HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2008
9. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

726. BGH StB 11/08 – Beschluss vom 7. August 2008 (Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs)

Selbstbelastungsfreiheit; Auskunftsverweigerungsrecht; Ordnungsgeld; Ordnungshaft; Erzwingungshaft; RAF; Offensive 77.

Art. 6 EMRK; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 55 StPO; § 161a StPO; § 70 StPO; § 96 StPO

1. Ein Zeuge kann die Beantwortung an ihn gerichteter Fragen verweigern (§ 55 StPO), wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass zwischen den Taten, zu denen er befragt werden soll und deretwegen ihm aufgrund Aburteilung oder Einstellung keine Verfolgung (mehr) droht, und anderen Straftaten, deretwegen er noch verfolgt werden könnte, ein so enger Zusammenhang besteht, dass die Beantwortung von Fragen zu den abgeurteilten bzw. eingestellten Taten die Gefahr der Verfolgung wegen dieser anderen Taten mit sich bringen kann.

2. Der Senat lässt offen, ob Fälle denkbar sind, in denen es der Anordnung von Beugehaft unter dem Aspekt widersprüchlichen staatlichen Verhaltens nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen entgegenstehen kann, dass auf der einen Seite eine Zeugenaussage nach § 70 Abs. 2 StPO erzwungen werden soll, während auf der anderen Seite durch Sperrerklärung nach § 96 StPO der ermittelnden Staatsanwaltschaft tatrelevante Erkenntnisse des Verfassungsschutzes oder anderer Behörden vorenthalten werden.


Entscheidung

737. BGH 1 StR 204/08 – Beschluss vom 18. Juni 2008 (LG München

Keine Verletzung des fairen Verfahrens durch das Inaussichtstellen einer rechtswidrigen Verfahrensabsprache (Verzicht auf die Sicherungsverwahrung gegen verfahrensfremde Aufklärungshilfe; Hinweispflicht; Besorgnis der Befangenheit; Vertrauensschutz und Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung: Feststellung von Vertrauenstatbeständen).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Vor § 1 StPO; Art. 6 EMRK; § 266 StGB; § 24 Abs. 2 StPO

1. Schafft das Tatgericht einen festgestellten Vertrauenstatbestand, auf Grund dessen der Angeklagte ein zur Verurteilung führendes Geständnis abgibt und den der Tatrichter sodann unter Verwertung des Geständnisses enttäuscht, liegt hierin ein revisibler Verstoß gegen das Recht auf ein faires Strafverfahren vor. Zu den Anforderungen an die Feststellung eines solchen Vertrauenstatbestandes durch eine angekündigte Höchststrafe in Verbindung mit der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung.

2. Die Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung ist einer Verständigung im Strafverfahren nicht zugänglich (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 39; NStZ 2005, 526). Es ist insbesondere sachfremd, die Nichtanordnung gegen eine Aufklärungshilfe für andere Straftaten zu versprechen. Dies gilt auch dann, wenn die Anordnung der Maßregel nur nach § 66 Abs. 2 StGB in Betracht kommt. Ein nach einem gerichtlichen Höchststrafangebot abgegebenes Geständnis ist – gleichgültig, zu welchem Zeitpunkt es abgegeben wird – grundsätzlich nicht geeignet, die Ermessensausübung entscheidend zu beeinflussen (vgl. BGH NStZ 2005, 526).

3. Eine dies missachtende Verfahrensweise der Beteiligten vermag – für sich allein – eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nicht zu begründen. Ein Rechtsnachteil hätte dem Angeklagten hieraus nur erwachsen können, wenn die Strafkammer auf Grund des früheren Angebots einer Nichtanordnung in ihrer Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht mehr unbefangen gewesen wäre. Das Vorgehen hat auch nicht wegen seiner Rechtswidrigkeit zur Konsequenz, dass das Urteil aufgehoben werden müsste.

4. Die tatsächliche Richtigkeit des Revisionsvortrags, aus dem sich ein verfahrensrechtlicher Verstoß ergeben soll, muss erwiesen sein und kann nicht lediglich nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ unterstellt werden (vgl. BGHSt 16, 164, 167; BGH NStZ 2008, 353).


Entscheidung

760. BGH 4 StR 84/08 – Beschluss vom 24. Juli 2008 (LG Bielefeld)

Unterbliebene Ladung des Verteidigers (Verzicht; Verwirkung; Revisibilität; Heilung; Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung).

