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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2008
9. Jahrgang
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Von Rechtsreferendar Sascha Ziemann, Frankfurt a. M.
Der 2. Senat des Bundesgerichtshofes [1] hatte sich jüngst mit einem Fall manipulativen Prozessverhaltens zu befassen. Dem Beschluss lag folgender (vereinfachter) Sachverhalt zugrunde:
Mit Urteil vom 17.07.2006 verurteilte das Landgericht Aachen den Beschuldigten wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug unter Einbeziehung zweier Vorverurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Hiergegen legte die Verteidigerin des Beschuldigten Revision ein. Während des Revisionsverfahrens wurde dem Senat durch einen Dritten mitgeteilt, möglicherweise durch den Vater des Beschuldigten, dass dieser verstorben sei. Zum Beweis übersandte der Dritte eine Sterbeurkunde des Standesamts Aachen, die auch einer Überprüfung durch die StA Aachen standhielt. Daraufhin stellte der Senat durch Beschluss vom 12.01.2007 das Verfahren wegen Eintritts eines Verfahrenshindernisses gemäß § 206a Abs. 1 StPO auf Kosten der Staatskasse ein. Spätere Ermittlungen der StA Aachen haben ergeben, dass die Sterbeurkunde mit Hilfe einer gefälschten Todesbescheinigung erlangt wurde und dass der Beschuldigte in Wirklichkeit nicht verstorben, sondern auf der Flucht ist. Der Senat hob hieraufhin den Einstellungsbeschluss durch Beschluss vom 21.12.2007 auf. Das Revisionsverfahren wurde fortgesetzt und die Revision durch Beschluss als unbegründet verworfen.
Der Senat begründete seine Entscheidung wie folgt: Grundsätzlich seien Einstellungsbeschlüsse gemäß § 206a StPO "formeller und materieller Rechtskraft fähig" und hätten "grundsätzlich dieselben Rechtswirkungen wie ein verfahrenseinstellendes Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO" [2] . Dies gelte jedoch dann nicht, wenn – wie im vorliegenden Fall – die irrtümliche Einstellungsentscheidung aufgrund eines Verfahrenshindernisses "durch ein täuschendes Verhalten des Beschuldigten selbst oder durch ein diesem zuzurechnendes Täuschungsverhalten eines Dritten verursacht worden ist" [3] In einen solchen Fall sei eine Rechtskraftdurchbrechung "nach dem Rechtsgedanken des § 362 StPO zulässig und geboten" [4] . Nach Ansicht des Senats brauche es dabei zur Fortsetzung des (Revisions-)Verfahrens weder einer neuen Anklage noch eines erneuten Eröffnungsbeschlusses. [5] Der irrtümlich ergangene Einstellungsbeschluss sei vielmehr "durch Beschluss des einstellenden Gerichts" [6] "entsprechend § 206a StPO[…]aufzuheben" und "das Verfahren in dem Stand fortzusetzen, in welchem es sich vor der irrtümlichen Einstellung befand (Fortführung von BGHSt 45, 108)" [7] .
Man kann sich gut vorstellen, wie es den Richtern des 2. Senats des BGH ergangen sein muss, als sie erfahren haben, dass der Angeklagte sie im Rechtsmittelverfahren mit seinem vorgetäuschten Tod zu einer Verfahrenseinstellung gemäß § 206a Abs. 1 StPO manipuliert hat. Dass eine solche offensichtlich fehlerhafte und noch dazu durch Täuschung hervorgerufene Entscheidung keinen Bestand haben durfte, war klar und ist wohl auch im Ergebnis sachgerecht. Genauerer Klärung bedarf allerdings die Frage, ob der vom Senat eingeschlagene Weg – Aufhebungsbeschluss entsprechend § 206a Abs. 1 StPO und Fortsetzung des Verfahrens – der dogmatisch richtige Weg ist. Erste Stimmen in der Literatur haben die Entscheidung jedenfalls begrüßt [8] und sogar – wie etwa Rieß – als einen "gelungenen Akt richterlicher Rechtsfortbildung" gewürdigt. [9] Dieser Bewertung ist jedoch
nicht zuzustimmen. Die Entscheidung des Senats erscheint in mehrfacher Sicht bedenklich.
