HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2009
10. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

127. BGH 1 StR 416/08 – Urteil vom 2. Dezember 2008 (LG Landshut)

BGHSt; Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen (Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt: Sozialrechtsakzessorietät; Berechnung bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen: gezahlte Löhne als Nettoarbeitsentgelt, Schätzung, Fiktion der Nettolohnabrede); Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung (Steuerverkürzung großen Ausmaßes; Verhältnis zum Betrug: Vermögensverlust großen Ausmaßes; Steuerbetrug; Betragsgrenze für eine mögliche Geldstrafe; Indizwirkung und Gesamtwürdigung bei Regelbeispielen); Strafaussetzung zur Bewährung (besonders gewichtige Milderungsgründe).

§ 266a StGB; § 370 Abs. 1, Abs. 3 AO; § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV; § 46 StGB; § 56 StGB; § 407 StPO; § 400 AO

1. Die Berechnung der nach § 266a StGB vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge richtet sich in Fällen illegaler Beschäftigungsverhältnisse nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV. (BGHSt)

2. Zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung. (BGHSt)

3. Das Merkmal „in großem Ausmaß“ des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO ist wie beim Betrug nach objektiven Maßstäben zu bestimmen. Das Merkmal „in großem Ausmaß“ liegt danach nur dann vor, wenn der Hinterziehungsbetrag 50.000 € übersteigt. (Bearbeiter)

4. Der Umstand, dass sich die Betragsgrenze von 50.000 € an derjenigen des Vermögensverlustes großen Ausmaßes im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 1 StGB orientiert, bedeutet zugleich, dass ähnlich wie beim Betrug zwischen einem schon eingetretenem Vermögensverlust und einem Gefährdungsschaden zu differenzieren ist. (Bearbeiter)

5. Die Betragsgrenze von 50.000 € kommt namentlich dann zur Anwendung, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hat, etwa bei Steuererstattungen durch Umsatzsteuerkarusselle, Kettengeschäfte oder durch Einschaltung von sog. Serviceunternehmen. Beschränkt sich das Verhalten des Täters dagegen darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen und führt das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, dann kann das „große Ausmaß“ höher angesetzt werden. Der Senat hält hierbei eine Wertgrenze von 100.000 € für angemessen. (Bearbeiter)

6. Ob die Schwelle des „großen Ausmaßes“ überschritten ist, ist für jede einzelne Tat im materiellen Sinne gesondert zu bestimmen. Dabei genügt derjenige Erfolg, der für die Vollendung der Steuerhinterziehung ausreicht. Der Senat ist der Ansicht, dass bei mehrfacher tateinheitlicher Verwirklichung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung das „Ausmaß“ des jeweiligen Taterfolges zu addieren ist. (Bearbeiter)

7. Jedenfalls bei einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag wird die Verhängung einer Geldstrafe nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen sein. Bei Hinterziehungsbeträgen in Millionenhöhe kommt eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 176, 178). Schon deswegen wird bei der letztgenannten Fallgestaltung (Millionenbetrag) ein Strafbefehlsverfahren regelmäßig nicht geeignet erscheinen (vgl. § 400 AO i.V.m. § 407 StPO). (Bearbeiter)

8. Ein die Indizwirkung des Hinterziehungsbetrages beseitigender Milderungsgrund ist etwa gegeben, wenn sich der Täter im Tatzeitraum im Wesentlichen steuerehrlich verhalten hat und die Tat nur einen verhältnismäßig geringen Teil seiner steuerlich relevanten Betätigungen betrifft. Bedeutsam ist daher das Verhältnis der verkürzten zu den gezahlten Steuern. (Bearbeiter)

