HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2008
9. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Wann kommt die zweite Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl?

Anmerkungen zu BGH, Beschluss v. 15. Juni 2008 – 4 ARs 22/07 (Verjährungserheblichkeit bei der Auslieferung nach Polen) = HRRS 2008 Nr. 536

Von Univ. Prof. Dr. Otto Lagodny, Salzburg

I. Ausgangspunkt

Dem Beschluss ist in Ergebnis und Begründung völlig uneingeschränkt zuzustimmen. Der Gesetzgeber kann für den Moment erleichtert sein, dass der BGH nicht eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG machen musste, sondern noch einen überzeugenden Weg gefunden hat, um die Auslieferung für unzulässig zu erklären. Der Fall zeigt nämlich, dass der Gesetzgeber des Zweiten Haftbefehlsgesetzes von 2006 (EuHbG 2006) seine Hausaufgaben aus der BVerfG-Entscheidung aus 2005 nicht gemacht hat. Man darf gespannt sein, wann sich der nächste Mangel zeigen wird.

Es ist nicht die Aufgabe der Rechtsprechung (unten III), Mängel des Gesetzgebers zu beseitigen, wenn dieser den qualifizierten Gesetzesvorbehalt von Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG inhaltlich unzureichend bestimmt hat, weil er wiederum den Gestaltungsspielraum nicht genutzt hat, den der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl (EuHbRb) ihm lässt (unten II).

II. Der Gestaltungsspielraum von Art. 4 Ziffer 4 des EuHbRb

Das Sachproblem im vorliegenden Fall bestand in folgender Ausgangsfrage: Darf man einen deutschen Staatsangehörigen aus Deutschland nach Polen ausliefern, wenn für die zugrunde liegende Tat auch die deutsche Strafgewalt besteht, aber Verfolgungsverjährung zwar in der Bundesrepublik Deutschland, nicht jedoch in Polen eingetreten ist?

Nach Art. 10 EuAlÜbk war die eindeutige Antwort: nein. Vor dem Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl war das ein Regelfall der Nichtbewilligung und zwar gerade bei ausländischen Verfolgten. Über bilaterale Ergänzungsverträge – wie den hier in Frage stehenden deutsch-polnischen – wurde diese Regel für ausländische Verfolgte umgedreht: Entscheidend ist allein die Verjährung im ersuchenden Staat (hier: Polen). An diese neue Regel knüpft der EuHbRb an, gestattet aber die Rück-

kehr zur alten Regel. Die Antwort des Rahmenbeschlusses lautet nämlich nach dessen Art. 4 Abs. 4: In einem solchen Fall "kann" Deutschland die Auslieferung verweigern.

Ob das der Fall ist, hängt vom deutschen parlamentarischen Umsetzungsgesetz ab, weil sich das "kann" an den nationalen Gesetzgeber richtet. Dieser muss aber den qualifizierten Gesetzesvorbehalt nach Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG beachten und umsetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber im Jahr 2005 zudem ausdrücklich die "Gesamtfrage" auf den Tisch gelegt: Unter welchen Voraussetzungen sollen deutsche Staatsangehörige ausgeliefert werden? Das Gericht hat sich nicht auf einzelne Mängel in dieser Frage beschränkt. Es hat klar gefordert: "Der Gesetzgeber war jedenfalls verpflichtet, die Umsetzungsspielräume, die der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten belässt, in einer grundrechtsschonenden Weise auszufüllen."[1] Dem ist er im Gesetz von 2006 jedenfalls nicht erschöpfend nachgekommen, obwohl z. B. Art. 4 Ziffer 4 EuHbRb dem nationalen Gesetzgeber einen wesentlichen Umsetzungsspielraum überlässt.

Diese Norm gilt für Verfolgte jeder Nationalität, also nicht nur für eigene Staatsangehörige. Deshalb war der deutsche Gesetzgeber nach der Nichtigerklärung des EuHBG 2004 vor folgende Fragen gestellt:

• Für welche Fälle und im Verhältnis zu welchen Staaten soll die ("neue") Regel von Ziffer 4 des Art. 4 EuHbRb gelten: "Für die Verjährung ist allein das Recht des ersuchenden Staates maßgeblich" und für welche Fälle soll die "alte" Regel des Art. 10 EuAlÜbk gelten ("für die Verjährung gilt allein das Rechts des ersuchten Staates")?

• Soll sie

- für Staatsangehörige,

- für Inländer,

- für alle gelten?

• Soll sie nur für Taten mit Inlandsbezug oder auch für Taten mit Auslandsbezug gelten?