§ 218 Satz 1 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK

1. Nach § 218 Satz 1 StPO ist der gewählte Verteidiger zur Hauptverhandlung zu laden, wenn die Wahl dem Gericht angezeigt worden ist. Hat der Angeklagte mehrere Verteidiger, muss – sofern es sich nicht um mehrere Anwälte einer Sozietät handelt – jeder von ihnen geladen werden (BGHSt 36, 259, 260).

2. Das Fehlen einer förmlichen Ladung kann unschädlich sein, wenn der Verteidiger auf andere Weise rechtzeitig vom Termin zuverlässig Kenntnis erlangt hätte (BGH aaO S. 261 m.w.N.) oder der Angeklagte auf die Verteidigung durch nicht geladenen Verteidiger in der Hauptverhandlung verzichtet.

3. Weder in der rügelosen Einlassung noch im Unterlassen eines Aussetzungsantrags (vgl. §§ 218 Satz 2, 217 Abs. 2 StPO) kann ohne weiteres ein wirksamer Verzicht des Angeklagten gesehen werden. Ein solcher Verzicht setzt die Kenntnis des Angeklagten voraus, dass sein Verteidiger nicht geladen wurde und dass er deshalb die Aussetzung beantragen kann (BGH aaO). Allein aus dem Umstand, dass in der Ladung des Angeklagten nur die Ladung des bestellten Verteidigers vermerkt war, kann nicht bereits geschlossen werden, dass ihm positiv bekannt war, sein gewählter Verteidiger sei weder zu dem Termin geladen noch auf andere Weise über dessen Stattfinden informiert worden.


Entscheidung

722. BGH 3 StR 266/08 – Beschluss vom 22. Juli 2008 (LG Wuppertal)

Unbegründete Revision; rechtsstaatswidriger Einsatz eines verdeckten Ermittlers (Vollstreckungslösung; Kompensation); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 EMRK; Art. 8 EMRK; Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG

Anwendung der Vollstreckungslösung auf einen rechtswidrigen Einsatz eines Verdeckten Ermittlers.


Entscheidung

687. BGH 2 ARs 452/07 / 2 AR 250/07 – Beschluss vom 15. Mai 2008 (OLG München)

Eilkompetenz zur Anordnung einer Wohnraumdurchsuchung im Disziplinarverfahren (Gefahr im Verzug; Verwertungsverbot); Ausschluss des Verteidigers (Verdacht der Beteiligung an der Tat).

§ 98 Abs. 1 StPO; § 105 StPO; Art. 52 Satz 2 BayDO a.F.; § 138a Abs. 1 Nr. 1 StPO

Zur Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung durch den Untersuchungsführer im förmlichen Disziplinarverfahren bei Annahme von Gefahr im Verzug. (BGH)


Entscheidung

822. BGH 5 StR 285/08 – Beschluss vom 23. Juli 2008 (LG Hamburg)

Nichteinhaltung einer zugesagten Wahrunterstellung und geforderte Hinweispflicht bei eingetretener Bedeutungslosigkeit der als wahr unterstellten Tatsache (Verbot der Überraschungsentscheidung).

Art. 6 EMRK; Art. 103 Abs. 1 GG; § 244 Abs. 3 Satz 2, Abs. 6 StPO

Wirkt sich eine als wahr unterstellte Tatsache im Urteil nicht mehr günstig für den Angeklagten auf die Schuld- oder Straffrage aus, ist sie mithin tatsächlich bedeutungslos, nötigt dies das Tatgericht nicht zu einem Hinweis vor Urteilsverkündung.


Entscheidung

791. BGH 5 StR 74/08 – Urteil vom 11. Juli 2008 (LG Bremen)

Konzentrationsmaxime und Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Schiebetermine; Zweck des § 229 StPO; Sachverhandlung bei unbewusst wiederholter Verlesung einer für die Rechtsfolgenbestimmung maßgeblichen Vorentscheidung und bei Verlesung eines zu wichtigen Verfahrensrechtsfragen vertiefenden Beschlusses; keine Verschärfung der Anforderungen mit Blick auf verlängerte Unterbrechungsfristen; Anforderungen an die Darstellung der Verfahrensrüge); Konfrontationsrecht (besonders vorsichtige Beweiswürdigung; Fragerecht; Zeugnisverweigerung).