9. In die vorzunehmende Gesamtwürdigung ist auch die Lebensleistung und das Verhalten des Täters nach Aufdeckung der Tat einzubeziehen, etwa ein (frühzeitiges) Geständnis, verbunden mit der Nachzahlung verkürzter Steuern oder jedenfalls dem ernsthaften Bemühen hierzu. Der „Schadenswiedergutmachung“ durch Nachzahlung verkürzter Steuern kommt schon im Hinblick auf die Wertung des Gesetzgebers im Falle einer Selbstanzeige (§ 371 AO) besondere strafmildernde Bedeutung zu. (Bearbeiter)

10. Es hat strafschärfende Bedeutung, wenn der Täter besondere Unternehmensstrukturen aufgebaut hat, die auch der Bereicherung durch Steuerhinterziehung dienen sollten, wenn der Täter das Ziel verfolgt hat, das Steueraufkommen durch wiederholte Tatbegehung über einen längeren Zeitraum nachhaltig zu schädigen, wenn er andere Personen verstrickt hat, wenn er systematisch Scheingeschäfte getätigt oder Scheinhandlungen vorgenommen hat (vgl. § 41 Abs. 2 Satz 1 AO) oder wenn er in größerem Umfang buchtechnische Manipulationen vorgenommen oder gezielt durch Einschaltung von Domizilfirmen im Ausland oder Gewinnverlagerungen ins Ausland schwer aufklärbare Sachverhalte geschaffen hat. Solche Umstände sind bei anpassungsfähigen Hinterziehungssystemen, wie etwa den sog. Umsatzsteuerkarussellgeschäften, bei Kettengeschäften unter Einschaltung sog. „Serviceunternehmen“ und im Bereich der illegalen Arbeitnehmerüberlassungen regelmäßig gegeben (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 176, 178). (Bearbeiter)

11. Auch wenn der Hinterziehungsbetrag ein bestimmender Strafzumessungsgrund für die Steuerhinterziehung ist, kann allein dessen Ausmaß für die Strafhöhenbemessung nicht in dem Sinne ausschlaggebend sein, dass die Strafe gestaffelt nach der Höhe des Hinterziehungsbetrags schematisch und quasi „tarifmäßig“ verhängt wird. Jeder Einzelfall ist vielmehr nach den von § 46 StGB vorgeschriebenen Kriterien zu beurteilen. (Bearbeiter)

12. Der Straftatbestand des § 266a StGB ist sozialrechtsakzessorisch ausgestaltet (BGHSt 47, 318 f.; 51, 125, 128 m.w.N.; 52, 67, 70). Der Umfang der abzuführenden Beiträge bestimmt sich daher, wie die Abführungspflicht selbst, nach materiellem Sozialversicherungsrecht. Ein entgegenstehender Wille der Vertragsparteien des Beschäftigungsverhältnisses ist im Strafrecht ebenso unbeachtlich wie im Sozialversicherungsrecht. (Bearbeiter)


Entscheidung

62. BGH 3 StR 409/08 - Beschluss vom 28. Oktober 2008 (LG Mönchengladbach)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln; unerlaubter Anbau von Betäubungsmitteln; Konkurrenzen; Einziehung (Tatmittel; Beziehungsgegenstände).

§ 29a BtMG; § 30 BtMG; § 74 StGB; § 33 Abs. 2 BtMG

1. Zielt bereits die Aufzucht von Cannabispflanzen auf die spätere gewinnbringende Veräußerung des Rauschgifts, so ist der Anbau der Betäubungsmittel als unselbstständiger Teilakt des Handeltreibens anzusehen und geht darin auf.

2. Für die Einziehung von Tatmitteln bei Straftaten gegen

das Betäubungsmittelgesetz tritt § 33 Abs. 2 BtMG nicht an die Stelle des § 74 StGB; vielmehr dehnt er die Möglichkeit der Einziehung lediglich auf die Beziehungsgegenstände der Straftat aus, worunter regelmäßig insbesondere die Betäubungsmittel selbst fallen. Grundlage der Entscheidung über die Einziehung zum Aufbau und Betrieb einer Plantage benötigter Asservate ist daher § 74 Abs. 1 StGB.


