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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2008
9. Jahrgang
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Jochen Bung/Brian Valerius/Sascha Ziemann (Hrsg.): Normativität und Rechtskritik. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-515-09130-5, 269 S., 46,00 EUR.
I. Wer die Voraussetzungen und Repräsentationsformen moderner Lebens- und Vernunftprojekte und damit auch von moderner Staatlichkeit verstehen will, muss den normativen Quellen sozialer Praktiken auf den Grund gehen. Die Rede von normativen Implikationen gemeinschaftlichen Handelns und Urteilens verweist insoweit auf ein wechselseitiges Geben und Nehmen von Gründen, oder anders gesagt, auf eine regelgerechte Begriffsverwendung. Durch den Gebrauch entsprechender Orientierungsmuster bestätigen die Akteure die Matrix, folglich die Geltungs- und Erfüllungsbedingungen theoretischen wie praktischen Wissens und realisieren so zugleich die Sinnpotentiale einer grundsätzlich anerkannten Kultur verobjektivierter Freiheit. Freilich ist damit kein selbstreferentielles Bewertungssystem und schon gar kein unveränderliches angesprochen. Soziale Praktiken sind gerade Ausdruck einer dynamischen und kooperativen Wissensartikulation, einer fortdauernden Evaluierung geltend gemachter Wahrheitsansprüche, deren Fluchtpunkt immer auch die reflektierend metastufige Beurteilung bestehender Ordnungen und Normsetzungsverfahren darstellt. Insofern sind soziale Praktiken nicht nur an einen permanenten Prozess empraktischer Anerkennung gebunden, sondern unterliegen ebenso der (expliziten) Kritik und Gegenkritik vorfindlicher Argumentationsstrategien, Institutionen und Konventionen.
Letzteres insbesondere für den Bereich des Rechts zu zeigen, war Anliegen der nun in einem Band zusammengefassten Beiträge der Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) im September 2006 in Würzburg und im März 2007 in Frankfurt am Main. Wie bereits der Titel des Bandes verdeutlicht, werden Normativität und Rechtskritik als die entscheidenden
Eckpfeiler einer solchen Diskussion ausgemacht. Dementsprechend beschäftigt sich auch der erste Teil mit den unterschiedlichsten Aspekten der Rede von und über Normativität sowie deren Wirkung; während der zweite eine perspektivische Verortung des rechtlich-juristischen Selbstverständnisses unternimmt.
II. Wendet man sich der Rede von und über Normativität (und Praxis) zu, so ließe sich die Überzeugung vertreten, dass wenigstens die Frage nach deren Genese und Struktur im wesentlichen geklärt wäre oder doch weitgehend außer Streit stünde, schließlich ist für jeden von uns das Vorhandensein handlungsleitender Sollenssätze so gut wie selbstverständlich. Dass dem nicht so ist (oder sein sollte), zeigen vor allem die Beiträge von Sabine Müller-Mall und Norbert Campagna. Während Müller-Mall an Hand eines „Kraftmodells der Normativität“ das Wechselseitigkeitsverhältnis von Norm, Verhalten, Normativität und Anerkennung herausarbeitet, mit der Konsequenz, dass „eine kategoriale Unterscheidung von Normativität und Anerkennung aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeiten nicht haltbar ist“, betont Campagna – in Abgrenzung zu den (neo-)klassischen Vertragstheorien – den idealtypisch-regulativen Charakter gemeinschaftlicher Rechts- und Willensbildung als Voraussetzung „peremptorischer Anerkennung von Normen“. Im Anschluss analysiert Rainer Keil Kants Idee und Begriff des Rechts, um zu zeigen, dass es gerade dessen Bezug zur praktischen Vernunft ist, der einen immanenten Beurteilungsmaßstab nicht zuletzt positivrechtlicher Normkontexte liefert. Gerhard Seher wiederum nähert sich der Debatte mit Blick auf