde, erscheine als wenig geeignet für die regelmäßigen Klavierübungen der Tochter. An solchen ungeeigneten Orten sei stundenlanges Klavierspiel in Berlin nicht erlaubt. Dass gerade auch die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen seien, sei in Ziffer 4 Abs. 2 der Ausführungsvorschriften zum Landes-Immissionsschutzgesetz Berlin ausdrücklich vorgesehen. Der Beschwerdeführer könne sich auch nicht darauf berufen, dass hier ein Klavierspielen von täglich einer Viertelstunde bis zu einer halben Stunde auch in schlecht isolierten Wohnungen noch nicht als objektiv störend einzuordnen sein werde, da dieser zeitliche Rahmen hier gesprengt worden sei. Ob sich für Hausmusik im Rahmen der Sozialadäquanz hier eine andere Beurteilung der Rechtslage ergeben würde oder ob auch bei Hausmusik die Immissionen stets durch die Benutzung von Schalldämpfern zu begrenzen seien, könne hier dahinstehen. Die regelmäßigen Klavierübungen der Tochter des Beschwerdeführers ließen sich jedenfalls nicht mehr unter dem Begriff der Hausmusik einordnen.
Der hiergegen gerichtete Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wurde mit Beschluss des Kammergerichts vom 12. September 2008 verworfen.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer unmittelbar den Bußgeldbescheid und die gerichtlichen Entscheidungen sowie mittelbar § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln an. Er rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 2, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG.
Art. 103 Abs. 2 GG sei verletzt, weil die Rechtsanwendung durch das Amtsgericht über den Inhalt der gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgehe. Klavierspiel und Musizieren generell stellten keinen Lärm im Sinne des Landes-Immissionsschutzgesetzes dar. Zudem verzichte die Berliner Rechtspraxis auf jeden nachprüfbaren Versuch, mit dessen Hilfe bestimmt werde, ob das Klavierspiel ruhestörend sei. Nach der Interpretation der Berliner Behörden liege ein Verstoß gegen das Gesetz vor, wenn ein beliebiger Bürger behaupte, das Klavierspiel störe ihn in seiner Ruhe erheblich und wenn ein herbeigerufener Polizist behaupte, das stimme. Die angegriffenen Entscheidungen seien auch mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar. Der Beschwerdeführer wolle das in musikalischen Wettbewerben erwiesene pianistische Talent seiner Tochter fördern und sie zu einer auch musikalisch gebildeten Person erziehen. Dazu diene, dass er seine Tochter zum Üben am Klavier anhalte, sie zu häuslichen Konzerten ermuntere und sie musiktheoretisch unterrichte. Ziel und Mittel fielen in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben der Landesmusikrat Berlin e.V. und der Deutsche Tonkünstlerverband Berlin e. V. Stellung genommen. Sie halten das angegriffene Urteil des Amtsgerichts angesichts des hohen kulturellen und gesellschaftlichen Werts der Musikausübung für unvertretbar.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit der Beschwerdeführer das Urteil des Amtsgerichts vom 4. Juni 2008 angreift (1.). Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Bußgeldbescheid vom 4. März 2008 richtet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen (2.).
1. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG liegen vor, soweit der Beschwerdeführer das Urteil des Amtsgerichts vom 4. Juni 2008 angreift.
Die für die Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Rechtsfragen betreffend den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. etwa BVerfGE 71, 108 <114 ff.>; 73, 206 <234 ff.>; 75, 329 <340 ff.>; 78, 374 <381 f.>; 92, 1 <16 ff.> ). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist im dargelegten Umfang zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 2 GG angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und offensichtlich begründet. Die Anwendung von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln durch das Amtsgericht ist mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar.
a) Die mittelbar angegriffenen Regelungen von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln sowie das hierauf beruhende Urteil des Amtsgerichts müssen sich am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen.
Zwar gelten für die verwaltungsrechtliche Vorschrift des § 4 LImSchG Bln als solche grundsätzlich nur die Anforderungen des allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 3 GG). Ihre Auslegung und ihre Anwendung im Einzelfall müssen die der richterlichen Rechtsfindung allgemein gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen wahren (vgl. hierzu etwa BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 79, 292 <303>; 82, 6 <13>; 111, 54 <81 f.>).