1. Zunächst zu einer unglücklichen Formulierung im Leitsatz. Der Leitsatz bezeichnet die vorliegende Entscheidung als eine "Fortführung von BGHSt 45, 108". Diese Auffassung ist zwar einerseits richtig, da die vorliegende Entscheidung die höchstrichterliche Rechtspraxis fortführt, wonach Verfahren beim Tod des Beschuldigten notwendigerweise förmlich durch Beschluss einzustellen sind. [10] Sie geht aber andererseits am eigentlichen Problem des Falls vorbei [11] und täuscht, beabsichtigt oder nicht, eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung vor, obwohl eigentlich dogmatisches Neuland betreten wird.
2. Das eigentliche Problem von BGHSt 52, 119 liegt nämlich in der Rechtskraft von Einstellungsbeschlüssen nach § 206a StPO und der Kompetenz des einstellenden Gerichts, hier des Bundesgerichtshofes, einen durch Täuschung erschlichenen Einstellungsbeschluss unter Durchbrechung seiner Rechtskraft wieder rückgängig zu machen und das Verfahren fortzusetzen.
Im Ausgangspunkt geht der Senat zunächst zutreffend davon aus, dass Einstellungsbeschlüsse nach § 206a Abs. 1 StPO "formeller und materieller Rechtskraft fähig" sind. [12] Die formelle Rechtskraft des Einstellungsbeschlusses folgt dabei im vorliegenden Fall nicht aus dem Ablauf der sofortigen Beschwerdefrist, sondern aus der insoweit vorgehenden grundsätzlichen Unanfechtbarkeit von Entscheidungen des BGH. [13]
Der Senat gründet seine Aufhebungsentscheidung im Wesentlichen auf zwei Argumente, die jeweils eine Antwort auf das "Ob" und "Wie" einer Rechtskraftdurchbrechung (zur Rückgängigmachung des fehlerhaften Einstellungsbeschlusses) geben.
Für das "Ob" der Rechtskraftdurchbrechung bezieht sich der Senat im Wesentlichen auf den Rechtsgedanken des § 362 StPO. Dieser erlaube die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zu Ungunsten des Angeklagten auch in den Fällen, in denen das rechtskräftige Urteil auf "Grundlage von Beweisergebnissen erfolgte, deren auf Täuschung beruhende Unrichtigkeit zu Gunsten des Angeklagten sich nachträglich erweist" (§ 362 Nr. 1, 2 StPO) [14] . Da nun ein Beschluss keine "weiter reichende Rechtskraftwirkung" haben könne "als ein freisprechendes oder verfahrenseinstellendes Urteil" [15], seien – so der Senat – die Fälle einer manipulierten begünstigenden Sachentscheidung den Fällen gleichzustellen, in den der "Beschuldigte selbst oder in seinem Auftrag ein Dritter durch Täuschung oder Drohung" eine "begünstigende formelle Verfahrensbeendigung" [16] herbeiführt.
Für das "Wie" der Rechtskraftdurchbrechung beruft sich der Senat dagegen auf § 206a Abs. 1 StPO, also genau auf die Norm, die er auch für die Einstellung verwendet hatte. Nach Ansicht des Senats erfolge die Rückgängigmachung eines fehlerhaften rechtskräftigen Einstellungsbeschlusses über die entsprechende Anwendung des § 206a Abs. 1 StPO. [17]
Gegen dieses Vorgehen sind einige Einwände zu erheben.
Beim Rückgriff auf den Rechtsgedanken des § 362 StPO stellt sich zunächst die Frage, ob die Wiederaufnahmevorschriften überhaupt analogiefähig sind. Dass es sich in casu um einen Analogieschluss handelt, erscheint m.E. nicht zweifelhaft [18], da der Senat im Verlauf seiner Ausführungen auf Literatur "zur analogen Anwendung von § 362 StPO" verweist [19]. Die methodische Trennung von "Analogie" und "richterlicher Rechtsfortbildung" durch Rieß [20] ist wenig überzeugend, da auch der Analogieschluss der Rechtsfortbildung dient. [21] Aussagekräftiger wäre allenfalls die Trennung zwischen der Rechtsfortbildung praeter legem und contra legem.