die Rechtsdogmatik. Für Seher lässt sich am Beispiel der Auslegungsmethoden verdeutlichen, dass das Orientierungs- und Konfliktlösungspotential des Rechts nicht auf einer wertneutralen Haltung der Rechtsanwender, sondern auf werturteilsgestützten Begründungen beruht; „der Kanon der Auslegungsmethoden kann ohne Eigenwertungen der Auslegenden nicht gehandhabt werden, weil“, so Seher, „letztlich jeder Auslegungsvorgang auf allgemeine Rechtsprinzipien zurückführt“. Ebenfalls mit dem Problem der Norminterpretation beschäftigen sich die Beiträge von Stephan Meyer und Ralph Christensen/ Kent D. Lerch, allerdings nun aus der Perspektive von Textualität und Bedeutung. Meyer geht es in seinem Beitrag um eine kritische Analyse des Paradigmas diskursiver Rechtserzeugung. Entscheidend für den Geltungscharakter des Rechts sei nämlich nicht der rechtsanwendungsfallbezogene Diskurs, sondern, so Meyer, die Annahme eines vorab existenten, einzig wahren, vollständig vorhandenen Norminhalts. Nur mit diesem Fundamentalaxiom und dem damit verbundenen „epistemischen Realismus“ ließe sich die Positivität des Rechts widerspruchsfrei begründen. Christensen/ Lerch hingegen argumentieren, dass sich dem Text einer Norm ihre objektive Bedeutung keineswegs entnehmen lasse. Es gehe gerade nicht um die Behauptung einer vorgelagerten Rechtsidee, vielmehr um einen Prozess, bei dem sich die (Regel-)Bedeutung aus der Normativität ergebe. Normativität kann insofern als „Transfer vom Gesetzestext auf die Entscheidung“ verstanden werden. Mit der Frage „Neuronale Normativität?“ schließt Malte-Christian Gruber an die aktuelle Debatte um Tragfähigkeit und Kompatibilität naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Kontext rechts- und sozialwissenschaftliche Problemstellungen an. In seinem Beitrag plädiert Gruber für eine Offenheit gegenüber natur-, insbesondere neurowissenschaftlicher Forschung; die partielle Übereinstimmung neurophilosophischer und soziologischer Theorien stützten darüber hinaus sogar die Vermutung, dass neurowissenschaftliche Modelle auch im Bereich des Rechts grundsätzlich anschlussfähig seien, wenngleich, so das Fazit Grubers, der eigenständig normative Gehalt des Rechts als Kulturerscheinung nicht in Abrede gestellt werden dürfe. Ausgehend von rechts- und anwendungspraktischen Fragestellungen nähern sich die Beiträge von Andreas Popp und Hans Michael Heinig der Thematik. Popp entwickelt das Spannungsfeld am Beispiel des Begriffs „Verteidigung der Rechtsordnung“ und kann insoweit zeigen, dass die richterliche Anwendung des Gesetzes – mittels deskriptiver oder präskriptiver Sätze – kontextabhängig ist, dass aber gerade der Horizont des Normativen jedem Gericht die Möglichkeit bietet, juristisch und tatbestandlich relevante Unterscheidungen zwischen der „Welt-so-wie-sie-ist“ und der jeweils gesollten zu treffen. Heinig konzentriert sich in seinem Referat auf die normative Struktur resp. die Ziele gegenwärtiger Sozialstaatskonzeptionen. Sie changierten, so der Verfasser, zwischen verschiedenen Reflexions- und Norminterpretationsebenen, der Subsistenzsicherung, der Befähigung, ein gutes Leben führen zu können, der Sicherung von Freiheitsspielräumen usw., und machten so zugleich deutlich, dass eine praktisch relevante Verfassungstheorie immer zwischen dem regulativen Ideal gleicher Freiheit und dem Schutz individueller Freiheitsverwirklichungsstrategien vermitteln muss. Letzteres, so Heinig, sollte schließlich in einer Theorie münden, qua derer untersucht werden könnte, „inwieweit nicht auch die Verfassungsdogmatik in Bezug auf den Sozialstaat Klugheitsregeln bereithält, die zu berücksichtigen jeder normativen Theorie des Sozialstaates gut zu Gesicht stünden“.
