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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2008
9. Jahrgang
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Der Senat ist der Auffassung, dass die in den §§ 146 Abs. 3, 134 Abs. 1 Nr. 1 NJVollzG getroffene Regelung der gerichtlichen Zuständigkeit für die Überprüfung des Schriftwechsels von Untersuchungsgefangenen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, weil dem Land Niedersachsen insoweit die Gesetzgebungsbefugnis fehlt. Er legt die Sache deshalb gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vor.
1. Wird bei einer verfahrensbeendenden Absprache unter Beteiligung des Gerichts rechtswidrig ein Rechtsmittelverzicht vereinbart, so hat dies nicht die Unwirksamkeit der Absprache im Übrigen zur Folge. (BGHSt)
2. Die Ankündigung des Angeklagten, gegen das aufgrund einer Verfahrensabsprache ergehende Urteil Rechtsmittel einzulegen, ist für sich genommen kein Umstand, der die Bindung des Gerichts an eine zulässige Verständigung beseitigt. Sie rechtfertigt es auch nicht, dass sich die Staatsanwaltschaft von ihrer in die Absprache einbezogenen Zusage löst, zu einer anderen Tat des Angeklagten einen Antrag nach § 154 Abs. 2 StPO zu stellen. (BGHSt)
3. Bindet das Gericht die Staatsanwaltschaft durch deren Zusage einer Antragstellung nach § 154 Abs. 2 StPO in eine Verfahrensabsprache ein, so hat es für den Fall, dass diese ihr Versprechen sodann unter Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht einhält, die Verpflichtung, den Angeklagten, der im Vertrauen auf die Zusage die ihm vorgeworfenen anderen Taten eingeräumt hat, im Rahmen der rechtlichen Gestaltungsspielräume von den sich hieraus ergebenden Folgen so weit freizustellen, dass die getroffenen Absprachen weitestmöglich eingehalten werden. Nur wenn sich auf diese Weise kein Ergebnis erzielen lässt, das noch mit dem Gebot fairer Verfahrensführung vereinbar wäre, kommt ein Verfahrenshindernis für die Verfolgung der Tat in Betracht, zu der der Antrag nach § 154 Abs. 2 StPO angekündigt worden ist. (BGHSt)
4. Nimmt der Tatrichter Erklärungen der Staatsanwaltschaft in eine Verfahrensabsprache mit dem Angeklagten auf und macht er sich die sich daraus für den Angeklagten ergebenden Zusagen zu eigen, so ist er durch das Gebot fairer Verfahrensgestaltung (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG) gehalten, die Absprache in seinem Zuständigkeitsbereich soweit rechtlich möglich umzusetzen, wenn der Angeklagte seinen Teil der Ab-
rede erfüllt. Stellt in einem solchen Fall die Staatsanwaltschaft - absprachegemäß - nach der geständigen Einlassung des Angeklagten einen Antrag nach § 154 Abs. 2 StPO, so ist der Tatrichter verpflichtet, diesem Antrag zu entsprechen. (Bearbeiter)
1. Einzelfall einer rügevernichtenden Protokollberichtigung trotz Widerspruchs des Verteidigers gegen die Berichtigung wegen eines „fehlenden wesentlichen inhaltlichen Dissenses“.
2. Das nach § 67 Abs. 1 JGG i.V.m. § 258 Abs. 2 StPO den Erziehungsberechtigten zustehende „(vor)letzte Wort“ ist mit dem höchstpersönlichen Recht des Angeklagten auf das letzte Wort nicht vollständig vergleichbar und kann inhaltlich bereits durch ein vom Vorsitzenden mit den Eltern geführten Gespräch gewährt sein.
Tritt durch eine späte Terminsanberaumung eine denkbar geringe Verfahrensverzögerung von „wenigen Monaten“ ein, muss ein Gericht dem Angeklagten nicht stets zur Kompensation der eingetretenen Verfahrensverzögerung über die bloße Feststellung des Rechtsverstoßes hinaus eine weitergehende Entschädigung zubilligen, wenn die verhängte Gesamtstrafe insgesamt milde erscheint.
1. Auch bei einer wiederholten Zurückverweisung zu neuer Verhandlung und Entscheidung auf Grund einer fehlerhaften Beweiswürdigung steht der Fortführung eines Verfahrens nicht stets ein aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK herzuleitendes Verfahrenshindernis entgegen. Ein solches ist in der Rechtsprechung nur in außergewöhnlichen Einzelfällen anerkannt, in denen ein durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK im Rahmen einer neuen Sachentscheidung nicht mehr kompensiert werden kann (vgl. BGHSt 46, 159, 171; BVerfG NJW 2006, 2684).