§ 229 Abs. 4 Satz 1 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. c und d EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 252 StPO

1. Eine Sachverhandlung liegt stets vor, wenn die Verhandlung den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachverhaltsaufklärung betrifft (vgl. BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 5), das Verfahren mithin inhaltlich auf den abschließenden Urteilsspruch hin gefördert wird (BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 7 und 8). Die Verlesung eines Beschlusses muss den bereits eingeführten Beweisstoff nicht notwendig erweitern. Es kann genügen, dass er vertiefende Ausführungen zu einer wesentlichen, wenn nicht gar prozessentscheidenden Verfahrensfrage enthält (vgl. BGHR aaO Sachverhandlung 7), auch wenn sie lediglich die bestehende Rechtsansicht des Tatgerichts bestätigen.

2. Der Senat schließt sich den vom 3. Strafsenat nach Änderung der Unterbrechungsfristen durch das 1. JuMoG in BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 7 dargelegten, gegen eine Verschärfung der Anforderungen an die Annahme einer fristwahrenden Verhandlung zur Sache sprechenden Erwägungen an. Auch die Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nötigt zu keiner anderen Bewertung, weil vorliegend das Landgericht auch zur Wahrung des Rechts der Angeklagten auf Wahrnehmung der Verteidigung durch Rechtsanwälte ihrer Wahl bei der Dauer des Hauptverhandlungstermins den zeitlichen Verfügbarkeiten dieser Verteidiger Rechnung tragen durfte, ohne hierdurch das Verfahren erheblich zu verzögern.

3. Der Senat neigt der Auffassung zu, dass es nach den vom Gesetzgeber beschlossenen Fristverlängerungen von drei Tagen über zehn Tage auf jetzt geltende drei Wochen schwerlich in erster Linie Zweck der Vorschrift sein kann, die Erhaltung der Erinnerung an den Prozessstoff zu garantieren (vgl. BGHSt 33, 217, 218; vgl. aber auch BGHR StPO § 268 Abs. 3 Verkündung 3; dagegen Verkündung 4 und 5). Ob hieraus zu schließen wäre, dass

ein revisibler Verstoß gegen § 229 Abs. 1 StPO überhaupt nur noch bei einer insgesamt im Blick auf Art. 6 Abs. 1 MRK nachhaltigen Vernachlässigung der Konzentrationsmaxime angenommen werden sollte, bedarf hier keiner Entscheidung.


Entscheidung

758. BGH 4 StR 77/08 – Beschluss vom 17. Juni 2008 (LG Saarbrücken)

Anordnung der Sicherungsverwahrung und tragfähiger Ausschluss einer Rückfallverjährung; Bindungswirkung tatrichterlicher Feststellungen.

§ 66 Abs. 1, Abs. 4 Satz 3 StGB; § 249 Abs. 1 StPO; § 353 StPO

Feststellungen rechtskräftiger Urteile zu früheren Tatgeschehen einschließlich der Beweistatsachen, die in einem späteren Verfahren von Bedeutung sein können, binden den neu entscheidenden Tatrichter nicht (BGHSt 43, 106, 107). Solche Feststellungen können zwar im Wege des Urkundenbeweises gemäß § 249 Abs. 1 StPO in die neue Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden; der neue Tatrichter darf sie jedoch nicht ungeprüft übernehmen (BGH aaO).


Entscheidung

804. BGH 5 StR 192/08 – Beschluss vom 11. Juni 2008 (LG Chemnitz)

Unbegründeter Antrag auf Wiedereinsetzung zur Anbringung von Verfahrensrügen (Frist; Anspruch auf Nachbesserung wegen Pflichtverletzung des Rechtspflegers).

Art. 6 EMRK; Art. 19 Abs. 4 GG; § 44 StPO; § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO

Der Umstand, dass bei der Formulierung einiger – letztlich als unzulässig bewerteter – Verfahrensrügen zur Unterstützung des Angeklagten sachkundiges Justizpersonal mitgewirkt hat, verleiht dem Angeklagten keinen Anspruch auf Fehlerfreiheit von dessen Dienstleistung.


Entscheidung

668. BGH 2 StR 164/08 – Beschluss vom 28. Mai 2008 (LG Erfurt)

Letztes Wort des Erziehungsberechtigten; Beruhen.

