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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2009
10. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Gerhard Fezer, Richter am OLG a.D., Hamburg
Eine "Auslegung" des § 244 Abs. 3 S. 2 StPO im Sinne der vorgenannten Entscheidung findet sich bereits in einem obiter dictum des 1. Senats vom 9.5.2007 (BGHSt 51, 333, 334 f.). Der Senat war offenbar bestrebt, diesen sehr knappen Ausführungen so schnell wie möglich eine Grundsatzentscheidung folgen zu lassen. Leider hatte er nicht die Geduld, auf ein "passendes" Ausgangsverfahren zu warten. Die verfahrensrechtliche Konstellation des konkreten Falles hat den Senat gezwungen, seine wesentliche Auslegungsarbeit in einem (mehrseitigen) obiter dictum zu entwickeln. Da im konkreten Fall die ganz zentrale Rüge der Verletzung des § 244 Abs. 3-6 i.V.m. Abs. 2, 3 StPO unzulässig war, sah der Senat sich veranlasst, sich hypothetisch mit der Begründetheit zu befassen.[1] Die Rüge der Verletzung des § 246 StPO ist dann zwar zulässig, so dass insoweit die Ausführungen des Senats zur Begründetheit entscheidungserheblich sind. Da es jedoch zwischen beiden Verfahrensrügen innere Zusammenhänge gibt, ist das Ausmaß der tragenden Erwägungen nicht einfach zu bestimmen. Das könnte ein künftiges Divergenzverfahren belasten.
Aber das sind allenfalls Schönheitsfehler, die gegenüber einem zentralen inhaltlichen Mangel kaum ins Gewicht fallen. Dieser liegt in der in Leitsatz 1 ausdrücklich hervorgehobenen Auffassung, eine Fristsetzung sei mit § 246 I StPO vereinbar. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Vorschrift hat einen klaren Inhalt: Sie verbietet dem Gericht, einen Beweisantrag mit der Begründung abzulehnen, er sei zu spät gestellt. Dem Antragsteller darf eine Verspätung deswegen nicht vorgehalten (und die Beweiserhebung etwa "wegen verspäteten Vorbringens" deswegen nicht abgelehnt werden) werden, weil es im Gesetz eine Verspätung für Beweisvorbringen und damit eine Verpflichtung zur "Rechtzeitigkeit" nicht gibt. Erst der Beginn der Urteilsverkündung bildet eine zeitliche Grenze. Bis dahin ist jeder Beweisantrag "rechtzeitig", d.h. nicht "verspätet", auch wenn der Antragsteller -
objektiv gesehen - den Antrag längst hätte stellen können. Daraus folgt weiter, dass dem Antragsteller ein Zeitpunkt für einen Beweisantrag nicht vorgeschrieben werden darf und dass er auch nicht begründen muss, warum er einen Antrag nicht früher gestellt hat. Wenn nun der BGH dem Vorsitzenden gestattet, den Verfahrensbeteiligten eine Frist zu setzen, dann gibt es allein wegen dieser Frist objektiv gesehen "rechtzeitige" und "zu späte" Beweisanträge, je nachdem ob sie vor oder nach Fristablauf gestellt worden sind. Erst die Fristsetzung schafft also die Möglichkeit einer Bewertung ("zu spät"), die das Gesetz gerade verbietet.
Diesen Widerspruch zum Regelungsgehalt des § 246 I StPO versucht der 1. Senat dadurch zu vermeiden, dass er die Fristversäumnis in Beziehung bringt zum Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht: Die Fristsetzung selbst führe nicht zur Präklusion, bei Versäumnis seien vielmehr "Indizien" einer Verschleppungsabsicht gegeben, wenn der Antragsteller die Gründe für eine verspätete Antragstellung nicht "nachvollziehbar und substantiiert darlegen könne". Es liegt auf der Hand, dass auf diese Weise der Widerspruch zu § 246 I StPO nicht vermieden werden kann. Auch wenn die Fristversäumnis "lediglich" im Rahmen der Verschleppungsabsicht berücksichtigt wird, führt dies dazu, dass der Antragsteller gezwungen wird, einen bestimmten Zeitpunkt für die Antragstellung zu beachten und dass er sich rechtfertigen muss, wenn er die Frist versäumt hat. Ganz offensichtlich ist aber der Widerspruch zu § 246 I, wenn der Senat schreibt (Rn. 16): "Verspätete Stellung eines Beweisantrags kann allein schon für Verschleppungsabsicht sprechen (BGH NStZ 1990, 350, 351)".[2]
Ein weiteres Argument lautet: Die Frist sei keine Ausschlussfrist, den Verfahrensbeteiligten bleibe es freigestellt, auch nach der gesetzten Frist Beweisanträge zu stellen. Diese Erwägungen sind nicht verständlich. Einen verfristeten Beweisantrag noch einmal zu stellen, wäre sinnlos. Mit anderen Beweisanträgen gerät der Antragsteller in einen Rechtfertigungszwang, der vom Gesetz nicht gedeckt ist. Dass das Gericht auch "verspätete" Beweisanträge entgegen nehmen muss (so ein zusätzlicher Gesichtspunkt des Senats), hilft auch nicht weiter.
