HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2008
9. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die Übernahme von Beschützer- und Überwachungsgarantenstellungen

Zugleich Anmerkung zu BGH HRRS 2008 Nr. 123 und BGH HRRS 2008 Nr. 429

Von Prof. Dr. Dr. Kristian Kühl, Univ. Tübingen

Eine "kombinierte" Besprechung zweier BGH-Entscheidungen bietet sich an, wenn diese ein gemeinsames Thema behandeln. Sie wird aber erst dann interessant, wenn die Entscheidungen verschiedene Aspekte des gemeinsamen Themas aufzeigen. Beides ist bei den zeitlich nur vier Monate auseinander liegenden Entscheidungen des 5. Strafsenats – 5 StR 324/07 vom 4.12.2007 (BGH HRRS 2008 Nr. 123, abgedruckt auch in: NStZ 2008, 276) – und des 4. Strafsenats – 4 StR 669/07 vom 6.3.2008 (BGH HRRS 2008 Nr. 429, abgedruckt auch in: NJW 2008, 1897) – gegeben. Das Gemeinsame ist die Garantenstellung kraft Übernahme, die verschiedenen Aspekte betreffen die unterschiedlichen Funktionen dieser Garantenstellung. Während es beim Urteil des 5. Strafsenats um die mögliche "Übernahme einer Schutzfunktion gegenüber einem Hilfsbedürftigen" ging, hatte es der Beschluss des 4. Strafsenats mit einer "arbeitsvertraglichen Übernahme" einer Wartungspflicht und einer daraus folgenden "Schutzfunktion gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, die in den durch unzureichende Wartung begründeten Gefahrenbereich der seiner Aufsicht unterliegenden Firmenfahrzeuge geraten würden", zu tun.

Im ersteren Fall fehlte es nach Ansicht des 5. Strafsenats an einer Garantenstellung des Gehilfen zur illegalen Einreise hinsichtlich einer ihm von moldavischen Schleusern gegen seinen Willen aufgedrängten Person, die er in einer abgekühlten Nacht auf offenem Gelände zurückließ; diese hilfsbedürftige Person verstarb an Unterkühlung. Im letzteren Fall bestand nach Ansicht des 4. Strafsenats eine Garantenstellung des Werkstattleiters eines Speditionsunternehmens hinsichtlich der Verkehrssicherheit der von ihm zu prüfenden Lastkraftwagen; er wurde deshalb wegen fahrlässiger Tötung von Besuchern eines Supermarktes, in den ein Lastkraftwagen infolge defekter Bremsen gerast war, verurteilt. Die näheren Einzelheiten der Sachverhalte interessieren hier ebenso wenig wie weitere strafrechtliche Fragen, die sie aufwerfen. Im ersteren Fall wären etwa weitere Garantenstellungen des ein Gruppenmitglied erfrieren Lassenden zu diskutieren, so etwa die aus Gesetz (§ 95 I Nr. 3 AufenthG i.V.m. § 27 I StGB), die aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe illegal Einreisender und die aus dem illegalen gefahrbringenden Vorverhalten (auch sog. Ingerenz). All dies hat der 4. Strafsenat angesprochen und verworfen. Obwohl das eine Garantenstellung ablehnende Ergebnis auf den ersten Blick überzeugend erscheint, wird es voraussichtlich Diskussionen in Anmerkungen und Besprechungen auslösen. In der hier vorgelegten "kombinierten" Besprechung soll diese Diskussion des Urteils aber unterbleiben. Im letzteren Fall wäre etwa die Abgrenzung von Tun und Unterlassen sowie die sog. "Quasikalität" des Unterlassens des Werkstattleiters hinsichtlich des Todes der Unfallopfer zu diskutieren; dies hat der Verf. dieser "kombinierten" Besprechung bereits in einer Kurz-Anmerkung getan: NJW 2008, 1899.