§ 67 Abs. 1 JGG; § 258 StPO; § 337 StPO

1. Einem in der Hauptverhandlung anwesenden Erziehungsberechtigten des Angeklagten ist gemäß § 67 Abs. 1 JGG, § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO das letzte Wort nicht nur auf Verlangen, sondern von Amts wegen zu erteilen.

2. Daraus, dass der Erziehungsberechtigte eine Zeugenaussage unter Berufung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht abgelehnt hat, lässt sich nicht schließen, dass er ebenso wenig von der Möglichkeit des letzten Wortes Gebrauch gemacht hätte, denn Zeugnisverweigerungsrecht des Angehörigen und letztes Wort der Erziehungsberechtigten sind von ihrer rechtlichen Funktion und Bedeutung her nicht vergleichbar.


Entscheidung

788. BGH 5 StR 24/08 – Beschluss vom 10. Juni 2008 (LG Berlin)

Verwerfung eines Ablehnungsgesuchs als unzulässig (unverzügliche Anbringung; gesetzlicher Richter).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 26a StPO ; § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO

1. Wird ein Ablehnungsgesuch bei einem überschaubaren Sachverhalt auf eine Abtrennungsanordnung gestützt, kann es erforderlich sein, dass Gesuch am Vormittag des Folgetages anzubringen, auch wenn die Fortsetzung des Verfahrens erst binnen einer Woche terminiert ist.

2. An die Auslegung des Begriffs „unverzüglich“ im Sinne des § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ist im Interesse einer zügigen Durchführung des Verfahrens ein strenger Maßstab anzulegen. Die Ablehnung muss zwar nicht „sofort“, aber „ohne schuldhaftes Verzögern“, das heißt ohne unnötige, nicht durch die Sachlage begründete Verzögerung geltend gemacht werden.

3. Durch die Sachlage begründet ist lediglich die Verzögerung, die dadurch entsteht, dass der Antragsteller, nachdem er Kenntnis vom Ablehnungsgrund erlangt hat, eine gewisse Zeit zum Überlegen und Abfassen des Gesuchs benötigt. Welche Zeitspanne dafür einzuräumen ist, ist eine Frage der jeweiligen Umstände des Einzelfalls (st. Rspr.; BGHR StPO § 25 Abs. 2 Unverzüglich 5 m.w.N.). Nach diesen Maßstäben muss der Angeklagte nicht zwingend vor Unterbrechung der Hauptverhandlung nach Kenntnis des Ablehnungsgrundes das Ablehnungsgesuch anbringen. Es ist ihm gegebenenfalls eine gewisse Zeit zur Überlegung und Absprache mit dem Verteidiger einzuräumen. Erforderlichenfalls hat er jedoch das Ablehnungsgesuch außerhalb der Hauptverhandlung anzubringen, insbesondere dann, wenn mehrere Werktage zwischen den Hauptverhandlungsterminen liegen (st. Rspr.; BVerfG NStZ-RR 2006, 379, 380; BGH NStZ 1996, 47, 48; 1993, 141; 1982, 291).


Entscheidung

794. BGH 5 StR 114/08 – Beschluss vom 12. Juni 2008 (LG Hamburg)

Unwirksame Revisionsrücknahme durch den ehemaligen Pflichtverteidiger (wirksame Ermächtigung; mangelnde Hinzuziehung eines Dolmetschers); Ergänzung der abgekürzten Urteilsgründe analog § 267 Abs. 4 Satz 3 StPO.

§ 302 Abs. 2 StPO; § 267 Abs. 4 Abs. 3 StPO

Erweist sich eine Revisionsrücknahme durch den früheren Pflichtverteidiger im nachhinein als mangels einer Ermächtigung unwirksam, kann das Tatgericht die abgekürzten

Urteilsgründe in entsprechender Anwendung des § 267 Abs. 4 Satz 3 StPO ergänzen (BGH NStZ-RR 2002, 261).


Entscheidung

812. BGH 5 StR 243/08 – Beschluss vom 10. Juli 2008 (LG Berlin)

Beweiswürdigung beim Totschlag (Alternativtäterausschluss; Aussagewert psychisch Kranker); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (postpsychotische Persönlichkeitsveränderungen; Schizophrenie).

§ 212 StGB; § 261 StPO; § 63 StGB; Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 EMRK

Kommt ein Alternativtäter in Frage, müssen sich die Urteilsgründe mit vorhandenen Beweisanzeichen für die Täterschaft des Alternativtäters hinreichend auseinandersetzen und in einer Gesamtschau würdigen.