• Wie sieht es gegebenenfalls mit "Mischfällen" aus?

• Wie soll das Gesamtverhältnis all dieser Varianten zueinander aussehen?

Ob diese Fragen im Gesetzgebungsverfahren überhaupt erörtert worden sind, lässt sich jedenfalls nicht anhand der Materialien klären; diese enthalten zu Art. 4 Ziffer 4 EuHbRb nichts.[2] Wenn die Frage aber nicht erörtert worden ist, dann liegt ein grober Mangel vor.

Man mag an dieser Stelle einwenden: "Aber jedes Detail kann der Gesetzgeber doch nicht regeln!" Dann lautet aber die Gegenfrage: Ist Verjährungserheblichkeit ein bloßes Detail oder etwas Wichtiges? Letzterenfalls hätte sie der Gesetzgeber selbst regeln müssen und sie nicht der Entscheidung durch die Rechtsprechung überlassen dürfen. Aus meiner Sicht handelt es sich schon deshalb um eine wichtige Frage, weil Art. 4 Ziff. 4 EuHbRb nicht zwischen Staatsangehörigen des ersuchten Staates und Nicht-Staatsangehörigen dieses Staates unterscheidet. Der Gesetzgeber hatte also unter anderem die oben angesprochenen Fragen zu entscheiden. Auch der qualifizierte Gesetzesvorbehalt nach Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG unterstreicht dies.

Dieser Frage konnte sich der Gesetzgeber jedenfalls nicht dadurch entledigen, dass er auf die Begründung des für nichtig erklärten Gesetzes verwies, weil sich das neue Gesetz vom nichtigen nur dadurch abheben soll, "als das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005 Änderungen gebietet"[3] . Der vorliegende Fall zeigt, dass der Gesetzgeber insoweit den Regelungsbedarf schlicht unzutreffend eingeschätzt hat. Dann kann er natürlich auch seinen Spielraum nicht erkennen.

Wenn er aber eine wesentliche Frage nicht geregelt hat, dann hat der deutsche Gesetzgeber den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht hinreichend genügt. Mit anderen Worten: spätestens nach dem Urteil von 2005 hätte der Gesetzgeber eine ausdrückliche Regelung zu allen Fragen der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger treffen müssen. Solche Lücken wie hier hätte er nicht lassen dürfen.

III. Staats- oder individualbezogenes Meistbegünstigungsprinzip?

Der Gesetzgeber durfte die Frage, ob und inwieweit der Ergänzungsvertrag ergänzend herangezogen werden kann, auch nicht über allgemeine Grundsätze der Auslegung lösen lassen (lex posterior/specialis; Verweisungstechnik des Gesetzgebers, etc) und die Verantwortung auf die Rechtsprechung abwälzen. Sachgrund dafür ist, dass das hierfür in den vom Senat referierten Argumentationen[4] bemühte "Meistbegünstigungsprinzip" von einer Meistbegünstigung nur der Staaten, nicht aber der Individuen ausgeht[5] . Gemeint ist nämlich, dass diejenigen nach Art. 31 EuHbRb außer Kraft getretenen Konventionen und Normen herangezogen werden sollen, die für die Auslieferung am günstigsten sind.[6] Aus der Sicht eines Individuums ist unter "Meistbegünstigung" jedoch etwas völlig anderes zu verstehen: Dem Einzelnen darf kein Nachteil daraus entstehen, dass eine Strafverfolgung grenzüberschreitend erfolgt; insbesondere dürfen seine

Grundrechte nicht mehr an der Grenze angehalten werden[7] .

Im Grunde kehrt hier also die mit der Soering-Entscheidung des EuGMR[8] überkommen geglaubte Dichotomie wieder: Statt die Rechtsbeziehungen dreidimensional zu denken, also im Dreieck

<ersuchender Staat> <ersuchter Staat>
<Individuum> ,

werden subkutan und sehr versteckt wieder zweidimensionale Denkweisen sichtbar: Staatliche Interessen stehen im Vordergrund und nur insoweit spricht man von Meistbegünstigung: entweder der eine oder der andere Staat. Das Individuum verschwindet wieder aus dem Gefüge der Rechtsbeziehungen.