An der Analogiefähigkeit des § 362 StPO kann man nun zweifeln, da die im Gesetz vorgesehenen Rechtskraftdurchbrechungen des Wiederaufnahmerechts nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung abschließend geregelt sind und einer richterrechtlichen Erweiterung im Grundsatz nicht zugänglich sind<. [22] Der Grund hierfür liegt in der Bedeutung der Rechtskraft für das Strafverfahren. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH und des Bundesverfassungsgerichts ist das Verhältnis von Rechtskraft und Wiederaufnahme ein Regel-Ausnahme-Verhältnis: die Rechtskraft und damit die Beständigkeit der Entscheidung ist die Regel, die Durchbrechung der Rechtskraft im Wege der Wiederaufnahme die Ausnahme. Die Beständigkeit einer rechtskräfti-
gen Entscheidung ist dabei eine Forderung der Rechtssicherheit, die ihrerseits ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist. [23] Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist "Rechtssicherheit" sogar "von so zentraler Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit, daß um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muß." [24] Die Wiederaufnahmevorschriften stellen nach allgemeiner Meinung eine solche begründete Ausnahme vom Grundsatz der Rechtssicherheit dar. [25] Sie bilden dabei aber zugleich die Grenzen für Rechtskraftdurchbrechungen. Dies gilt im besonderen Maße für die Wiederaufnahme zu Ungunsten nach § 362 StPO, die durch den Gesetzgeber nur in engen Grenzen für zulässig gehalten wird. [26]
Grundsätzliche Bedenken ergeben sich auch daraus, dass der Rückgriff auf den "Rechtsgedanken des § 362 StPO", also die Analogie, zu Lasten des Betroffenen erfolgte. [27] Zwar kennt das Strafprozessrecht kein allgemeines Analogieverbot zu Lasten des Betroffenen, wie dies etwa das materielle Strafrecht vorsieht (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB). Die Grundrechtsbezogenheit strafprozessualer Maßnahmen legt es aber nahe, auch prozessuale Maßnahmen erhöhten Begründungsanforderungen zu unterwerfen. [28] Als sichere Grundlage hierfür wird man den allgemeinen Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes heranziehen können, der für Maßnahmen mit Grundrechtsbezug eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage verlangt. [29] Es bedarf, mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts, "von Verfassungs wegen einer Begründung, die ihre Rechtfertigung unzweideutig, verlässlich und sicher in dem erklärten, objektivierten Willen des Gesetzgebers findet" [30] . Die Suche nach einer solchen Ermächtigungsgrundlage gestaltete sich im vorliegenden Fall schwierig und verlief letzten Endes erfolglos, da die Anwendung des Einstellungsbeschlusses gemäß § 206a Abs. 1 StPO zwei prozessuale Besonderheiten zeigte. Zum einen erging der Beschluss im Revisionsverfahren, was zur Folge hatte, dass der im Zwischenverfahren geregelte § 206a Abs. 1 StPO analog angewandt werden musste. [31] Zum anderen wurde der Beschluss durch den BGH erlassen, was zur Folge hatte, dass der eigentlich mit sofortiger Beschwerde anfechtbare Beschluss gemäß § 304 Abs. 4 S. 1 StPO grundsätzlich unanfechtbar war.
Über diese grundsätzlichen Bedenken hinaus fehlt es aber auch am Vorliegen einer vergleichbaren Interessenlage. Hier sind es vor allem zwei Gesichtspunkte, die einen Analogieschluss auch in der Sache unangemessen erscheinen lassen. Zum einen die in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Grundsätze zur Widerruflichkeit von Beschlüssen. [32] Diese haben folgenden Inhalt: Frei widerruflich sind zunächst Beschlüsse, die mit einfacher Beschwerde anfechtbar sind, da diese laufende Entscheidungen sind und daher keine Bindungswirkung für das erlassende Gericht entfalten. Bei Beschlüssen, die mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar sind, gelten strengere Maßstäbe, da diese eine den Urteilen gleichkommende Selbstbindung entfalten. [33] Sie sind, wie das Gesetz in § 311 Abs. 3 S. 1 StPO ausdrücklich normiert, für das erlassende Gericht im Grundsatz nicht von Amts wegen widerruflich [34] . Ausnahmen sieht dieses gesetzliche Verbot dabei nur zu Gunsten des Betroffenen, bei Verletzungen des rechtlichen Gehörs, vor (§ 311 Abs. 3 S. 2 StPO).