Art. 103 Abs. 2 GG erfasst insbesondere Straf- und Bußgeldtatbestände (vgl. BVerfGE 81, 132 <135>; 87, 399 <411>). Legt eine Sanktionsnorm - wie § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln - das bewehrte Verhalten nicht selbst fest, sondern verweist sie auf eine verwaltungsrechtliche Vorschrift, müssen beide Vorschriften in ihrer Gesamtheit sowie ihre Auslegung und Anwendung im Einzelfall den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG genügen (vgl. zu derartigen "Blanketttatbeständen" BVerfGE 75, 329 <340 ff.>; 87, 399 <407>; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 208 <Bearbeitungsstand Dezember 1992>).
b) aa) Art. 103 Abs. 2 GG enthält - neben dem hier nicht zu erörternden Rückwirkungsverbot - ein besonderes Bestimmtheitsgebot. Der Gesetzgeber ist danach verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit oder Bußgeldbewehrung so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Sie soll einerseits sicherstellen, dass die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Sie soll andererseits gewährleisten, dass der Gesetzgeber über die Strafbarkeit oder die Bußgeldvoraussetzungen entscheidet. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung oder einer Verhängung von Geldbußen festzulegen (vgl. BVerfGE 78, 374 <382>; BVerfGK 11, 337 <349>).
Das schließt allerdings nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die der Deutung durch den Richter bedürfen. Auch im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht steht der Gesetzgeber vor der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen. Ferner ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Straf- und Bußgeldnormen unvermeidlich, dass in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Jedenfalls im Regelfall muss der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar oder bußgeldbewehrt ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise wenigstens das Risiko einer Ahndung erkennbar (vgl. BVerfGE 71, 108 <114 f.>; 78, 374 <381 f.>; 92, 1 <12>; stRspr).
bb) Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung oder Bußgeldbewehrung. Dabei ist "Analogie" nicht nur im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in der Norm zum Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in dem sie steht. Dabei kommt im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht der grammatikalischen Auslegung eine herausgehobene Bedeutung zu; hier zieht der Wortsinn einer Vorschrift die unübersteigbare Grenze. Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Straf- oder Bußgeldgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will (vgl. BVerfGE 71, 108 <114 ff.>; 73, 206 <234 ff.>; 92, 1 <11 ff.>; 105, 135 <157>).
c) Gemessen hieran verletzt das angegriffene Urteil den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG. Es kann dabei offen bleiben, ob der aus § 4 und § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln zusammengesetzte Ordnungswidrigkeitentatbestand als solcher dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genügt (aa). Während dies im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal des "Lärms" zu bejahen ist, bedürfte die Frage der hinreichenden Bestimmtheit des Tatbestandsmerkmals der "erheblichen Ruhestörung" der eingehenden verfassungsrechtlichen Prüfung. Eine solche ist vorliegend jedoch nicht veranlasst, da der Verfassungsbeschwerde stattzugeben ist, ohne dass es auf die Verfassungsmäßigkeit von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln ankäme. Denn jedenfalls hat das Amtsgericht die Vorschriften in einer Weise angewendet, die mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar ist (bb).
aa) Es kann dahinstehen, ob der aus § 4 und § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln zusammengesetzte Ordnungswidrigkeitentatbestand als solcher den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügt.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers begegnet zwar der in § 4 LImSchG Bln enthaltene und von § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln in Bezug genommene Begriff des "Lärms" im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Ob dies auch für das Tatbestandsmerkmal der "erheblichen Ruhestörung" gilt, bedürfte der eingehenden verfassungsrechtlichen Überprüfung.
§ 4 LImSchG Bln definiert den Begriff der "erheblichen Ruhestörung" nicht. Auch die Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs mit § 3 und § 5 LImSchG Bln gibt insoweit keinen Aufschluss. In der Gesetzesbegründung wird allerdings ausgeführt, Störungen der "Ruhezeiten" seien dann verboten, wenn sie "erheblich" seien. Die Schwelle der Erheblichkeit werde durch "das untergesetzliche Regelwerk zum Bundes-Immissionsschutzgesetz" bestimmt (vgl. Abgeordnetenhaus Berlin, Drucksache 15/3583, S. 11). Es liegt daher nahe, eine "erhebliche Ruhestörung" regelmäßig dann anzunehmen, wenn die in dem "untergesetzlichen Regelwerk zum Bundes-Immissionsschutzgesetz" festgelegten Immissionsgrenzwerte beziehungsweise Immissionsrichtwerte überschritten werden. Hiervon gehen mit Blick auf anlagenbedingte Geräuschimmissionen auch Ziffer 3 Abs. 3 und Ziffer 4 Abs. 3 der Ausführungsvorschriften zum Landes-Immissionsschutzgesetz Berlin vom 30. November 2007 (AV LImSchG Bln - ABl Nr. 56 vom 21. Dezember 2007, S. 3263) aus.