Entscheidung

692. BGH 3 StR 53/08 – Urteil vom 8. Mai 2008 (LG Hildesheim)

Beweiswürdigung (Prüfungsmaßstab des Revisionsgerichts; Zweifelssatz); Wahlfeststellung (rechtsethische und psychologische Gleichwertigkeit; Wohnungseinbruchsdiebstahl und Hehlerei).

§ 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 259 StGB; § 242 StGB; § 261 StPO; § 337 StPO

1. Wahlfeststellung kommt nur zwischen dem – im Wohnungseinbruchsdiebstahl enthaltenen – einfachen Diebstahl gemäß § 242 Abs. 1 StGB und Hehlerei in Betracht, nicht aber zwischen Wohnungseinbruchsdiebstahl und Hehlerei, denn eine Wahlfeststellung setzt voraus, dass die mehreren möglichen, einander ausschließenden Verhaltensweisen rechtsethisch und psychologisch gleichartig bzw. gleichwertig sind.

2. Es obliegt allein dem Tatrichter, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen oder sie etwa nur deshalb zu beanstanden, weil aus seiner Sicht eine andere Bewertung der Beweise näher gelegen hätte.

3. Vermag der Tatrichter vorhandene, wenn auch nur geringe Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten nicht zu überwinden, so kann das Revisionsgericht dies nur auf Rechtsfehler überprüfen, insbesondere darauf, ob die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, die Beweismittel nicht ausschöpft, Verstöße gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze aufweist oder ob der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat.

4. Aus den Urteilsgründen muss sich auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.

5. Der Zweifelssatz gebietet nicht, dem Urteil Behauptungen des Angeklagten zu Grunde zu legen, die zwar nicht durch gegenläufige Beweise zu widerlegen sind, für deren Richtigkeit sich aber andererseits keinerlei Anhaltspunkte im festgestellten Sachverhalt ergeben.


Entscheidung

796. BGH 5 StR 143/08 – Beschluss vom 10. Juni 2008 (LG Zwickau)

Sexueller Missbrauch von Kindern; Vergewaltigung; Beweiswürdigung (Glaubhaftigkeitsbeurteilung; Erörterungsmangel bei Stützung des Tatvorwurfs auf eine wesentliche Belastungszeugin und Einstellung wegen einiger Tatvorwürfe der Zeugin; Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen); Verfahrensrüge zur Darlegung eines Erörterungsmangels jenseits des unmittelbaren Urteilsgegenstandes.

§ 176 StGB; § 177 Abs. 2 StGB; § 261 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 72 StPO ; § 244 Abs. 2 StPO

1. In einem Fall, in dem der Anklagevorwurf allein auf der Aussage einer Belastungszeugin aufbaut, das Verfahren aber wegen einiger der angeklagten Taten nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wird, kann den Gründen für die Einstellung Beweisbedeutung für die allein entscheidende Frage der Glaubwürdigkeit der einzigen Belastungszeugin zukommen; wird der Grund nicht mitgeteilt, liegt hierin ein Erörterungsmangel (BGHSt 44, 153, 160; BGHR StPO § 154 Abs. 2 Teileinstellung 1; BGH NStZ 2003, 164).

2. Eine mögliche, auch aktuell beibehaltene Falschbelastung lässt den Schluss, die Hauptbelastungszeugin (Nebenklägerin) weise keine Belastungstendenz auf, fragwürdig erscheinen. In solchen Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht und sich die Unwahrheit eines Teils der Aussage des Belastungszeugen herausstellt, sind außerhalb der Zeugenaussage liegende Gründe von Gewicht erforderlich, die es dem Tatrichter ermöglichen, dem Zeugen im Übrigen dennoch zu glauben. Diese gewichtigen Gründe sind im Urteil darzulegen (vgl. BGHSt 44, 153, 158 f.; BGH NStZ 2000, 496).


Entscheidung

741. BGH 1 StR 231/08 – Urteil vom 15. Juli 2008 (LG München)

Rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung beim Freispruch vom Vorwurf der Vergewaltigung (Verkennung von in dubio pro reo).

§ 177 Abs. 2 StGB; § 261 StPO

1. Ist die Beweislage beim Vorwurf der Vergewaltigung schwierig und hängt die Entscheidung im Wesentlichen davon ab, ob das Gericht den Angaben des potentiellen Opfers einer Vergewaltigung oder dem Angeklagten folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Gesamtwürdigung einbezogen hat.