2. Überschreitet die Verfahrensdauer die Grenze der absoluten Verjährung um mittlerweile mehr als fünf Jahre und wurde das Verfahren jedenfalls in der Zeit zwischen Zurückverweisung der Sache durch den Senat und Beginn der zweiten Hauptverhandlung über einen Zeitraum von etwa drei Jahren aus allein im Bereich der Justiz liegenden Gründen nicht gefördert wurde, liegt ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK vor.
1. Die Behauptung, das Vertrauen zwischen Verteidiger und Angeklagten bestehe nicht mehr, kann für sich genommen einen Anspruch auf Widerruf der Bestellung eines Verteidigers nicht begründen. Sie müsste auf konkreten Tatsachenvortrag gestützt sein (BGH NStZ 1998, 311, 312), der nicht schon in der nicht näher ausgeführten Behauptung mangelhafter Leistungen der bestellten Verteidigerin liegt.
2. Der Umstand, dass die Verteidigerin hier auch selbst ihre Entpflichtung beantragt hat, führt zu keinem anderen Ergebnis (BGHSt 39, 310, 314 m.w.N.). Ein im Verhältnis des Angeklagten zum Verteidiger wurzelnder wichtiger Grund zur Entpflichtung eines bestellten Verteidigers kann regelmäßig nicht bejaht werden, wenn dieser Grund allein vom Angeklagten verschuldet ist (BGHSt aaO 315 m.w.N.).
3. Ob und unter welchen besonderen Umständen Ausnahmen von alledem in Betracht kommen können, etwa weil der Verteidiger Strafanzeige gegen den Angeklagten erstattet hat (vgl. BGH NStZ 1997, 401; BGHSt aaO 315 f. m.w.N.), kann hier offen bleiben. Ebenso wenig muss der Senat unter den gegebenen Umständen der Frage nachgehen, ob die anwaltliche Schweigepflicht näheren Darlegungen zu ungerechtfertigten Beschimpfungen des Angeklagten gegenüber der Verteidigerin notwendig entgegengestanden hätte, nachdem der Angeklagte gegenüber dem Gericht geltend gemacht hatte, diese erbringe keine Leistungen (vgl. BGH NStZ 2000, 326, 327).
4. Gutachten zu für den Schuld- oder Strafausspruch wesentlichen Fragen sind stets mündlich in der Hauptverhandlung zu erstatten, Gutachten zu anderen Fragen (z.B. Verhandlungsfähigkeit) dann, wenn es das Gericht. Dabei ist der Gutachter stets berechtigt, auch ohne gerichtliche Anordnung ein vorläufiges schriftliches Gutachten zu den Akten zu bringen (BGH GA 1963, 18. Die unterschiedlich beurteilte Frage, ob die Verfahrensbeteiligten bei einem mündlich in der Hauptverhandlung zu erstattenden Gutachten unabhängig von den Umständen des Einzelfalls stets einen Anspruch darauf haben, dass ihnen dieses Gutachten auch schriftlich vorgelegt wird und ob dies gegebenenfalls schon vor Erstattung des Gutachtens in der Hauptverhandlung zu geschehen hat, kann der Senat hier offen lassen. Es ist jedenfalls ausreichend, wenn die Verteidigung eine schriftliche Ausarbeitung zehn Tage vor dem mündlichen Termin erhält.
5. Aus den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit und der Notwendigkeit, gegebenenfalls auch erst in der Hauptverhandlung angefallene Erkenntnisse in das Gutachten einzubeziehen, folgt, dass allein der Inhalt des in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachtens maßgebend ist (vgl. BGH, Beschl. vom 12. September 2007 - 1 StR 407/07). Nur hierauf kann die Entscheidung beruhen, nur dessen Mängel oder Unklarheiten, die sich im Einzelfall auch aus nicht ohne weiteres erklärlichen oder jedenfalls erläuterten Differenzen zu einem vorläufigen schriftlichen Gutachten ergeben können, können den Bestand des Urteils gefährden.
1. Zwar muss einem Beweisbegehren nur nach Maßgabe der Aufklärungspflicht nachgegangen werden, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne begründete Vermutung für ihre Richtigkeit aufs Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellt wurde, so dass es sich in Wahrheit nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt. Die Frage, ob ein Beweisantrag nur zum Schein gestellt ist, ist aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht infrage gestellten Tatsachen zu beurteilen.