Hier interessieren allein die eingangs angesprochene Gemeinsamkeit beider Entscheidungen und deren verschiedene Aspekte. Die dafür entscheidenden Begriffe finden sich in beiden Entscheidungen und lauten: "Übernahme" und "Schutzfunktion". Mit dem Begriff "Übernahme" wird ein Entstehungsgrund einer Garantenstellung benannt. Mit dem Begriff "Schutzfunktion" wird die heute weit verbreitete, aber nicht unbestittene (vgl. nur die Neukommentierung des § 13 StGB in der 12. Auflage des Leipziger Kommentars durch Weigend, 2007, § 13 Rn. 22) sog. Funktionenlehre angesprochen. Die eine Gruppe umfasst alle Beschützergaranten mit Obhutspflichten für ein bestimmtes hilfsbedürftiges Rechtsgut, das vor Angriffen aus allen Richtungen zu schützen ist; unbestrittenes Beispiel ist die Mutter, die für Leib und Leben ihres Kleinkindes Beschützergarantin ist. Die andere Gruppe umfasst alle Überwachungsgaranten mit Sicherungspflichten hinsichtlich einer Gefahrenquelle zugunsten aller möglichen, von dieser Gefahrenquelle Betroffenen; unbestrittenes Beispiel ist die Verkehrssicherungspflicht des Hauseigentümers hinsichtlich seines Daches zugunsten aller Passanten, die in den "Einzugsbereich" herabfallender Ziegel geraten. Auf unsere Fälle bezogen kommt für den "Schleusergehilfen" nur eine Beschützergarantenstellung mit Obhutspflichten hinsichtlich Leib und Leben von Personen aus der Gruppe der illegal Einreisenden in Betracht. Für den Werkstattleiter des Speditionsunternehmens hingegen kommt nur eine Überwachungsgarantenstellung mit Sicherungspflichten hin-

sichtlich der "Bremsfähigkeit" der von ihm untersuchten Lastkraftwagen zugunsten aller in den "Einzugsbereich" der Gefahrenquelle LKW kommenden Personen.

Diese sog. Funktionenlehre hat zunächst den Vorteil, dass sie anschaulich unterschiedliche Funktionen umschreibt, die Garanten zur Vermeidung der Strafbarkeit aus einem unechten Unterlassungsdelikt zu erfüllen haben. Darüber hinaus ermöglicht sie eine Differenzierung hinsichtlich anerkannter Garantenstellungen. Schlagendes Beispiel für eine solche Differenzierung ist die – weitgehend (vgl. aber Gallas, Studien zum Unterlassungsdelikt, 1989, S. 92. f., der auf § 323 c StGB verweist) – anerkannte Garantenstellung von Ehegatten. Ehegatten schulden sich zwar gegenseitigen Beistand in der Gefahr für wichtige Rechtsgüter wie Leib und Leben des Partners; d.h. sie sind Beschützergaranten. Sie sind aber keine Überwachungsgaranten hinsichtlich des Diebesabsichten verfolgenden Ehegatten zugunsten aller möglichen in den "Einzugsbereich" dieses "diebischen" Partner gelangenden Eigentümer; eine solche Beaufsichtigungspflicht würde auf eine Bevormundung des Ehegatten hinauslaufen, die mit dem partnerschaftlichen Eheverständnis des Familienrechts des BGB nicht zu vereinbaren wäre. Es gibt allerdings auch Garantenstellungen, die sowohl eine Beschützergarantenstellung als auch eine Überwachungsgarantenstellung enthalten. Ein Beispiel ist die Garantenstellung der Eltern gegenüber ihren (minderjährigen) Kindern. Die Eltern haben nicht nur Leib und Leben ihrer Kinder gegenüber Angriffen von dritter Seite zu schützen – insoweit sind sie Beschützergaranten -, sondern auch ihre Kinder von geplanten "Diebeszügen" in Kaufhäusern abzuhalten – insoweit sind sie Überwachungsgaranten.