Die in der Rechtsprechung entwickelte Ansicht, den Widerruf eines fehlerhaften Beschlusses dann ausnahmsweise zuzulassen, wenn dieser "erforderlich ist, um ein anders nicht zu beseitigendes, grobes prozessuales Unrecht zu verhindern" [35], ändert nichts an dieser Bewertung. Nicht nur, dass diese Ausnahme für Fälle zu Gunsten des Betroffenen entwickelt worden ist; das Bestehen einer "offensichtlich unrechtmäßige(n) materielle(n) Grundlage" [36] führt im vorliegenden Fall nicht zu einem groben prozessualen Unrecht. Das Strafverfolgungsinteresse der Staatsanwaltschaft wird nicht erheblich beeinträchtigt, da es dieser unbenommen bleibt, eine neue Anklage zu erheben [37]. Der Betroffene demgegenüber muss erhebliche Einbußen in seinem Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) hinnehmen. [38] Zwar ist dem Senat zuzustimmen, dass das Verbot des § 311 Abs. 3 S. 1 StPO wegen der Unanfechtbarkeit von BGH-Entscheidungen keine unmittelbare Anwendung (in Abweichung von § 206a Abs. 2 StPO) auf den vorliegenden Fall findet. Der Gesetzeszweck des Verbots, der strukturelle Gleichlauf von Einstellungsurteil und Einstellungsbeschluss, hätte dem Senat jedoch die Rückgängigmachung des fehlerhaften Einstellungsbeschlusses verwehren müssen. [39] Diese Auffassung findet auch Bestätigung in der Rechtsprechung. So etwa in dem vom OLG Köln entschiedenen Fall eines erschlichenen unanfechtbaren Wiederaufnahmebeschlusses nach § 371 Abs. 2 StPO. [40] In diesem Fall hatte das Landgericht seine die Wiederaufnahme des Verfahrens anordnende Beschlussentscheidung durch Beschluss zurückgenommen, nachdem bekannt geworden war, dass der Verurteilte sich die
Wiederaufnahmeentscheidung durch Anstiftung eines Zeugen zur Falschaussage erschlichen hatte. Das OLG Köln widersprach diesem Vorgehen und versagte dem Rücknahmebeschluss "jede rechtliche Wirkung" [41] . Diese Grundsätze wurden in Entscheidungen des OLG Köln [42] und des Bayerischen Obersten Landesgerichts [43] bestätigt, wenngleich diesen Entscheidungen keine manipulative Einwirkung zu Gunsten des Betroffenen zugrunde lag, sondern Einstellungsentscheidungen, die zu Lasten des Betroffenen ergingen (Abhandenkommen eines Eröffnungsbeschlusses bzw. einer verjährungsunterbrechenden Verfügung aus der Akte).
Eine vergleichbare Interessenlage scheitert aber auch an den unterschiedlichen prozeduralen Rahmenbedingungen. Der Senat lässt einen wichtigen Unterschied in den prozeduralen Rahmenbedingungen der rechtskraftdurchbrechenden Entscheidung außer Acht. Im Rahmen der Wiederaufnahme zu Ungunsten entscheidet das Gericht nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Privatklägers [44] ; eine Entscheidung von Amts wegen, wie sie der Senat bei seinem Aufhebungsbeschluss getroffen hat, wäre dagegen nicht zulässig gewesen. Die Missachtung dieses Unterschieds wäre ein Verstoß gegen die justizorganisatorische Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht. [45]
Mit dem Rückgriff auf § 206a Abs. 1 StPO eröffnet der Senat eine zweite Argumentationslinie. Die analoge Anwendung des § 206a StPO betrifft dabei allein die Frage des "Wie" der Rechtskraftdurchbrechung, da der Rückgriff auf § 206a StPO an der Stelle der Argumentation einsetzt, an der es um die verfahrensrechtliche Durchführung der auf den Rechtsgedanken des § 362 StPO gestützten Rechtskraftdurchbrechung geht. Der Senat führt aus: "Zur "Verfahrensfortsetzung bedarf es[…]weder einer neuen Anklage noch eines erneuten Eröffnungsbeschlusses; vielmehr ist durch Beschluss entsprechend § 206a StPO der Einstellungsbeschluss aufzuheben und das Verfahren in dem Stand fortzusetzen, in welchem es sich vor der irrtümlichen Einstellung befand." [46]
Diese Vorgehensweise erscheint jedoch aus folgenden Erwägungen zweifelhaft. Es wird nicht ersichtlich, inwiefern sich aus der Einstellungsmöglichkeit nach § 206a Abs. 1 StPO im Wege der Analogie zugleich eine Widerrufsmöglichkeit herleiten lässt. [47] Hiergegen spricht zum einen das Fehlen einer gesetzlich normierten Widerrufskompetenz, zum anderen der in Rechtsprechung und Literatur entwickelte und in § 311 Abs. 3 S. 1 StPO für die sofortige Beschwerde ausformulierte Grundsatz der Unwiderruflichkeit rechtskräftiger Beschlussentscheidungen. Dass der Strafprozessordnung im Übrigen formell-gesetzliche Widerrufskompetenzen für Beschlüsse durchaus nicht fremd sind, zeigen die Regelungen §§ 33a, 311a StPO, 311 Abs. 3 S. 2 und 356a StPO, die das Gericht bei Verletzungen des rechtlichen Gehörs zur Prüfung und ggf. Abänderung bzw. Abhilfe des erlassenen Beschlusses berechtigen und verpflichten. [48] Alle diese gesetzlichen Widerrufskompetenzen haben allerdings gemeinsam, dass sie ausdrücklich nur zu Gunsten des Betroffenen bei Verletzungen des durch Art. 103 Abs. 1 GG grundgesetzlich geschützten rechtlichen Gehörs anwendbar sind.