2. Von einer „ins Blaue hinein“ aufgestellten Beweisbehauptung kann aber nicht schon dann gesprochen werden, wenn die unter Beweis gestellte Tatsache objektiv ungewöhnlich oder unwahrscheinlich erscheint oder andere Möglichkeiten näher gelegen hätten.
Werden nur unverbindliche, rein informelle Vorgespräche erwiesen, nicht jedoch eine von allen Beteiligten gewollte Absprache über das Ergebnis der Hauptverhandlung, bedarf es einer qualifizierten Rechtsmittelbelehrung nicht.
1. Maßgeblich für die Qualifikation einer Auskunftsperson als Sachverständiger oder als (sachverständiger) Zeuge ist nicht die von einem Antragsteller in seinem Beweisantrag gewählte Bezeichnung, sondern der Inhalt der Bekundung der Auskunftsperson.
2. Die Absicht, eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, muss das leitende, die Tat beherrschende Motiv des Angeklagten und die Triebfeder seines Handelns gewesen sein (vgl. BGH NStZ 2005, 332, 333 m.w.N.) und mit konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte belegt werden.
1. Der vorherigen Anhörung des Antragstellers zu einem Einstellungsantrag des Generalbundesanwalts bedarf es grundsätzlich nicht, wenn er durch die teilweise Einstellung des Verfahrens nicht beschwert ist (BGH NStZ 1995, 18). Dies ist bei unterschiedlichen Straftaten regelmäßig der Fall. Allerdings muss eine Mitteilung des Einstellungsantrags erfolgen, wenn das Tatgericht das nun eingestellte Tatgeschehen bei der Feststellung der verbleibenden Straftat und bei der diesbezüglichen Strafbemessung berücksichtigt hat.
2. Eine Anhörungsrüge gegen Entscheidungen des Revisionsgerichts ist nur dann erfolgreich, wenn der Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt ist.
Die Anhörungsrüge dient nicht dazu, das Revisionsgericht zu veranlassen, das Revisionsvorbringen und die mit der Revision angegriffene Entscheidung nochmals zu überprüfen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2 6. November 2006 - 1 StR 50/06 = NStZ-RR 2007, 57; 9. November
2006 - 1 StR 360/06 - und 7. August 2007 - 4 StR 142/07).
1. Das Tatgericht ist nicht gehindert, vom Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen; denn dieses kann stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein (vgl. BGHR StPO § 261 Sachverständiger 5). Auch muss der Tatrichter nicht in jedem Fall, in dem er von dem Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen abweichen will, einen weiteren Sachverständigen hinzuziehen. Voraussetzung ist aber, dass er die für die abweichende Beurteilung erforderliche Sachkunde besitzt, selbst wenn er erst durch das Gutachten genügend sachkundig geworden ist, um die Beweisfrage beurteilen zu können (vgl. BGH NStZ 2000, 437). Außerdem muss der Tatrichter, wenn er eine Frage, für die er geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, nicht nur die maßgeblichen Darlegungen des Sachverständigen wiedergeben, sondern auch seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1; BGH NStZ-RR 1997, 172).
2. Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn auch bei einem - rückgerechneten - sehr hohen Tatzeitblutalkoholwert dessen indiziellem Gewicht für eine Schuldfähigkeitsbeurteilung keine vorrangige Bedeutung vor anderen Beweisanzeichen beigemessen würde, weil zwischen der Tat und der Blutentnahme eine lange Zeit lag (vgl. BGHSt 35, 308, 315, 317). Hierbei müssen aber tatsächlich aussagekräftige psychodiagnostische Beweisanzeichen herangezogen werden. Als solche sind nur Umstände in Betracht zu ziehen, die Hinweise darauf geben können, ob das Steuerungsvermögen des Täters trotz der erheblichen Alkoholisierung (wenn auch nur erheblich vermindert) erhalten geblieben ist (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 35).
1. Der Pflicht zur gebotenen geschlossenen Darstellung sowohl der Opferaussage als auch der Einlassung des Angeklagten zu den Tatvorwürfen kann sich der Tatrichter bei einem Freispruch nicht dadurch entziehen, dass er einige Argumente gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage der Hauptbelastungszeugin anführt.
2. Der Tatrichter, der in einer schwierigen Frage den Rat eines Sachverständigen in Anspruch genommen hat und der diese Frage in Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss die Darlegungen des Sachverständigen im Einzelnen wiedergeben, insbesondere dessen Stellungnahme zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (st. Rspr.; BGHR StPO § 261 Sachverständiger 5 und 9 m.w.N.).