Dem Senat war offensichtlich klar, dass er auf die bisher geschilderte Weise den Verstoß gegen § 246 I StPO nicht vermeiden kann. Deshalb sieht er sich wohl veranlasst, zusätzlich noch eine "Befugnis" zur Fristsetzung zu konstruieren, die aus dem Recht und der Pflicht des Vorsitzenden zur Sachleitung des Verfahrens folge. Diesem erwachse daraus die Befugnis, den Gang der Hauptverhandlung, insbesondere auch die zeitliche Reihenfolge der einzelnen Beweiserhebungen zu bestimmen. "Daraus folgt auch die Befugnis, durch eine Fristsetzung für evtl. Beweisanträge die weitere Gestaltung der Beweisaufnahme zu fördern" (wenn das Gericht im Hinblick auf § 244 II StPO die gebotene Beweiserhebung abgeschlossen habe). Hier geschieht etwas Abenteuerliches, ja bisher Unvorstellbares: Eine solche Fristsetzung wird gleichgestellt mit der organisatorischen Gestaltung der Beweisaufnahme, was zur Folge hat, dass eine Maßnahme der "Sachleitung" auch darin bestehen kann, das Recht der Beweisaufnahme inhaltlich zu begrenzen. Wenn dann noch die Fristsetzung "im Hinblick auf den Beschleunigungsgrundsatz" mit einer "straffen Verhandlungsführung" in Verbindung gebracht wird, dann ist die Gefährlichkeit dieser Konstruktion evident. Wird die inhaltliche Gestaltung der Beweisaufnahme der Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden unterstellt, dann geraten auch andere Beweiserhebungsvorschriften oder Verfahrensrechte der Verfahrensbeteiligten ohne weiteres in den Sog der "straffen Verhandlungsführung", einen Sog, der durch den Rückgriff auf den allgemeinen Beschleunigungsgrundsatz noch einmal verstärkt wird. Ohnedies war in letzter Zeit zu beobachten, dass einzelne Strafsenate den Beschleunigungsgrundsatz dazu verwenden, die verfahrensverlängernden Auswirkungen des geltenden Verfahrensrechts (etwa der Amtsaufklärungspflicht, des Beweisantragsrechts, des Instituts der Beweiskraft des Protokolls, des Rechts auf Beteiligung) zu begrenzen.[3] Solche Maßnahmen sind indes dem Gesetzgeber vorbehalten.
Vorliegend greift der 1. Strafsenat mit der Einführung einer Beweisantragsfrist ebenfalls in die Kompetenz des Gesetzgebers ein. Nun ist überhaupt keine Frage, dass die Verfahrensbeteiligten durch eine Vielzahl von Beweisanträgen und auch durch eine späte Antragsstellung ein Verfahren erheblich verzögern und die Strafrechtspflege zusätzlich belasten können. Ob solche Folgen als unvermeidliche Auswirkungen des Beweisantragsrechts hingenommen werden müssen oder ob und auf welche Weise die Strafgerichtsbarkeit geschützt werden muss, ist eine Entscheidung, die der Gesetzgeber aufgrund umsichtiger Abwägungen zu treffen hat. Dass in den letzten 25 Jahren rechtspolitische Anläufe, das Beweisantragsrecht gegen Missbrauch gesetzlich zu schützen,[4] immer wieder gescheitert sind, ist kein Zufall, sondern Ausdruck der immensen Regelungsschwierigkeiten. Das gilt insbesondere auch für den Vorschlag, das Beweisantragsrecht gesetzlich einer Befristung zu unterwerfen. Die Unbekümmertheit, mit der ein Strafsenat des BGH nun selbst den Schutz der Strafrechtspflege in die Hand nimmt, macht Sorge. Hinzu kommt folgendes: Ein obiter dictum des 5. Strafsenats aus dem Jahre 2005,[5] der ebenfalls (in Extremfällen) dem Vorsitzenden gestatten will, eine Frist für weitere Beweisanträge zu bestimmen (mit der Folge, dass verspätete Beweisanträge erst im Urteil beschieden werden müssen), stieß im Schrifttum, vielfach auf
Bedenken ("mit § 246 StPO nicht vereinbar").[6] Aber auch das eigene obiter dictum des 1. Senats in BGHSt 51, 333, 334 f. wird kritisiert.[7] Von alledem ist im vorliegenden Beschluss in keiner Weise die Rede. Die abweichenden Auffassungen werden schlichtweg ignoriert.
Der 1. Strafsenat sollte den Eindruck der Selbstherrlichkeit vermeiden.
[1] Warum der Senat die Beurteilung der Begründetheit vornehmen konnte, obwohl er den für eine solche Prüfung notwendigen Tatsachenvortrag des Revisionsführers vermisst, bleibt sein Geheimnis.
[2] In dieser vom 1. Senat zitierten Entscheidung des 4. Senats (NStZ 1990, 350) kommt ein solcher Satz nicht vor. Das Zitat ist also zumindest irreführend: Es täuscht eine Übereinstimmung der beiden Senate vor, die es nicht gibt.
[3] Vgl. dazu näher die Beiträge von Fezer, Pfordte, Piel und Rahlf in FS Widmaier (2008).
[4] Vgl. dazu z.B. Frister, SK-StPO, 59. Lfg. (2008), § 246 Rn. 2 ff.; zusammenfassend Schatz, Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik (1999).
[5] BGH NJW 2005, 2466.
[6] Vgl. z.B. Dahs StV 2006, 116; Duttge JZ 2005, 1012; Gössel JR 2006, 128; Ventzke HRRS 2005, 233; Frister SK-StPO (Fn. 4), § 246 Rn. 5; KK-Fischer, 6. Aufl. (2008), § 244 Rn. 113.
[7] Beulke/Ruhmannseder NStZ 2008, 300, 302; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. (2008), § 244, Rn. 69b; Tepperwin, FS Widmaier (2008), S. 583, 587 f.