Auch wenn der formalgesetzliche Ordnungswidrigkeitentatbestand von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln in dieser Weise ausgelegt wird, lässt sich seine hinreichende Bestimmtheit allerdings nicht ohne weiteres feststellen. Art. 103 Abs. 2 GG verlangt nach dem oben Ausgeführten zwar nicht, dass eine einzige gesetzliche Norm Tatbestand und Rechtsfolge vollständig selbst regeln müsste. Vielmehr darf zur Konkretisierung grundsätzlich auf andere Rechtsvorschriften und Rechtsakte Bezug genommen werden (vgl. BVerfGE 75, 329 <340 ff.>; 78, 374 <382> ; Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 103 Rn. 27 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 198 ff. <Bearbeitungsstand Dezember 1992>; Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 103 Rn. 55 ff.). Ob die in den genannten Entscheidungen entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe, an denen das Bundesverfassungsgericht derartige Normenverbindungen im Strafrecht misst, auf den Ordnungswidrigkeitentatbestand von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln uneingeschränkt übertragbar sind und ob dieser die zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt, lässt sich auch und gerade mit Blick auf das Musizieren in der eigenen Wohnung nicht ohne weiteres beantworten. Diese Fragen, mit denen sich auch die Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht auseinandersetzt, bedürfen im vorliegenden Verfahren jedoch keiner Entscheidung. Wie im Folgenden (II. 1. c) bb)) ausgeführt wird, ist der Verfassungsbeschwerde stattzugeben, ohne dass es auf die Verfassungsmäßigkeit von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln entscheidungserheblich ankäme.
bb) Das Amtsgericht hat § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln jedenfalls in einer Weise angewendet, die mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar ist.
(1) Zwar überschreitet die Auslegung des Amtsgerichts, derzufolge der Begriff des "Lärms" auch das Musizieren in der eigenen Wohnung erfassen kann, nicht den möglichen Wortsinn und den Inhalt des gesetzlichen Ordnungswidrigkeitentatbestandes von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln.
Diese Auffassung, die auch in der Kommentarliteratur zum Begriff des Lärms im Sinne von § 117 OWiG nicht in Zweifel gezogen wird (vgl. Rogall, Karlsruher Kommentar zum OWiG, 3. Aufl. 2006, § 117 Rn. 5 und 26; Göhler, OWiG, 15. Aufl. 2009, § 117 Rn. 3 und 7), wahrt jedenfalls auch die Wortlautgrenze des § 4 LImSchG Bln. Dass das Musizieren in der eigenen Wohnung für die Nachbarschaft belästigenden beziehungsweise ruhestörenden Charakter haben kann, liegt auf der Hand. Im Hinblick auf die Sozialadäquanz gegebenenfalls (verfassungsrechtlich) gebotene Einschränkungen des Tatbestandes ermöglicht angesichts seiner offenen Fassung die Auslegung das Tatbestandsmerkmal der "erheblichen Ruhestörung".
Das angegriffene Urteil verletzt den Beschwerdeführer jedoch insoweit in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG, als unter Zugrundelegung der Auffassung des Amtsgerichts jedenfalls nicht in einer für die Anwendbarkeit des § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln hinreichenden Weise voraussehbar ist, wann das Musizieren in der eigenen Wohnung an Sonn- und Feiertagen eine "erhebliche Ruhestörung" im Sinne von § 4 LImSchG Bln darstellt.
(a) Das Amtsgericht stellt seinen Ausführungen voran, dass eine "erhebliche Störung" nur vorliegen könne, wenn die "Klaviermusikübungen objektiv störend gewesen" seien. Im Übrigen geht es offenbar - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Kammergerichts (vgl. Beschluss vom 30. März 2000 - 2 Ss 53/00 - 5 Ws (B) 177/00 u. a. -, juris) und entsprechend Ziffer 4 Abs. 2 AV LImSchG Bln - davon aus, dass bei verhaltensbedingten Geräuschimmissionen jeder verständige, nicht besonders geräuschempfindliche Mensch feststellen könne, ob eine erhebliche Ruhestörung im Sinne von § 4 LImSchG Bln vorliege. Im Ausgangsverfahren sieht es auf der Grundlage der Aussagen des Nachbarn des Beschwerdeführers und des Polizeibeamten K. eine erhebliche Ruhestörung durch das sonntägliche Klavierspiel als erwiesen an. Diese Rechtsanwendung verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG.
Das Amtsgericht unternimmt keinen Versuch, den normativen Gehalt des auslegungsbedürftigen gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der "erheblichen Ruhestörung" zu erfassen und dieses (auch) im Hinblick auf das Musizieren in der eigenen Wohnung begrifflich zu präzisieren. Es beschränkt sich insoweit auf den "Obersatz", die Klaviermusik müsse "objektiv störend" gewesen sein.