Entscheidung

16. BGH 2 StR 277/08 - Beschluss vom 8. August 2008 (LG Aachen)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Mitteilung des Mindestwirkstoffgehalts); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

§ 29a BtMG; § 267 Abs. 3 StPO; § 64 StGB

1. Der Tatrichter hat bei einer Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zwingend den Mindestwirkstoffgehalt der gehandelten Drogen mitzuteilen; die Einstufung der Qualität als „in der Regel durchschnittlich“ bzw. „in aller Regel gut durchschnittlich“ genügt insoweit nicht.

2. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB geht der vollstreckungsrechtlichen Entziehungsbehandlung gemäß § 35 BtMG vor.


Entscheidung

120. BGH 5 StR 536/08 – Beschluss vom 11. Dezember 2008 (LG Berlin)

Betrug durch Einreichung eines abhanden gekommenen oder durch eine Straftat erlangten Schecks (Vermögensschaden; Täuschung und Irrtum; Gesamtwürdigung beim Vorliegen eines Regelbeispiels auch bei Gehilfen); Strafzumessung (Wertungsfehler bei unerklärlicher Behandlung von Tätern und Teilnehmern einer Tat).

§ 263 Abs. 1, Abs. 3 StGB; § 46 StGB; Art. 21 ScheckG; § 27 StGB

1. Ein Abhandenkommen im Sinne des Art. 21 ScheckG liegt vor, wenn der Scheck ohne rechtswirksamen Begebungsvertrag in fremde Hände gelangt ist (BGHR StGB § 263 Abs. 1 Täuschung 22 m.w.N.). Diese Vorschrift, die nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut sowohl auf Order- als auch auf Inhaberschecks Anwendung findet, legitimiert den gutgläubigen Erwerber des Papiers. Die zivilrechtliche Risikoverteilung ist sowohl für die Bestimmung des Erklärungswerts einer entsprechenden Handlung als auch – spiegelbildlich – für das Vorhandensein eines entsprechenden Irrtums bei dem Adressaten der Erklärung erheblich (vgl. BGHSt 46, 196, 198 ff.; 51, 165 Rdn. 20 ff.).

2. Bei der Einlösung eines Inhaberschecks können Zweifel an einer für die Vermögensverfügung relevanten Täuschungshandlung bestehen, da der Einreicher eines Inhaberschecks regelmäßig schon durch dessen Besitz legitimiert wird (BGH wistra 2007, 458). Jedoch gehört ein etwaiges Abhandenkommen – ebenso wie die formellen Scheckvoraussetzungen (Art. 1, 2 ScheckG) – zu den Umständen, über die sich ein Bankangestellter, der den Scheck zur Einziehung hereinnimmt (vgl. dazu BGH WM 1987, 337, 338), Gedanken macht (offen gelassen in BGHR StGB § 263 Abs. 1 Täuschung 22). Er wird nämlich prüfen, ob Gesichtspunkte vorliegen, die zu einer Schadensersatzpflicht der Bank führen können. Solche Ansprüche können sich gemäß §§ 989, 990 BGB i.V.m. Art. 21 ScheckG ergeben (BGHZ 108, 353, 355 ff.; BGH WM 1993, 541, 542 f.; 1988, 1296, 1297; 1987, 337, 338).

