HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2008
9. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

430. BGH 5 StR 431/07 – Urteil vom 15. April 2008 (LG Frankfurt Oder)

BGHSt; nachträgliche Sicherungsverwahrung (neue Tatsachen); Rechtsstaatsprinzip; Freiheit der Person; Doppelbestrafungsverbot; Rückwirkungsverbot und Vertrauensschutz (tatbestandliche Rückanknüpfung; unechte Rückwirkung).

§ 66b Abs. 1 Satz 2 StGB; Art. 5 EMRK; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 3 GG

1. Zur Anwendbarkeit der Vorschrift des § 66b Abs. 1 Satz StGB. (BGHSt)

2. Die Vorschrift des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB, nach der es auch ein materieller Anlass für die nachträgliche Anordnung der Maßregel sein kann, dass zum Zeitpunkt der Verurteilung die vom Verurteilten ausgehende Gefahr schon erkennbar gewesen ist, aus rechtlichen Gründen aber keine Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte, ist verfassungsgemäß. (Bearbeiter)

3. Die Norm verstößt insbesondere nicht gegen das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG, da dieses Prozessgrundrecht für die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung, zu denen die Sicherungsverwahrung zählt, nicht gilt. (Bearbeiter)

4. Der Senat hält trotz gewisser, namentlich aufgrund der strafähnlichen Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung bestehender Bedenken den rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutz in Verbindung mit dem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) durch die Vorschrift des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB – soweit es den hier relevanten Anwendungsbereich betrifft – nicht für verletzt. Dass Tatsachen, die aus rechtlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnten, gleich gestellt werden mit solchen, die zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung nicht erkennbar waren, begegnet bei der gebotenen Begrenzung auf Extremfälle keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken und ist in gewisser Weise in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits angelegt (BVerfGE 109, 190, 236). (Bearbeiter)


Entscheidung

433. BGH 5 StR 635/07 – Urteil vom 15. April 2008 (LG Neuruppin)

BGHSt; keine nachträgliche Sicherungsverwahrung auch nach rechtsfehlerhafter und rechtskräftiger Nichteröffnung eines Hauptverfahrens (Vorrang des Erkenntnisverfahrens, im Anschluss an BGHSt 50, 373; Gebot der Rechtssicherheit; Rechtskraft und Vertrauensschutz); Entschädigung nach einstweiliger Unterbringung.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 66 StGB; § 66a StGB; § 66b StGB; § 204 StPO; § 211 StPO; § 275a Abs. 5 StPO

1. Nachträgliche Sicherungsverwahrung kann auch nach rechtskräftiger Nichteröffnung eines Hauptverfahrens, bei dessen Durchführung Sicherungsverwahrung hätte verhängt werden können, nicht angeordnet werden (Vorrang des Erkenntnisverfahrens, im Anschluss an BGHSt 50, 373). (BGHSt)

2. Die Möglichkeiten primärer Anordnung von Sicherungsverwahrung gemäß §§ 66, 66a StGB müssen gegenüber der nachträglichen Anordnung strikt vorrangig bleiben (BGHSt 50, 373, 380). Der Vorrang des Erkenntnisverfahrens gilt unabhängig davon, ob der in der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung liegende Rechtsfehler bei der Anlassverurteilung oder erst in dem Verfahren wegen der Straftat, welche jetzt die neue Tatsache im Sinne des § 66b StGB bilden soll, aufgetreten ist (vgl. BGHSt 50, 373, 380). Das Verfahren nach § 66b StGB dient nicht der Korrektur fehlerhafter, aber rechtskräftiger früherer Entscheidungen (BVerfG – Kammer – NJW 2006, 3483, 3484; BGH NStZ-RR 2007, 370, 371; BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2007 – 3 StR 378/07). (Bearbeiter)

3. Die durch die Notwendigkeit der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes legitimierte Rechtskraft der ablehnenden Entscheidung bewirkt, dass das Gericht grundsätzlich gehindert ist, denselben Streitstoff zwischen den durch die Rechtskraft Gebundenen nochmals sachlich zu prüfen (BVerfGE 1, 89, 90). Individualschützender Ausfluss dessen ist, dass durch die rechts- und bestandskräftige Entscheidung über die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung in einem konkreten Strafverfahren ein Vertrauenstatbestand gesetzt worden ist (BGHSt 50, 373, 380). Dieses berechtigte Vertrauen darf jedenfalls im Hinblick auf das allgemeine Vertrauensschutzgebot aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG bei unveränderter Tatsachengrundlage ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung nicht durch nachträgliche Korrektur erschüttert werden. (Bearbeiter)

4. Ob der Vorrang des Erkenntnisverfahrens die Anwendung des § 66b StGB auch hindert, wenn wegen der neuen Tat ein Erkenntnisverfahren nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, liegt zwar nahe, braucht der Senat jedoch nicht zu entscheiden. (Bearbeiter)