2. Spricht das Gericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Daran ändert sich nicht einmal dann etwas, wenn eine vom Tatrichter getroffene Feststellung „lebensfremd“ erscheinen mag. Es gibt im Strafprozess keinen Beweis des ersten Anscheins, der nicht auf der Gewissheit des Richters, sondern auf der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufs beruht.

3. Demgegenüber ist eine Beweiswürdigung etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie schon von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, z.B. hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht erörtert, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt sind (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urt. vom 22. Mai 2007 – 1 StR

582/06 –; BGH NJW 2005, 1727; BGH NStZ-RR 2003, 371; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 33, jew. m.w.N.). Aus den Urteilsgründen muss sich zudem ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 206; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11, 16, 24, Überzeugungsbildung 30; BGH NStZ 2000, 48).

4. Eine „Gesamtschau“ ist dann keine lückenlose Gesamtwürdigung der Indizien, wenn das Tatgericht bereits vorher wichtige objektive Beweisanzeichen ohne umfassende Auseinandersetzung mit den Aussagen der Nebenklägerin und des Angeklagten isoliert bewertet und im Ergebnis dem Indiz dann – der Sache nach – maßgeblichen Beweiswert aberkennt.

5. In dubio pro reo ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag, und nicht auf jedes Indiz für sich anzuwenden ist.


Entscheidung

801. BGH 5 StR 169/08 – Beschluss vom 9. Juni 2008 (LG Braunschweig)

Sexueller Missbrauch von Kindern (Anforderungen an die Individualisierung und die Überzeugungsbildung bei gleichförmigen Tatserien); Beweiswürdigung bei Aussage gegen Aussage.

§ 174 StGB; § 261 StPO

1. Um eine bestimmte Anzahl von Straftaten einer in allem gleichförmig verlaufenden Serie sexueller Missbrauchshandlungen an Kindern festzustellen, bedarf es zwar nicht stets einer Konkretisierung nach genauer Tatzeit und exaktem Geschehensverlauf. Der Richter muss aber darlegen, aus welchen Gründen er die Überzeugung gerade von dieser Mindestzahl von Straftaten gewonnen hat (vgl. BGHSt 42, 107, 109 f.; Senat, Beschluss vom 5. März 2008 – 5 StR 611/07 –).

2. Steht Aussage gegen Aussage und hängt die Entscheidung allein davon ab, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr., vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 14; § 267 Abs. 1 Satz 1 Beweisergebnis 8; BGH, Beschluss vom 16. Februar 2000 – 3 StR 28/00 –). Zudem ist in besonderem Maße eine ‚Gesamtwürdigung’ aller Indizien geboten (vgl. BGHR StPO § 261 Indizien 2, Beweiswürdigung 14; BGH, Beschluss vom 16. Februar 2000 – 3 StR 28/00 –).


Entscheidung

776. BGH 4 StR 245/08 – Beschluss vom 22. Juli 2008 (LG Bielefeld)

Darstellungsanforderungen bei der Rüge der Abwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung (Zulässigkeit der Verfahrensrüge; wesentlicher Teil der Hauptverhandlung; Ausschluss des Beruhens); rechtliches Gehör; Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung.

Art. 6 EMRK; § 231 Abs. 2 StPO; § 338 Nr. 5 StPO; § 337 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

Wird gerügt, der Angeklagte sei zu Unrecht bei der Aussage einer Zeugin nicht anwesend gewesen, muss mitgeteilt werden, was die Zeugin während der Abwesenheit des Angeklagten ausgesagt hat, um dem Revisionsgericht die Prüfung zu ermöglichen, ob es sich bei dem beanstandeten Verfahrensvorgang um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung gehandelt hat (vgl. BVerfG StraFo 2005, 512 f.; BGH StraFo 2005, 120 f.).


Entscheidung

724. BGH 3 StR 515/07 – Beschluss vom 24. Juni 2008 (LG Wuppertal)

Unzulässige Verfahrensrüge (Revisionsbegründung; Zuordnung von Tatsachen und Rügen).