Dass es dem Senat nach der hier vertretenen Auffassung schon im Grundsatz verwehrt war, eigene rechtskräftige Beschlussentscheidungen zu Lasten des Beschuldigten von Amts wegen zu widerrufen, bedeutet nicht die Unabänderlichkeit offensichtlich unrichtiger rechtskräftige Beschlüsse. Für die Korrektur einer auf irrtümlicher Grundlage ergangenen rechtskräftigen Einstellungsentscheidung besteht die Möglichkeit, eine neue Anklage zu erheben und einen neuen Eröffnungsbeschluss zu erwirken. Ob und inwieweit dies erfolgversprechend ist, ist eine Frage der materiellen Rechtskraft und damit der Sperrwirkung eines Einstellungsbeschlusses nach § 206a StPO. [49]
Über diese Frage herrscht bislang Uneinigkeit [50]. Für den vorliegenden Fall mögen folgende Erwägungen entscheidungsleitend sein: Im Ausgangspunkt ist zunächst festzustellen, dass das Gesetz über die Reichweite der materiellen Rechtskraft eines Einstellungsbeschlusses gemäß § 206a Abs. 1 StPO keine Aussage macht. Eine beschränkte Rechtskraft, wie es das Gesetz für den Verwerfungsbeschluss nach § 174 Abs. 2 StPO und den Nichteröffnungsbeschluss nach § 211 StPO vorsieht, gibt es insoweit nicht [51]. Hält man an der prozessualen Gleichwertigkeit einer Einstellung durch Beschluss gemäß § 206a Abs. 1 StPO und durch Urteil nach § 260 Abs. 3 StPO fest [52], wie es im Übrigen auch der Senat im Grundsatz vertritt [53], käme auch Einstellungsentscheidungen nach § 206a Abs. 1 StPO materielle Rechtskraft zu. Jedenfalls im Grundsatz, da an dieser Stelle auch die Wertentscheidungen des Wiederaufnahmerechts zu berücksichtigen wären, die zumindest für den Fall einer manipulativen Einwirkung auf das Verfahren die Durchbrechung der Rechtskraft ermöglichen (§ 362 Nr. 1, 2 StPO). [54]
Dass die Durchführung eines neuen Verfahrens Zeit und Geld kostet, ist Ausdruck der Justizförmigkeit des Prozessrechts und insbesondere bei Entscheidungen zu Lasten des Beschuldigten rechtsstaatlich geboten und hinzunehmen. Es ist an dieser Stelle von vornherein allen Bestrebungen entgegenzutreten, die eigenen Entscheidungskompetenzen ohne jede gesetzliche Grundlage zu erweitern. [55] Dies gilt auch und gerade für letztinstanzliche Entscheidungen des BGH, da diese Leitcharakter für die Untergerichte haben.
Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich in vier Leitsätzen zusammenfassen:
1) Es ist einem Gericht grundsätzlich verwehrt, eigene rechtskräftige Beschlussentscheidungen zu Lasten des Beschuldigten von Amts wegen zu widerrufen und das Verfahren fortzusetzen. Dies gilt auch für durch Täuschung erschlichene rechtskräftige Beschlüsse.
2) Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen ergibt sich weder aus einer entsprechenden Anwendung des § 362 StPO noch des § 206a Abs. 1 StPO.