Diesem letzten Beispiel entspricht die vorliegende Konstellation. In beiden Fällen geht es um die – auch weitgehend – anerkannte Garantenstellung kraft Übernahme. Das ist die eingangs betonte "Gemeinsamkeit" beider Entscheidungen. Die – ebenfalls eingangs hervorgehobenen – "verschiedenen Aspekte" verdanken sich den unterschiedlichen Funktionen, die die "Übernehmenden" zu erfüllen haben. Wie bereits kurz angesprochen: der "Schleusergehilfe" hat allenfalls für den Schutz von Leib und Leben der Mitglieder einer illegal einreisenden Gruppe zu sorgen; der Werkstattleiter hingegen hat die ihm zur Untersuchung überlassenen Lastkraftwagen (= Gefahrenquelle) auf ihre Verkehrssicherheit hin zu untersuchen, damit nicht Dritte von unsicheren Lastkraftwagen verletzt oder getötet werden.

Sowohl die "Gemeinsamkeit" als auch die "verschiedenen Aspekte" erfreuen natürlich besonders einen Lehrbuchautor, der sich vor allem um die Systematisierung des anfallenden Rechtsstoffes bemühen sollte. Die Besonderheit des "Rechtsstoffes" bei den Garantenstellungen ist durch gesetzgeberische "Kargheit" geprägt. In der Strafrechtswissenschaft gibt es immer noch Stimmen, welche die Regelung des § 13 I StGB wegen fehlender gesetzlicher Bestimmtheit für verfassungswidrig halten (Verstoß gegen Art. 103 II GG). Für die Praxis ist diese Auffassung allerdings vernachlässigbar, seit das Bundesverfassungsgericht (abgedruckt in: NJW 2003, 1030 mit krit. Bespr. Seebode, JZ 2004, 305 ff.; vgl. auch Kühl, Herzberg-FS, 2008, S. 177, 189 f.) die hinreichende Bestimmtheit der Norm – § 13 I StGB – angenommen hat. Daran wird man hinsichtlich der Bestimmtheit durch das Gesetz weiterhin zweifeln können. Genauer betrachtet setzt das Bundesverfassungsgericht auf die Bestimmbarkeit des § 13 I StGB durch die Rechtsprechung der Strafgerichte.

Angesichts der besonderen Bedeutung der Rechtsprechung für die Entwicklung und Begründung von Garantenstellungen ist man für jede nachvollziehbare Konkretisierung dankbar. Hinsichtlich der Konkretisierung der Garantenstellung kraft Übernahme "bringen" allerdings beide Entscheidungen "nicht viel". Immerhin wiederholt der 5. Strafsenat die bisherige Rechtsprechung, nach der die "Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft … noch keine gegenseitigen Hilfspflichten" begründet, für eine neue Gemeinschaft – eine Gruppe illegal Einreisender. In solchen Gruppen können Beschützergarantenstellungen erst durch "Übernahme" entstehen (auch hier folgt der 5. Strafsenat der bisherigen Rechtsprechung; vgl. Kühl, Strafrecht AT, 6. Auflage 2008, § 18 Rn. 65). Hervorzuheben ist außerdem der Gesichtspunkt der Freiwilligkeit der Übernahme: sie darf niemandem "gegen seinen Willen … aufgedrängt" werden. Etwas missverständlich ist es hingegen, wenn der 4. Strafsenat von einer "arbeitsvertraglichen Übernahme" durch den Werkstattleiter des Speditionsunternehmens spricht. Damit soll wohl nur darauf hingewiesen werden, dass eine Übernahme von Verkehrssicherungspflichten auch durch Vertrag erfolgen kann, nicht aber bestritten werden, dass es entscheidend auf die tatsächliche Übernahme ankommt; das lässt sich daraus schließen, dass der 4. Strafsenat auf BGHSt 47, 224, 229 (= "Wuppertaler Schwebebahn") verweist, wo gerade die tatsächliche Übernahme betont wird.