5. Ein die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnender Beschluss entfaltet gegenüber einem Sachurteil nur eine beschränkte Rechtskraft (BGHSt 7, 65). Die weniger weitreichende Rechtskraft fällt aber nur bei einer Änderung der Tatsachengrundlage ins Gewicht. So gestattet die Vorschrift des § 211 StPO als Konsequenz der Prüfung allein nach Aktenlage eine Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten bei einer nachträglichen Veränderung der tatsächlichen Grundlagen (vgl. BGHSt 18, 225, 226). Eine Korrektur von Subsumtionsfehlern oder Irrtümern wird damit aber nicht zugelassen. Insoweit steht die Rechtskraftwirkung des Nichteröffnungsbeschlusses gemäß § 211 StPO einem Urteil gleich. (Bearbeiter)


Entscheidung

405. BGH 1 StR 83/08 - Beschluss vom 16. April 2008 (LG Stuttgart)

BGHSt; Strafzumessung bei der unbefugten Offenbarung von Dienstgeheimnissen (Dienstaufsicht über die Staatsanwaltschaft; Information eines Tatverdächtigen durch den Justizminister/die Justizministerin; permanente Medienöffentlichkeit).

§ 353b StGB; § 46 StGB; § 147 GVG

1. Zur Strafzumessung bei der unbefugten Offenbarung von Dienstgeheimnissen, die dem Täter im Rahmen der Dienstaufsicht durch staatsanwaltschaftliche Berichte zur Kenntnis gelangt sind. (BGHSt)

2. Die durch Verwaltungsanordnung vorgeschriebene Berichtspflicht der Staatsanwaltschaft dient der Ausübung der gesetzlich normierten Aufsichts- und Leitungsbefugnis (§ 147 GVG) durch die Vorgesetzten des ermittelnden Staatsanwalts, insbesondere des Generalstaatsanwalts und des Justizministers. Ermittlungserkenntnisse, die zugleich Dienstgeheimnisse sind, über die berichtet wird, dürfen nicht unbefugt offenbart werden und das Ermittlungsverfahren gefährden. Die Staats-

anwaltschaft muss sich darauf verlassen können, dass die unterrichteten Stellen ihrer Verschwiegenheitspflicht gewissenhaft nachkommen. Der Schutz dieses besonders wichtigen öffentlichen Interesses kann bei einem Missbrauch durch eine Justizministerin die Verhängung einer Freiheitsstrafe rechtfertigen. (Bearbeiter)

3. Wer in Ausübung seines Amtes als Justizministerin Verfehlungen der vorliegenden Art begeht, muss mit einem besonderen Interesse an seiner Person und seiner Amtsausübung auch für den Fall der Durchführung eines Strafverfahrens rechnen, ohne dass dies strafmildernd zu berücksichtigen wäre (vgl. BGH NJW 2000, 154, 157). (Bearbeiter)

4. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, wie der Fall zu sanktionieren wäre, dass Mitteilungen in Berichten über noch geplante Ermittlungsmaßnahmen im Sinne des § 33 Abs. 4 StPO Dritten unbefugt mitgeteilt werden mit der Folge, dass der Zweck der Maßnahme gefährdet oder deren Erfolg gar vereitelt wird. In einem solchen Fall dürfte eine Freiheitsstrafe im unteren Bereich des Strafrahmens freilich nur dann noch angemessen sein, wenn besondere Milderungsgründe vorliegen. (Bearbeiter)


Entscheidung

407. BGH 1 ARs 3/08 - Beschluss vom 2. April 2008 (BGH)

Nachträgliche Sicherungsverwahrung nach Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bei noch zu vollstreckender Freiheitsstrafe (Sperrwirkung; Gesetzesauslegung; Auslegungstheorie: Bedeutung der Materialien; fragmentarische Natur des Strafrechts; Ausnahmecharakter).

§ 66b Abs. 3 StGB; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 5 EMRK

1. Der Senat hält – entgegen der Anfrage des 4. Strafsenats – an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Danach findet § 66b Abs. 3 StGB in den Fällen grundsätzlich keine Anwendung, in denen nach Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch eine zugleich mit deren Anordnung verhängte Freiheitsstrafe weiter zu vollstrecken ist.

2. Ein Bedürfnis für nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB besteht nicht, wenn die Sicherung der Allgemeinheit dadurch gewährleistet ist, dass der Verurteilte nach der Erledigung der Maßregel nicht in die Freiheit, sondern in den Strafvollzug kommt. Erst wenn diese Fallgestaltung vorliegt, kann „gegebenenfalls“, nämlich wenn der Betroffene weiterhin in besonderem Maße gefährlich ist, vor Ende des Vollzugs - jetzt nach Maßgabe von § 66b Abs. 1 oder § 66b Abs. 2 StGB - nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet werden.

3. Die Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus der im weiteren Gesetzgebungsverfahren im Ergebnis nicht in Frage gestellten Begründung des Regierungsentwurfs ergibt, ist eine mit anderen gleichrangige Auslegungsmethode. Im Rahmen der Auslegung ist dem Willen des Gesetzgebers ein umso größeres Gewicht beizumessen, je jünger die auszulegende Norm ist. Die anerkannten Auslegungsmethoden sind für jede auszulegende Gesetzesnorm einerseits nach ihrer Nähe zum Normtext, andererseits nach der Stichhaltigkeit der konkreten einzelnen Argumente zu gewichten.