3) Offensichtlich unrichtige rechtskräftige Beschlüsse sind allerdings nicht zwingend unabänderlich. Einstellungsbeschlüsse nach § 206a Abs. 1 StPO haben keinen Strafklageverbrauch zur Folge und stehen daher der Erhebung einer neuen Anklage nicht entgegen.
4) Dass ein solches Vorgehen Zeit und Geld kostet, ist Ausdruck der Justizförmigkeit des Strafprozessrechts und insbesondere bei Entscheidungen zu Lasten des Beschuldigten rechtsstaatlich geboten und hinzunehmen.
[1] Beschl. vom 21.12.2007, BGHSt 52, 119 = HRRS 2008 Nr. 166 = NJW 2008, 1008 mit Anm. Kühl.
[2] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 7 = BGHSt 52, 119, 120 f.
[3] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 8 und Leits. = BGHSt 52, 119, 121 u. Leits.
[4] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 8 = BGHSt 52, 119, 121.
[5] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 10 = BGHSt 52, 119, 123.
[6] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Leits. = BGHSt 52, 119, Leits.
[7] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 10 / Leits. = BGHSt 52, 119, 123 / Leits.
[8] Zust. Rieß NStZ 2008, 297; Kühl NJW 2008, 1009; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. (2008), § 206a Rn. 11; Abl. LR-Stuckenberg, StPO, 26. Aufl. (2008), Bd. 3, § 206a Rn. 110; Jahn JuS 2008, 459.
[9] Rieß NStZ 2008, 297 r.Sp.
[10] BGHSt 45, 108 = NJW 1999, 3644.
[11] Ebenso Kühl NJW 2008, 1009 ("führt … in die Irre").
[12] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 7 = BGHSt 52, 119, 120.
[13] § 304 Abs. 4 S. 1 StPO; zur materiellen Rechtskraft und dem damit verbundenen Strafklageverbrauch s. unten III.
[14] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 8 = BGHSt 52, 119, 122.
[15] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 9 = BGHSt 52, 119, 122 f.
[16] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 9 = BGHSt 52, 119, 122.
[17] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 10 = BGHSt 52, 119, 123.
[18] Wie hier Jahn JuS 2008, 460.
[19] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 8 = BGHSt 52, 119, 121.
[20] Rieß NStZ 2008, 298 l.Sp.
[21] Dass der Literaturhinweis den Autor selbst betraf, ermöglicht zumindest eine Erklärung für diesen Methodeneinwand.
[22] Z.B. BGH NJW 1999, 2290; ebenso LR-Gössel, StPO, 25. Aufl. (1997), Vor § 359 Rn. 146.
[23] BVerfG NJW 1953, 1137.
[24] BVerfG NJW 1953, 1137, 1138.
[25] S. nur LR-Gössel a.a.O. (Fn. 22), Vor § 359 Rn. 14 f.
[26] Zur generellen Fragwürdigkeit der Wiederaufnahme zu Ungunsten mit Blick auf Art. 103 Abs. 3 GG siehe jüngst U. Neumann, in: Festschrift für Heike Jung (2007), S. 655 ff.
[27] Ebenso Jahn JuS 2008, 460.
[28] Im Grundsatz ebenso LR-Lüderssen/Jahn, StPO, 26. Aufl. (2006), Bd. 1, Einl. Abschn. M., Rn. 47; LR-Matt, StPO, 25. Aufl. (2003), Vor § 304 Rn. 59.
[29] S. z.B. das BVerfG NJW 2000, 2660, 2661; weit. Nachw. bei LR-Lüderssen/Jahn, StPO, 26. Aufl. (2006), Bd. 1, Einl. Abschn. M., Rn. 47. Zur Bedeutung des Gesetzesvorbehalts für eine rechtsstaatliche Strafrechtspflege s. Dallmeyer, Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2. Aufl. (2008), insb. S. 32 ff. (dargestellt am Beispiel des Beweisrechts).
[30] BVerfG NJW 2000, 2660, 2661, entschieden anhand der Ausschließung eines Rechtsanwalts als Zeugenbeistand.
[31] Dies soll nach h.M. jedenfalls dann möglich sein, wenn das Verfahrenshindernis erst in diesem Stadium eintritt (s. Meyer-Goßner a.a.O.[Fn. 8], § 206a Rn. 6).
[32] Z.B. Meyer-Goßner a.a.O. (Fn. 8), Einl. Rn. 112 ff.