Wichtiger aber als die Ausführungen zur "Übernahme", die immerhin zeigen, dass es neben einer Funktionsbestimmung der Garantenstellungen auch der Benennung eines Entstehungsgrundes bedarf, ist der Beitrag beider Entscheidungen zur Systematisierung des Rechtsstoffs der Garantenstellung. Beide Entscheidungen bestätigen die in der Strafrechtswissenschaft bereits vollzogene Systematisierung der "Übernahme". Eine "tatsächliche, freiwillige Übernahme" schafft nicht nur Beschützergarantenstellungen (Kühl, a.a.O., § 18 Rn. 68 ff.), sondern auch Überwachungsgarantenstellungen (Kühl, a.a.O., § 18 Rn. 119 ff.). Das freut – wie gesagt – den Lehrbuchautor, der "sein System" bzw. das System, für das er sich entschieden hat, von der Rechtsprechung bestätigt sieht. Hinzukommt die Freude darüber, dass er zur Veranschaulichung des Systems nicht mehr allein auf die bekannten Schulfälle oder gar die "Lehrbuchkriminalität" angewiesen ist, sondern auf "echte Fälle aus dem wirklichen Leben" zurückgreifen kann.

Wo soviel Freude aufkommt, darf das "Wasser" nicht fehlen, das in den "Wein" gegossen wird. Dieses "Wasser" sind die offen gebliebenen Probleme im Bereich der Garantenstellungen. Obwohl sich solche Probleme in den hier besprochenen Fällen und Entscheidungen nicht stellten, sollen sie hier – aus Anlass der Fälle und Entscheidungen – doch wenigstens kurz angesprochen werden. Hinsichtlich der "Übernahme" wäre zu fragen, ob ihre Voraussetzungen dieselben sind, egal ob sie zu einer Beschützer- oder einer Überwachungsgarantenstellung

führt. Des Weiteren wäre zu fragen, ob bei der "Übernahme" auch immer ein Übergebender oder Übertragender benannt werden muss. Bekannt und in der Rechtsprechung gesichert ist nur der Umstand, dass der Übergebende bzw. der Übertragende seine Garantenstellung zumindest dann nicht los wird, wenn der Übernehmende ersichtlich seiner übernommenen Garantenstellung nicht gerecht wird. So hat jüngst das OLG Stuttgart zu Recht das Fortbestehen der Verkehrssicherungspflicht des Bauherrn angenommen, wenn der beauftragte Bauunternehmer ersichtlich nachlässig arbeitet (OLG Stuttgart NStZ 2006, 450, im Anschluss an BGHSt 19, 286 und 47, 224; zu dieser Rechtsprechung vgl. Kühl, a.a.O., § 19 Rn. 6 und LK-Weigend, § 13 Rn. 60).

Noch weiter über die hier besprochenen Fälle und Entscheidungen hinausgehend wäre hinsichtlich der sog. Funktionenlehre zu fragen, wie sie mit den Entstehungsgründen von Garantenstellungen zusammenpasst. Klar ist nur, dass die Beschreibung der Funktion nicht die Benennung eines sachlichen Grundes ersetzt. Dass die Suche nach einem oder gar dem sachlichen Grund aller Garantenstellungen bisher nicht zur Zufriedenheit aller geführt hat, steht der entsprechenden weiteren Suche zwar nicht entgegen, dämpft aber die Erwartungen. Mehrere Fragen stellen sich bei der Garantenstellung der Ingerenz. Diese beginnen mit ihrer grundsätzlichen Infragestellung, sie setzen sich fort bei ihrer Einordnung in die Beschützer- oder Überwachungsgarantenstellungen und enden bei ihren Voraussetzungen wie z.B. der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens oder der Schaffung einer nahen Gefahr. – Ein "weites Feld", das hier nicht mehr "bestellt" werden kann.