Darüber hinausgehende Vorgaben zu dem Maß der auch an Sonn- und Feiertagen erlaubten Musikausübung - etwa im Hinblick auf Lautstärke und Dauer - lassen sich den Ausführungen des Amtsgerichts nicht entnehmen. Das Amtsgericht führt zwar aus, der Wand an Wand zum Nachbarn gelegene Ort, wo das Klavierspiel der Tochter des Beschwerdeführers stattfinde, erscheine als wenig geeignet für die regelmäßigen Klavierübungen. An solchen ungeeigneten Orten sei "stundenlanges" Klavierspiel in Berlin nicht erlaubt. Wie diese Feststellung im Kontext des § 4 LImSchG Bln zu bewerten ist, bleibt jedoch unklar. Offenbar nimmt sie auch die unter der Woche stattfindenden Klavierübungen der Tochter des Beschwerdeführers in den Blick, die jedoch nicht in den Anwendungsbereich des § 4 LImSchG Bln fallen. Jedenfalls das im Ausgangsverfahren zu beurteilende Klavierspiel der Tochter des Beschwerdeführers am 3. Februar 2008 dauerte nicht "stundenlang", sondern nach den Feststellungen des Amtsgerichts "ca. eine Stunde".
Die Entscheidung, ob darin eine "erhebliche Ruhestörung" im Sinne des § 4 LImSchG Bln liegt, überantwortet das Amtsgericht letztlich dem "unabhängigen Zeugen", in dem angegriffenen Urteil dem Polizeibeamten K.. Es stützt seine Entscheidung nicht nur auf dessen Auskunft über seine Wahrnehmung von Tatsachen, sondern misst offenbar auch seinen rechtlichen Beurteilungen und Wertungen, die nicht Gegenstand des Zeugenbeweises gemäß § 71 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit §§ 48 ff. StPO sein können (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, vor § 48 Rn. 2 f.), entscheidende Bedeutung bei.
Diese Rechtsanwendung zeitigt gerade jene Wirkungen, die zu verhüten Art. 103 Abs. 2 GG bestimmt ist. Sie räumt der zuständigen Behörde erhebliche Spielräume schon bei der Beantwortung der Frage ein, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln vorliegen. Die Ungewissheiten, die den genannten gesetzlichen Vorschriften ohnehin anhaften, werden damit in verfassungswidriger Weise erhöht. Bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Amtsgerichts wird die Entscheidung über die Sanktionswürdigkeit nicht generell-abstrakt durch den Gesetzgeber, sondern durch die vollziehende Gewalt für den konkreten Einzelfall getroffen. Welches Verhalten sanktionsbewehrt ist, ist für den Normadressaten nicht hinreichend erkennbar. Mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG ist dies nicht vereinbar.
(b) Die kategoriale Unterscheidung zwischen (gegebenenfalls) erhöht schutzwürdiger "Hausmusik" und "bloßen" Klavierübungen, die das Amtsgericht in seiner Entscheidung andeutet, ändert an diesem verfassungsrechtlichen Befund nichts.
Sie bringt im Hinblick auf den Regelungsgehalt von § 4, § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln für den Streitfall letztlich keinen Erkenntnisgewinn und erscheint gerade in Zweifelsfällen als Entscheidungskriterium wenig tauglich. Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung der Tatsache, dass auch die Differenzierung zwischen Hausmusik und "Klavierübungen" wie den hier in Frage stehenden weitgehend von der Entscheidung des am Tatort anwesenden unbeteiligten Zeugen abhängen wird.
2. Ob das Urteil des Amtsgerichts gegen die weiteren als verletzt bezeichneten Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG verstößt, kann nach alledem offen bleiben.
3. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Bußgeldbescheid vom 4. März 2008 richtet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen. Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.
Durch den Bußgeldbescheid ist der Beschwerdeführer nicht mehr beschwert. Nach Einlegung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid richtete sich das weitere Verfahren nach den Vorschriften der Strafprozessordnung über den Einspruch gegen einen Strafbefehl (vgl. § 71 Abs. 1 OWiG). Danach hatte das Amtsgericht die Tat selbständig zu beurteilen, ohne auf den Bußgeldbescheid Bezug zu nehmen. Dessen belastende Wirkung entfiel mit dem zulässigen Einspruch, so dass der Beschwerdeführer nur noch durch die gerichtlichen Entscheidungen beschwert wird (vgl. BVerfGE 85, 97 <103 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juli 2004 - 1 BvR 737/00 -, NJW 2004, S. 2662 <2663> m.w.N.).
4. Das Urteil des Amtsgerichts ist aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG). Mit der Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils wird der Beschluss des Kammergerichts gegenstandlos.
5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
6. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365).
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 66
Externe Fundstellen: NJW 2010, 754
Bearbeiter: Stephan Schlegel