Der zweite Teil setzt mit einem überleitenden Beitrag von Peter Warta ein. Ausgangspunkt der Analyse von „Wahrheit und herrschender Lehre“ ist das Verhältnis von Text, Sprache und kritischer Interpretation. Denn Rechtstexte sind, so Warta, Sprachgebilde, und als Sprachgebilde sind sie immer auch unterschiedlichen (mehr-deutigen) Rekonstruktionen und Interpretationen zugänglich, die häufig durch die Deutungsmacht der Diskursteilnehmer bestimmt werde. Insofern sei es aber auch konsequent, wenn nicht von wahren Theorien, sondern von jeweils herrschenden Lehren gesprochen werde. Florian Rödl verhandelt das Problem von Normativität und Kritik am Beispiel des Zivilrechts. Im Gegensatz zu einer funktionalistischen Vorstellung entwickelt Rödl ein Verständnis spezifisch-dynamischer Normativität des Zivilrechts und insoweit die Überzeugung, dass „die Idee einer intrinsischen Normativität des Zivilrechts zugleich einen grundlegenden und fruchtbaren Maßstab seiner Kritik“ liefern könne. Daran anschließend geht Kye Il Lee dem Verhältnis von Rechtskritik und Konstruktivismus nach. Im Mittelpunkt steht dabei das Anliegen, „die Rechtskritik aus konstruktivistischer Sicht zu rekonstruieren, somit dieser einen fortdauernden Rang in der Jurisprudenz zu geben“. In diesem Sinne betont der Verfasser, dass die meisten Rechtskritiken, so auch die „Critical Legal Studies Movements“, auf der Ebene der dekonstruktivistischen Kritik stehen geblieben sind; dass es aber gerade darauf ankomme, das kritische Potential in ein Modell republikanischer Wissens- und Sinnan-
eignung zu überführen. Rechtskritik würde so zu einem Prozess der institutionellen Reflexion über unsere Gemeinschaftswerte. Für Jan Vollmeyer ist Rechtskritik zuerst und vor allem „Kritik des Gebrauchs von Rechtsbegriffen“. Dementsprechend kommt es Vollmeyer darauf an, das Verhältnis von Rechtsbegriff, Begriffsverwendung und Kritik aufzuklären. In Anlehnung an Wittgenstein kommt er zu dem Schluss, dass „die Bedeutung eines rechtlichen Ausdrucks davon ab[hängt], wie ihn die mit Kompetenz zur Begriffsfestlegung ausgestatteten Sprecher gebrauchen.“ Daraus folge, dass bei Akten der Judikative – insbesondere wegen ihrer Urteils- und Rechtsmittelstruktur – Kritik des Gebrauchs nicht mehr von Begriffskritik unterschieden werden könne; anderes gelte aber bei Gesetzgebungsverfahren, denn hier sei schon vor Verabschiedung des Gesetzes Kritik am Normtext möglich, was der Verfasser an Hand des europäischen Verfassungsdiskurses verdeutlicht. Eine besondere Form von Textexegese, Interpretation und Kritik untersucht Soraya Nour am Beispiel Kelsens und dessen Freudrezeption. Gerade an Kelsens Rezeption der „Massenpsychologie“ ließe sich nämlich zeigen, so Nour, wie psychologisch-psychoanalytische Erklärungsformen individueller und gemeinschaftlicher Identitätsbildung wirkungsmächtig in den Bereich der Rechts- und Staatstheorie sowie der Ideologiekritik überführt und zugleich modifiziert werden könnten. An diese Thematik anknüpfend setzt sich Stefan Häußler mit der Frage auseinander, welche Bedeutung der Gefühlskritik als Rechtskritik zukomme. Häußler sieht deren Bedeutung vor allem in einem kritischen Regulativ gegenüber der Gefühllosigkeit traditioneller Rechtsverfahrensformen und der mangelnden Beachtung affektiver Faktoren im Rechtskonflikt; insoweit wende sie sich auch gegen eine Tendenz in der Rechtstheorie, „den Rechtssubjekten ihre Rechtsgefühle vorschreiben zu müssen“. Mit der Bedeutung von Idealen und Idealisierungen für die Kritik, und damit einem Gedanken, der den meisten Beiträgen als strukturelle Matrix zugrunde