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

Die zum Belege von „den Fehler enthaltenden Tatsachen“ im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgelegten Beweismittel – regelmäßig also Ablichtungen aus den Akten – sind dem gerügten Verfahrensfehler in der Revisionsbegründungsschrift jeweils inhaltlich zuzuordnen. Denn es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, eine umfangreiche Blattsammlung daraufhin zu überprüfen, ob die zum Beleg der tatsächlichen Grundlagen der Rügen erforderlichen Unterlagen in einem ungeordneten Aktenkonvolut enthalten sind.


Entscheidung

777. BGH 4 StR 246/08 – Beschluss vom 25. Juni 2008 (LG Bochum)

Unzulässige Revisionseinlegung trotz mangelnder qualifizierter Belehrung nach rechtswidriger Verfahrensabsprache (Druckausübung durch Verteidiger; dienstliche Stellungnahmen; Glaubhaftmachung).

Vor § 1 StPO; § 302 Abs. 1 StPO; § 341 Abs. 1 StPO; Art. 6 EMRK; § 44 StPO

1. Der im Anschluss an die Urteilsverkündung durch den Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht ist unwirksam, wenn dem Urteil eine Urteilsabsprache zu Grunde liegt und ausweislich des Sitzungsprotokolls keine qualifizierte Rechtsmittelbelehrung erfolgt ist (BGHSt – GS – 50, 40 f.).

2. Auch in diesem Fall ist die Revision jedoch unzulässig, wenn sie nach Ablauf der Wochenfrist des § 341 Abs. 1 StPO eingelegt wurde. Einer unbefristeten Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, steht entgegen, dass die Frage der Rechtskraft durch eine klare Fristenregelung eindeutig geklärt sein muss und durch die Rechtsmitteleinlegungsfrist geklärt ist. Der Rechtsmittelberechtigte, der einen Rechtsmittelverzicht erklärt, nachdem ihm die Rechtsmittelbelehrung ohne qualifizierte Belehrung erteilt wurde, darf nicht besser stehen, als derjenige, der keinen Rechtsmittelverzicht erklärt hat (BGHSt 50, 40, 62).

665. BGH 2 StR 147/08 – Beschluss vom 14. Mai 2008 (LG Gera)

Beweiswürdigung (Betäubungsmittelstraftaten; Aufklärungshilfe).

§ 29 BtMG; § 31 BtMG; § 261 StPO

1. Wenn ein Angeklagter überwiegend durch die Angaben selbst tatbeteiligter Zeugen überführt werden soll, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat.

2. Jedenfalls zur Würdigung der widersprüchlichen Aussagen mehrerer in ein kriminelles Geflecht verwickelter Auskunftspersonen, deren Motivation möglicherweise auf eigene Vorteile oder auf die Abwehr weiterer Beschuldigungen ausgerichtet ist, ist es erforderlich, die Umstände der Entstehung, die Entwicklung und den näheren Inhalt der die Angeklagten belastenden Aussagen darzustellen und zu bewerten.

3. Für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung bei Aussagen im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts ist regelmäßig wichtig, ob sich der Zeuge durch seine Aussage in dem gegen ihn selbst gerichteten Verfahren durch Leisten von Aufklärungshilfe (§ 31 BtMG) Vorteile verschaffen wollte, denn für diesen Fall besteht die Gefahr, dass er den Nichtgeständigen zu Unrecht belastet. Ist ein tatbeteiligter Zeuge, auf dessen belastende Aussage die Überführung des Angeklagten entscheidend gestützt wird, bereits wegen seiner Beteiligung an derselben Betäubungsmittelstraftat verurteilt worden, muss die Beweiswürdigung deshalb erkennen lassen, ob sich der Betreffende eine Strafmilderung als Aufklärungsgehilfe verdient hat oder nicht.


Entscheidung

684. BGH 2 ARs 168/08 / 2 AR 99/08 – Beschluss vom 14. Mai 2008

Zuständigkeitsbestimmung (Kompetenzkonflikt); Auswahlermessen der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung (mehrere zuständige Gerichte).

§ 12 StPO; § 14 StPO; § 42 Abs. 2 JGG

1. Die Vorschrift des § 42 Abs. 2 JGG enthält lediglich eine Richtlinie für das Auswahlermessen der Staatsanwaltschaft, begründet aber keinen Zuständigkeitsvorrang eines bestimmten Gerichtes.

2. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, vor welchem von mehreren zuständigen Gerichten sie Anklage erheben will, ist grundsätzlich nicht nachprüfbar.