HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2006
7. Jahrgang
PDF-Download

III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

659. BGH 5 StR 485/05 - Urteil vom 29. Juni 2006 (LG Wuppertal)

BGHR; Recht auf gesetzlichen Richter (Richter in eigener Sache; Ablehnungsverfahren; Vorbefassung nach Abtrennung von Verfahren gegen Tatbeteiligte und nach deren Verurteilung); Untreue (Vermögensnachteil durch Ausschaltung des Wettbewerbs durch Schmiergeldzahlungen); Adhäsionsverfahren (Ungeeignetheit); redaktioneller Hinweis.

§ 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 266 Abs. 1 StGB; § 338 Nr. 3 StPO; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 406 Abs. 1 Satz 4 StPO

1. Zur Anwendung von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO bei Vorbefassung des Gerichts nach Abtrennung von Verfahren gegen Tatbeteiligte und deren gesonderter Aburteilung. (BGHR)

2. Kommt es durch Schmiergeldzahlungen an einen Treupflichtigen zur Ausschaltung des Wettbewerbs, liegt es nahe, dass Preise vereinbart werden, die unter Wettbewerbsbedingungen nicht erzielbar wären. In diesem Fall ist die Annahme eines Vermögensnachteils in Höhe sachfremder oder unter Wettbewerbsbedingungen nicht ohne weiteres durchsetzbarer Rechnungsposten gerechtfertigt. (BGHR)

3. Eine notwendige Vorbefassung des Gerichts ist für sich gesehen grundsätzlich kein geeigneter Befangenheitsgrund; dies gilt auch, wenn Verfahren gegen einzelne Angeklagte zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennt werden und anschließend ein Schuldspruch wegen Teilnahme an später abzuurteilenden Taten erfolgt. Von jedem Richter ist selbstverständlich zu erwarten, dass er bei dem als Haupttäter Angeklagten auch dann für neue Feststellungen und eine abweichende rechtliche Würdigung offen bleibt, wenn er zuvor in einem abgetrennten Verfahren einen früheren Angeklagten wegen Teilnahme an der dem Haupttäter vorgeworfenen Tat abgeurteilt und sich lediglich in diesem Zusammenhang notwendigerweise die Überzeugung vom Vorliegen einer vorsätzlichen und rechtswidrigen Haupttat gebildet hat. (Bearbeiter)


Entscheidung

589. BGH 2 StR 499/05 - Beschluss vom 11. Juli 2006 (LG Wiesbaden)

Ausschluss von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes (Verletzter); nicht rechtsfähiger Verein (Vermögensnachteil der Mitglieder bei Straftat gegen das Vereinsvermögen); Parteivermögen; Untreue; CDU; Manfred Kanther.

§ 22 StPO; § 54 BGB; § 266 StGB

1. Verletzter im Sinne von § 22 Nr. 1 StPO ist ein Richter, wenn er durch die Straftat, die Gegenstand des Verfahrens ist, persönlich unmittelbar in seinen Rechten betroffen ist. Eine nur entfernte oder mittelbare Betroffenheit reicht hierfür nicht aus.

2. Bei einem Vermögensdelikt kommt es für die Verletzteneigenschaft darauf an, ob durch das tatsächliche Geschehen, welches Gegenstand des Strafverfahrens ist, bei dem zur Entscheidung berufenen Richter unmittelbar ein Vermögensnachteil bewirkt worden ist.

3. Mitglieder einer in Form eines nicht rechtsfähigen Vereins organisierten Partei haben am Vereinsvermögen jedenfalls keinen unmittelbaren Anteil, so dass sie nicht Verletzte einer gegen dieses Vermögen gerichteten Straftat im Sinne von § 22 Nr. 1 StPO sind.


Entscheidung

633. BGH 4 StR 87/06 - Urteil vom 13. Juli 2006 (LG Essen)

Rechtliches Gehör der Staatsanwaltschaft vor der Bekanntgabe einer Strafobergrenze für den Fall eines Geständnisses; schwerer Bandendiebstahl; Gesamtstrafenbildung.

§ 244 a StGB; § 55 StGB; Vor § 1 StPO; § 33 StPO; § 261 StPO

Teilt der Vorsitzende lediglich auf Bitten der Verteidiger als Ergebnis einer Zwischenberatung mit, dass die erkennende Strafkammer im Fall von Geständnissen bestimmte Strafobergrenzen nicht überschreiten werde, liegt darin regelmäßig nur ein Vorschlag des Gerichts an die Verfahrensbeteiligten zur inhaltlichen Ausgestaltung einer (möglichen) Verständigung, zu dem diese sich äußern können, den sie annehmen, ablehnen oder aber auch inhaltlich modifizieren können und der nicht zur vorherigen Anhörung der Beteiligten zwingt (vgl. auch BGH NStZ 2005, 395, 396).


Entscheidung

625. BGH 1 StR 169/06 - Beschluss vom 20. Juni 2006 (LG München)

Recht auf ein faires Verfahren (Wahlverteidigung; Recht auf Verfahrensbeschleunigung von Mitangeklagten als Rechtfertigungsgrund; Terminierungen).

§ 137 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. c EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG

Grundsätzlich hat ein Angeklagter das Recht, sich in einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen (BGH NStZ 1998, 311, 312). Daraus folgt aber nicht, dass bei jeder Verhinderung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden könnte. Die Terminierung ist grundsätzlich Sache des Vorsitzenden. Hierüber und insbesondere über Anträge auf Terminsverlegungen oder -aufhebungen hat er nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der eigenen Terminsplanung, der Gesamtbelastung der Kammer, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung und der berechtigten Interessen aller Prozessbeteiligten zu entscheiden. Nichts anderes gilt bei entsprechenden Anträgen, die mit der Verhinderung eines Verteidigers begründet werden.