liegt, beschäftigt sich das Referat von Jörn Reinhardt. Reinhardt betont, dass eine Rede über die richtigen oder angemessen Standards gemeinschaftlichen Handelns und Urteilens nicht allein aus der faktischen Perspektive gewonnen werden könnten. Erforderlich sei deshalb der Rückgriff auf kontrafaktisch-normative Annahmen, denn das „kritische Potential von Idealen liegt darin, dass sie die bestehenden rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse transzendieren“; womit aber immer auch die Gefahr von Utopisierungen („einer schlechten Unendlichkeit“) existent und insofern eine Kritik entsprechender Ideale notwendig sei. Weniger um sozialphilosophische Großtheorien, als um „Strategien für die Veränderung von Wiederholbarkeitsstrukturen“ geht es Sonja Buckel und Andreas Fischer-Lescano. Am Beispiel der juridischen Auseinandersetzung um den politischen Streik, und folglich auch um die Relevanz des Politischen im Recht überhaupt, werden – in Anlehnung an Gramscis Hegemonietheorie – die Implikationen unterschiedlichster Ideologiediskurse und deren rechtliche, ökonomische wie politische Bedeutung offen gelegt. Durch „polyzentrische Subjektivierungsprozesse“ würden sich aber auch die Machtverhältnisse innerhalb typischer Arbeits-, Kapitalisierungs- und Verteilungskontexte verändern, weshalb, so die Verfasser, „neuartige Formen politischer Anerkennungs- und Inklusionskämpfe rechtlich zu ermöglichen“ seien. Den Band beschließt ein Vortrag Ino Augsburgs. In seinen Überlegungen „Zur Kritik der Rechtskritik“ an Hand der Lektüre des „Kaufmanns von Venedig“ verweist Augsburg auf die Dialektik, die einer jeden Kritik, so auch der Rechtskritik, notwendig innewohnt. „Die Ubiquität der Kritik richtet sich gegen sich selbst. Sie entzieht nicht nur der Gewalt als scheinbar allgemein anerkanntem Kriterium die Akkreditierung, sondern affiziert den kritischen Gestus als solchen, jedenfalls dort, wo dieser in der Bewegung des krinein nicht nur im ursprünglichen Wortsinn die Entscheidung als Unterscheidung vollzieht, sondern diese Differenzierung zugleich normativ auflädt.“ Damit sind dann auch Anliegen und Problematik der hier verhandelten Fragestellung auf den Punkt gebracht.
III. Der vorliegende Tagungsband vermittelt einen Eindruck von der Komplexität, nicht zuletzt den semantischen Tiefenstrukturen der großen Titelwörter Normativität und Rechtskritik. Insofern dokumentieren die Beiträge beider Abteilungen das gewachsene Interesse der Einzelwissenschaften, so auch der Rechts- und Staatswissenschaften, an metatheoretischen und fachübergreifenden Fragestellungen. Gerade an Hand der Parallelführung dieser Diskurse lässt sich nämlich erkennen, wie sehr Objektbezug und Reflexion, Dogmatik und Grundlagenanalyse aufeinander bezogen sind. Allerdings wäre es dann auch wünschenswert gewesen, den Status der (Rechts-)Person als handlungs- bzw. normgenerierender und zugleich regelbezogener Akteur stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Letzteres hätte zumindest die Möglichkeit geboten, den Blick der (Rechts-)Kritik auch auf moderne Macht-, Wissens- und Legitimationsstrategien, d.h. auf diverse Reglementierungs- und Unterwerfungsformen des Subjekts durch eine zunehmend freiheitsvergessene Gesellschaft zu lenken. Nun mindert dieser Hinweis das Verdienst der hier vorgelegten Aufsatzsammlung keineswegs, er will, im Gegenteil, nur auf das Potential aufmerksam machen, das der gesamten Problematik innewohnt. Insoweit kann man nur hoffen, dass das gemeinsame Gespräch in Zukunft, und auch in der Rechtswissenschaft, mit der gleichen Intensität weitergeführt wird.