Entscheidend ist bei Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG jedoch der grundrechtliche Zusammenhang: Mit einem solchen staatsbezogenen Meistbegünstigungsprinzip kann man gerade nicht eine Frage lösen, die den individualrechtlichen Belangen des Art. 16 Abs. 2 GG gerecht werden soll. Das ist nicht möglich. Im Lichte der BVerfG-Entscheidung muss das schon der Gesetzgeber selbst entscheiden. Hätte der BGH sich jedoch im vorliegenden Fall für die Lösung über ein staatsbezogenes Meistbegünstigungsprinzip entschieden, dann hätte dies im Klartext bedeutet: Eine Lücke des Gesetzgebers bei der Wahrnehmung eines qualifizierten Gesetzesvorbehalts wird von der Rechtsprechung durch Gesichtspunkte geschlossen, die überhaupt nicht an Grundrechten orientiert sind, sondern ausschließlich an Aspekten des – um die Sprache der Grundrechtsdogmatik aufzugreifen – "öffentlichen Interesses" oder des "Gemeinwohls". Das kann verfassungsrechtlich keinerlei Sinn machen.

Es sei deshalb hier ebenfalls dahingestellt, ob man das Ergebnis auch über das geradezu verwirrende Zusammenspiel folgender drei IRG Vorschriften begründen kann:

• § 1 Abs. 4 S. 3 IRG: "Die in Absatz 3 genannten völkerrechtlichen Vereinbarungen und die Regelungen über die vertragslose Rechtshilfe dieses Gesetzes bleiben hilfsweise anwendbar, soweit nicht der Achte Teil abschließende Regelungen enthält."

• § 78 IRG: "Soweit dieser Teil keine besonderen Regelungen enthält, finden die übrigen Bestimmungen dieses Gesetzes auf die im Zweiten, Dritten und Fünften Teil geregelten Ersuchen eines Mitgliedstaates Anwendung."

• § 82 IRG: "Die §§ 5, 6 Abs. 1, § 7 und, soweit ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, § 11 finden keine Anwendung." (also ist § 9 IRG anwendbar)

Die zum Verständnis erforderliche juristische Akrobatik kann jedenfalls für die hier anstehenden Fragen der Verjährungsrelevanz kaum eine mehr als zufällige Antwort geben.

IV. Schlußbemerkungen

Die Entscheidung zeigt darüber hinaus einmal mehr den ambivalenten Umgang mit der Auslieferung von Staatsangehörigen: Der Rahmenbeschluss sagt: die Verjährung soll nicht maßgeblich sein für die Auslieferung, es sei denn der ersuchte Staat habe Strafgewalt hinsichtlich der Tat. Die Strafgewalt der Bundesrepublik Deutschland besteht hier nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB. Diese Norm ist eine Ausprägung des aktiven Personalitätsprinzips, weil die Bundesrepublik zu Zeiten der Schaffung des § 7 StGB eigene Staatsangehörige ausnahmslos nicht auslieferte. Genau diese Norm soll jetzt die Grundlage dafür bieten, dass man einen deutschen Staatsangehörigen nicht ausliefert? Das ist zirkulär: aus dem Ersatz für die Nichtauslieferung wird die Grundlage der Nichtauslieferung.

Wie dem auch sei: Der Gesetzgeber sollte diesen Fall zum Anlass nehmen, das EuHbG 2006 nochmals auf den Prüfstand zu heben. Es wurde sehr schnell – und wie dieser Fall zeigt: viel zu schnell gestrickt. Jedenfalls wäre es ausgesprochen peinlich, gäbe es nochmals einen solchen Fall wie den vorliegenden.


[1] BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2005 – 2 BvR 2236/04 = HRRS 2005 Nr. 550, Rn. 80.

[2] BT-Drs. 16/544 bzw. 16/2015.

[3] BT-Drs. 16/544, S. 7.

[4] Rn. 18.

[5] Dass die Meistbegünstigung in diesem Sinne auch zu absurden Ergebnissen führt, weil sie die Regelungen des Europäischen Haftbefehls aushebelt, haben Böhm/Rosenthal zutreffend hervorgehoben (in: Ahlbrecht/Böhm/Esser/Hugger/ Kirsch/Rosenthal, Internationales Strafrecht in der Praxis, 2008[nachfolgend: A/B/E/H/K/R-Bearbeiter], Rn. 769).

[6] Vgl. dazu neben den Nachweisen in der hier zu besprechenden Entscheidung (Rn. 18) die Nachweise bei A/B/E/H/K/R-Böhm/Rosenthal, Rn. 769.

[7] Vgl. Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl. (2006), Einleitung Rn. 105-106.

[8] EGMR v. 7. Juli 1989 – 1/1989/161/217 = NJW 1990, 2183 m. Anm. Lagodny.