[33] Dies ist das historische Motiv des in § 311 Abs. 3 S. 1 StPO normierte Abänderungs- und Abhilfeverbot für das Erstgericht. S. hierzu Löwe/Hellweg, StPO, 12. Aufl. (1907), § 353 StPO (a.F.) Rn. 8 mit Hinw. auf die Motive.
[34] Beginnend mit ihrer Bekanntmachung (§ 35 StPO). S. die Hinw. bei SK-StPO-Frisch, Vor § 304 Rn. 25, Stand: 16. Lfg., Mai 1997.
[35] BayObLG JR 1970, 391; s. auch OLG Köln NJW 1981, 2208; BVerfG NJW 1983, 1900; weit. Nachw. bei LR-Gollwitzer, StPO, 24. Aufl. (1988), Vor § 304 Rn. 39; SK-StPO-Frisch, a.a.O. (Fn. 34), Vor § 304 Rn. 26.
[36] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 8 = BGHSt 52, 119, 122.
[37] S. unten III.
[38] So im Grundsatz auch Rieß, der es allerdings offen lässt, ob dem Betroffenen in casu rechtliches Gehör gewährt werden musste (Rieß NStZ 2008, 298 r.Sp.).
[39] Wie hier LR-Stuckenberg, a.a.O. (Fn. 8), § 206a Rn. 110.
[40] OLG Köln NJW 1955, 314.
[41] OLG Köln NJW 1955, 314, Leitsatz u. 315.
[42] OLG Köln NJW 1981, 2208.
[43] BayObLG JR 1970, 391.
[44] Vgl. § 365 i.V.m. § 296 Abs. 1 StPO (StA) und § 390 Abs. 1 S. 2 StPO (Privatkläger); näher Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 2. Aufl. (2006), Einl. Rn. 6.
[45] Zur verfahrensgestaltenden Bedeutung des Antragserfordernisses für das Wiederaufnahmeverfahren s. Marxen/Tiemann, a.a.O. (Fn. 44), Einl. Rn. 8 ff.
[46] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 10 = BGHSt 52, 119, 123.
[47] So auch Jahn JuS 2008, 460 (gewagte Argumentation "deus ex machina").
[48] § 311a StPO für das (sofortige) Beschwerdeverfahren (bzgl. des Beschwerdegerichts; für das erlassende Gericht gibt es eine Abhilfebefugnis nach § 311 Abs. 3 S. 2 StPO); § 356 für das Revisionsverfahren § 356a StPO und – subsidiär für alle anderen Verfahren – § 33a StPO.
[49] Hierzu LR-Stuckenberg a.a.O. (Fn. 8), § 206a Rn. 112 f.
[50] S. nur LR-Stuckenberg a.a.O. (Fn. 8), § 206a Rn. 112 f.
[51] In beiden Fällen gestattet das Gesetz ein neues Verfahren, wenn neue Tatsachen und Beweismittel vorliegen.
[52] So auch LR-Stuckenberg a.a.O. (Fn. 8), § 206a Rn. 113.
[53] BGH HRRS 2008 Nr. 166, Abs.-Nr. 7 = BGHSt 52, 119, 120 f. Der Senat zieht hieraus aber keine Folgerungen für eine Durchbrechung der Rechtskraft.
[54] Es kann an dieser Stellen offen bleiben, ob bei der Bestimmung der materiellen Rechtskraft nur die Wertentscheidungen der Wiederaufnahme zu Ungunsten des Betroffenen herangezogen werden können, da sich die Wiederaufnahmeregelungen zu Gunsten und zu Ungunsten in dem hier zur Rede stehenden Fall decken (§§ 359, 362 Nr. 1, 2 StPO). Für die alleinige Heranziehung der Wiederaufnahmeregelungen zu Ungunsten votiert jedenfalls Rieß, der in der Überwindung der Sperrwirkung stets eine Entscheidung zu Lasten des Betroffenen sieht (LR-Rieß, StPO, 25. Aufl.[2001], § 206a Rn. 78; ebenso jetzt Stuckenberg in der Neubearbeitung, LR-Stuckenberg a.a.O.[Fn. 8], § 206a Rn. 113).
[55] Zu ähnlichen Tendenzen bei den Revisionsgerichten (zu Lasten der Tatgerichte) s. z.B. die jüngst durch das BVerfG geäußerte Kritik an den erweiterten Möglichkeiten einer eigenen Sachentscheidung des Revisionsgerichts nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO (BVerfG NStZ 2007, 598; dazu jetzt Gaede GA 2008, 394).