Dr. Benno Zabel, Universität Leipzig
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Peter Pfefferli (Hrsg.), Die Spur – Ratgeber für die spurenkundliche Praxis. 5., überarbeitete Aufl., Reihe: Grundlagen der Kriminalistik Band 45, Kriminalistik-Verlag Hüthig, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-783-20012-6, 146 S., 18,00 EUR.
I. Etwa 90% aller Wissenschaftler, die je auf der Erde lebten, forschen in der heutigen Zeit. So kann es nicht verwundern, dass es in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte im Bereich von Naturwissenschaften und Technik gab. Diese Wissensflut hat Einzug in die Kriminaltechnik gehalten. Dort hat sie aber nicht nur bislang unbekannte Perspektiven eröffnet, sondern auch neue Herausforderungen geschaffen. Obgleich Richter, Staatsanwälte und Verteidiger erst durch eine spezifische kriminaltechnische (Grund-)Ausbildung in die Lage versetzt
würden, ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen, d. h. den Gutachter sachgemäß auszuwählen, zu leiten und das Gutachten zu überprüfen, werden bis heute in der Juristenausbildung nicht einmal kriminalistische bzw. kriminaltechnische Grundbegriffe vermittelt. Die Erlangung entsprechender Kenntnisse ist, anders etwa als in Osteuropa, wo Kriminalistik einschließlich ihres Teilbereiches „Kriminaltechnik“ meist zu den Pflichtfächern des juristischen Studiums gehört, ganz der Initiative des Einzelnen überlassen. Insgesamt wird die Ausbildungssituation in Deutschland von Kennern der Materie als „katastrophal“ bezeichnet (Ackermann KR 2002, 297, 301; neuestens ders. KR 2008, 140: erhebliches Defizit, großer Ausbildungsbedarf bei Strafjuristen). Sie sei gekennzeichnet durch „learning by doing“ (Walter KR 2001, 715, 720). Wer wollte das bestreiten? Jeder forensisch erfahrene Strafrechtspraktiker wird Situationen erlebt haben, in denen sich die Entscheidungsträger der Sache nach vorbehaltslos in die Hände eines Sachverständigen begeben haben, weil das Wissen um Möglichkeiten und Grenzen kriminaltechnischer Befunde und ihrer Bewertung unter Juristen weitestgehend einem Niemandsland gleicht. Die Gefahr des Transfers von Fehlern aus dem Schuldspruch gleichsam „vorgeschalteten“ Wissenschaften ist deshalb beängstigend groß.
II. Das Sachbeweis-Vorverfahren, vornehmlich Spurensuche und Spurensicherung, liegt wie fast alle Tatortarbeit nahezu ausschließlich in den Händen der Polizei. Die Qualität dieser Arbeit ist, das gilt unter Kriminalisten als Binsenweisheit, Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Arbeit (vgl. die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik KR 2005, 639). Hier gemachte Fehler lassen sich nur selten revidieren und sind geeignet, das spätere Untersuchungsergebnis zu verfälschen. Bestenfalls wird „nur“ die Beweiskraft der Spur vernichtet. Der unentdeckte Fehler kann jedoch zu unrichtigen, vermeintlich sogar wissenschaftlich abgesicherten Befunden über den Tathergang und/oder den Täter führen. Will man etwa den Darstellungen von Armand Mergen in „Tod in Genf“ Glauben schenken, so wurde die Aufklärung des Todes des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel durch irreparable Fehler bei der Tatortarbeit unmöglich.