3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs enthält die Vorlage eines Schecks die Behauptung, sein Inhalt entspreche dem Willen des Ausstellers. Zu dem Willen des Ausstellers gehört der Umstand, dass nur mittels eines Begebungsvertrags legitimierte Personen den Scheck einreichen, nicht aber Dritte, die in strafbarer Weise den Besitz an dem Scheck erlangt haben. Da eine Nichtbeachtung des Willens des Ausstellers für die Bank mit Regressrisiken verbunden sein kann, wird sich die Vorstellung des Bankmitarbeiters zumindest darauf beziehen müssen, dass eine Situation gegeben ist, die Regressansprüche nicht befürchten lässt. Mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen durch den Einreicher korrespondiert eine entsprechende Fehlvorstellung auf der Seite der den Scheck annehmenden Bankmitarbeiter. (Bearbeiter)

4. Auch bei Gehilfen muss das Tatgericht im Fall der Bewirkung eines Vermögensverlusts großen Ausmaßes (§ 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB) bedenken, ob von der Indizwirkung abzugehen und dann der Strafrahmen des § 263 Abs. 1 i.V.m. § 27 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB zugrunde zu legen wäre. Dies gilt besonders, wenn durchaus gewichtige Strafmilderungsgründe (hier insbesondere Geständnis, untergeordneten Tatbeitrag, geringe Entlohnung) vorliegen, nach denen die Verneinung der Indizwirkung nicht fern gelegen hätte.

5. Zwar muss, auch wenn mehrere Angeklagte in einem Verfahren abgeurteilt werden, für jeden von ihnen die Strafe unter Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände aus der Sache selbst gefunden werden (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 23). Der Gesichtspunkt, dass gegen Haupttäter und Teilnehmer verhängte Strafen auch in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen sollten, kann aber nicht völlig außer Betracht bleiben. Deswegen müssen Unterschiede jedenfalls dann erläutert werden, wenn sie sich nicht selbst aus der Sache ergeben (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Zumessungsfehler 1).


Entscheidung

97. BGH 4 StR 434/08 – Beschluss vom 11. November 2008 (LG Saarbrücken)

Täterschaftliche unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (erforderliche Feststellungen für Mittäterschaft; bloße Vermutung; erhöhtes Tatinteresse als Begründungsmerkmal der Mittäterschaft).

§ 29 BtMG; § 25 Abs. 2 StGB; § 27 StGB; § 261 StPO

Besteht die Mitwirkung eines Beteiligten allein darin, dass er den Täter bei der Einfuhr zum Beispiel als Beifahrer begleitet, etwa um diesem dadurch das Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, rechtfertigt dies nicht bereits die Annahme von Mittäterschaft (vgl. BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Einfuhr 33 m.w.N.). Zwar ist in einem solchen Fall die Annahme mittäterschaftlichen Handelns

nicht generell ausgeschlossen, sie bedarf jedoch besonderer Rechtfertigung durch weitere Gesichtspunkte von Gewicht, beispielsweise durch einen bestimmenden Einfluss bei der Vorbereitung der Tat oder durch ein erhöhtes Tatinteresse (BGH aaO).


Entscheidung

125. BGH 5 StR 561/08 - Beschluss vom 9. Dezember 2008 (LG Potsdam)

Strafzumessung beim Betäubungsmittelhandel (wesentliche Strafmilderung bei lückenloser Observation des Tatgeschehens).

§ 29 BtMG; § 46 StGB

Die lückenlose Observation des Tatgeschehens ist beim Betäubungsmittelhandel ein wesentlicher Strafmilderungsgrund (vgl. BGH StV 2000, 555; BGH, Beschlüsse vom 31. März 2004 – 5 StR 78/04 – und vom 22. Mai 2006 – 5 StR 177/06).


Entscheidung

112. BGH 5 StR 495/08 - Beschluss vom 27. November 2008 (LG Berlin)

Bemessung der Jugendstrafe (Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung).

§ 18 JGG; § 46 StGB; Art. 6 EMRK

1. Die Bemessung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld richtet sich grundsätzlich in erster Linie nach erzieherischen Erfordernissen, während der äußere Unrechtsgehalt der Tat insoweit keine selbständige Bedeutung hat. Die Urteilsgründe müssen in jedem Fall erkennen lassen, dass dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden ist (vgl. BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 8).

2. Einzelfall der Anwendung der Vollstreckungslösung auf eine Jugendstrafe.