Entscheidung

400. BGH 1 StR 103/08 – Beschluss vom 18. März 2008 (LG Passau)

Vorwegvollzug der Maßregel (zwingende Orientierung an einer Halbstrafenentlassung; begrenzter Beurteilungsspielraum).

§ 67 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 5 StGB

1. Ist eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verhängt, „soll“ das Gericht bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist (§ 67 Abs. 2 Satz 2 StGB); dies also dann, wenn nicht aus gewichtigen Gründen des Einzelfalls eine andere Entscheidung eher die Erreichung eines Therapieerfolges erwarten lässt. Liegen keine Gründe vor, die gegen eine Anordnung des Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe sprechen, so hat der Tatrichter im Erkenntnisverfahren bei der Bemessung des vorweg zu vollziehenden Teils der Strafe keinen Beurteilungsspielraum mehr.

2. Gemäß § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB „ist“ dieser Teil der Strafe so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und der anschließenden Unterbringung eine Entscheidung gemäß § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB möglich ist, also eine Halbstrafenentlassung. Darauf, ob es nahe liegend erscheint, dass die zuständige Strafvollstreckungskammer zu gegebener Zeit eine solche Entscheidung auch treffen wird, oder ob, wie dies die Strafkammer hier nachvollziehbar meint, ein solches Ergebnis letztlich nicht zu erwarten ist, kommt es nicht an. Eine an einer mutmaßlichen Zwei-Drittel-Reststrafenaussetzung orientierte Bemessung der Dauer des Vorwegvollzuges ist dem Tatrichter versagt.


Entscheidung

431. BGH 5 StR 52/08 – Beschluss vom 3. März 2008 (LG Chemnitz) Vorwegvollzug der Maßregel (Ausschluss der Strafaussetzung zum Halbstrafenzeitpunkt schon durch das Tatgericht / das Revisionsgericht; Beruhen). § 67 Abs. 2, Abs. 5 StGB; § 337 StPO

Dass der Tatrichter bei der Bemessung des Teils der Strafe, der vor der Maßregel zu vollziehen ist, nicht auf den Zeitpunkt der Verbüßung der Hälfte der Strafe abgestellt hat (§ 67 Abs. 2, Abs. 5 Satz 1 StGB n.F.), ist im Ergebnis nicht rechtsfehlerhaft, wenn bereits vor Vollzug der Maßregel ausgeschlossen werden kann, dass eine Strafaussetzung zum Halbstrafenzeitpunkt (§ 57 Abs. 2 i.V.m. § 67 Abs. 5 StGB) in Betracht kommen könnte.


Entscheidung

402. BGH 1 StR 153/08 – Beschluss vom 3. April 2008 (LG Regensburg)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose; Todesdrohungen; rein statistische Gefahrenannahmen); Abgrenzung von versuchter Nötigung und versuchter Erpressung (Absicht rechtswidriger Bereicherung und Verneinung eines auf der Schuldunfähigkeit beruhenden Tatbestandsirrtums).

§ 63 StGB; § 240 Abs. 3 StGB; § 253 StGB; § 255 StGB; § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB

1. Die Erheblichkeit drohender Taten kann sich ohne weiteres aus dem Delikt selbst ergeben, etwa bei Verbrechen. Ist dies nicht der Fall, kommt es auf die zu befürchtende konkrete Ausgestaltung der Taten an, da das Gesetz keine Beschränkung auf bestimmte Tatbestände vorgenommen hat (BGH NStZ 1995, 228 m.w.N.). Das bedeutet, dass auch (versuchte) Nötigungen durch Bedrohungen mit schweren Verbrechen - auch ohne, dass bereits Vorbereitungshandlungen zu deren Realisierung ersichtlich oder zu erwarten wären - nicht von vorneherein als niemals erheblich i.S.d. § 63 StGB angesehen werden können. Todesdrohungen, die geeignet sind, den Bedrohten nachhaltig und massiv in seinem elementaren Sicherheitsempfinden zu beeinträchtigen, stellen eine schwerwiegende Störung des Rechtsfriedens dar und sind nicht bloße Belästigungen. Schon im Hinblick auf das Gewicht eines Eingriffs gemäß § 63 StGB ist jedoch erforderlich, dass diese Bedrohung in ihrer konkreten Ausgestaltung aus der Sicht des Betroffenen die nahe liegende Gefahr ihrer Verwirklichung in sich trägt.

2. Eine Gefahrenprognose, die ohne konkreten Bezug auf die Person des Betroffenen letztlich auf im Grunde statistische Erwägungen („fast regelhaft“) gestützt ist, reicht nicht aus.


Entscheidung

411. BGH 4 StR 6/08 - Beschluss vom 18. März 2008 (LG Bielefeld)

Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose; Verhältnismäßigkeit).

§ 63 StGB; § 62 StGB

Die strafrechtliche Unterbringung rechtfertigt sich nicht schon allein auf Grund des Bestehens einer fortdauernden psychischen Störung und deren Behandlungsbedürftigkeit.