Peter Pfefferli, Leiter der Kriminaltechnischen Abteilung der Kantonspolizei Zürich und auch in Deutschland nicht nur als Verfasser zahlreicher einschlägiger Veröffentlichungen (KR 1997, 217: Daktyloskopie; 1998, 137: Differenzierung von Schreibmitteln; 2003, 547: technische Möglichkeiten der Bekämpfung des Kreditkartenmissbrauchs; 2004, 573: Digitalfotographie; 2007, 333: Qualitätssicherung in der Kriminalistik), sondern auch als Verantwortlicher für der Kolumne „Kriminaltechnik International“ in der KRIMINALISTIK einschlägig ausgewiesen, legt mit dem von ihm herausgegebenen Ratgeber für die spurenkundliche Praxis ein bemerkenswertes Kompendium vor. Zwar ist es vornehmlich für den Ermittler an der „polizeilichen Front“ (Vorwort) geschrieben, dem bei der praktischen Arbeit am Tat- bzw. Auffindeort geholfen werden soll, im Zuge der spurenkundlichen Lagebeurteilung Fehler zu vermeiden. Das kleine Buch eignet sich aber auch hervorragend für den Strafjuristen. Denn er wird in die Lage versetzt, die spurenkundlichen Belange bei der polizeilichen Arbeit in ihrer Bedeutung richtig einzuschätzen, zumal ein Vertrauensvorschuss dahin, dass die Untersuchung stets lege artis ausgeführt sein wird, ganz und gar fehl am Platze ist (so aus staatsanwaltlicher Sicht Artkämper BA 2001, 7, 10; aus Sicht der Polizei etwa Stock KR 1997, 185, 185 und Grafl KR 2002, 379, 381, die die schlechte Qualität der Spurensicherung beklagen; aus Sicht der Verteidigung ausf. Neuhaus, in: Brüssow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle, Strafverteidigung in der Praxis, 4. Aufl. 2007, § 30 Rn. 30 bis 35).
Aus praxisorientierten Überlegungen zeigt „Die Spur“ im ersten Teil am Beispiel ausgewählter Tatortszenarien (u. a. nicht natürlicher Todesfall, Sexualdelikt, Rauschgift, Verkehrsunfall, Einbruch, Brand) mögliche Spurenkomplexe und Spurenarten. Dies ermöglicht die Prüfung, ob das für Fahndungszwecke und Falllösung dringend notwendige Gesamtbild wegen der Erfassung nur eines Teiles des Spurenkomplexes gar nicht erst entstehen konnte, es deshalb fehlerhaft ist und Lücken im Tatbefund unrichtig ausgefüllt worden sein können. Der zweite Teil (S. 34 ff.) fasst die allgemein gültigen Grundsätze des Spurenmanagements zusammen. Sie werden durch wertvolle Hinweise auf die notwendigen taktisch-technischen Maßnahmen beim Auffinden und Sicherstellen ergänzt. Der abschließende dritte Teil (S. 68 ff.) schildert die nach Spurenkategorien unterteilten relevanten Aspekte für Spurensuche, -sicherung und –schutz (u. a. für biologische Gewebe, Blut, Brandspuren, Fingerspuren, Glas, Haare, Handschriften, Lacke und Farben, Pflanzen- und Bodenspuren, Reifen- und Schuhspuren, Schmauch[dazu ausführlich Neuhaus StraFo 2002, 254 ff.], Sperma, Textilfasern[dazu ausführlich Neuhaus StraFo 2001, 406 ff.], Zigarettenkippen).
III. Moderne Verteidigung hat sich den neuen, durch die Entwicklung der Kriminaltechnik geschaffenen Herausforderungen zu stellen. Pfefferlis Buch leistet insoweit eine wertvolle Hilfe, als es Fehlerquellen rund um „die Spur“ aufzuspüren hilft. Es erleichtert die Kontrolle der Tatortarbeit und ist besonders geeignet, um sich auf die Befragung des Ermittlers in der Hauptverhandlung vorzubereiten bzw. den „richtigen“ Beweisantrag zu stellen. Die Anschaffung lohnt.
Dr. Ralf Neuhaus, Fachanwalt für Strafrecht, Dortmund
Lehrbeauftragter an der Universität Bielefeld
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