Entscheidung

594. BGH 3 StR 77/06 - Urteil vom 1. Juni 2006 (LG Lübeck)

Operative Fallanalyse (Beweisantrag); Totschlag durch Unterlassen (Garantenstellung; Ingerenz); Verdeckungsabsicht (andere Straftat; einheitliches Tatgeschehen; Zäsur).

§ 244 Abs. 3 StPO; § 13 StGB; § 212 StGB; § 211 StGB

1. In der operativen Fallanalyse wird das Ergebnis einer Rekonstruktion des Tathergangs in der Weise zusammengefasst, dass Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen angestellt und vermutliche Abläufe geschildert werden. Es obliegt jedoch im Hauptverfahren dem Tatgericht, aus festgestellten Beweistatsachen Schlüsse auf Tatabläufe zu ziehen. Solche Schlüsse Dritter können daher grundsätzlich nicht Gegenstand eines Beweisantrags sein.

2. Bei einem eng zusammenhängenden, zäsurlosen Geschehen, das auf einer einheitlichen Motivation beruht, kann allein der Übergang vom Körperverletzungs- zum Tötungsvorsatz die Annahme zweier selbständiger Taten nicht rechtfertigen. Daher kommt in dieser Konstellation die Annahme eines Verdeckungsmordes in Hinblick auf die zuvor begangene Körperverletzung nicht in Betracht.


Entscheidung

648. BGH 5 StR 154/06 - Beschluss vom 13. Juli 2006 (LG Lübeck)

Gesetzlicher Richter (Ablehnungsverfahren; Richter in eigener Sache; Besorgnis der Befangenheit); rechtliches Gehör; Formalentscheidungen nach § 26a StPO (Unzulässigkeit; ungeeignete Begründung); Ablehnung von Beweisanträgen wegen Bedeutungslosigkeit; redaktioneller Hinweis.

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 26a StPO; § 338 Nr. 3 StPO; § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 27 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO

1. Die Gleichsetzung eines Ablehnungsgesuchs, dessen Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet ist, mit einem Ablehnungsgesuch ohne Angabe eines Ablehnungsgrundes (§ 26a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StPO) ist grundsätzlich und auch aus verfassungsrechtlicher Sicht unbedenklich (BGHSt 50, 216, 220; BVerfG - Kammer - StraFo 2006, 232, 234). Entscheidend für die Abgrenzung zu "offensichtlich unbegründeten" Ablehnungsgesuchen, die von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht erfasst werden, sondern nach § 27 StPO zu behandeln sind, ist die Frage, ob das Ablehnungsgesuch ohne nähere Prüfung und losgelöst von den konkreten Umständen des Einzelfalls zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeignet ist (BVerfG - Kammer - StraFo 2006, 232, 235). Jenseits dieser bloß formalen Prüfung darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe im Rahmen von Entscheidungen nach § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO zum "Richter in eigener Sache" machen (BVerfG - Kammer - aaO). Die Auslegung des Ablehnungsgesuchs muss darauf ausgerichtet sein, es seinem Inhalt nach vollständig zu erfassen und gegebenenfalls wohlwollend auszulegen, um nicht im Gewande der Zulässigkeitsprüfung in eine Begründetheitsprüfung einzutreten (BVerfG - Kammer - aaO).

2. Danach ist die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs unbedenklich, das lediglich damit begründet worden ist, der Richter sei an einer Vorentscheidung zu Lasten des Angeklagten beteiligt gewesen (BGHSt 50, 216, 221). Dies gilt namentlich auch für die Ablehnung von Beweisanträgen (BGHSt 50, 216, 221). Gerade die Zurückweisung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 Variante 2 StPO gebietet es, die Tatsachen anzugeben, aus denen sich ergibt, warum die unter Beweis gestellte Tatsache, wenn sie erwiesen wäre, die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen könnte (BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 26 m.w.N.). Die damit einhergehende Mitteilung einer auch für den Angeklagten nachteiligen Beweiswürdigung des Gerichts vor Urteilsverkündung ist prozessimmanent und demnach vom Angeklagten hinzunehmen. Beweiswürdigende sachliche Erwägungen - seien sie auch geeignet, eine den Schuldvorwurf begründende Subsumtion erkennen zu lassen - können für sich nicht zum Gegenstand eines zulässigen Befangenheitsantrags erhoben werden. Darauf beschränkte Gesuche können daher nach § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO beschieden werden.

3. Anders verhält es sich allerdings beim Hinzutreten besonderer Umstände, die über die Tatsache einer negativen Vorentscheidung als solcher sowie die damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerungen hinausgehen (vgl. BGHSt 50, 216, 221). Dies kann etwa der Fall sein, wenn Äußerungen in Vorentscheidungen nach der Sachlage unnötige und sachlich unbegründete Werturteile enthalten oder ein Richter sich bei einer Vorentscheidung in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des Angeklagten oder seines Verteidigers äußert (vgl. BGHSt 50, 216, 222).


Entscheidung

611. BGH 3 StR 284/05 - Urteil vom 29. Juni 2006 (Kammergericht Berlin)

Beweiskraft des Protokolls (Unklarheiten; Mängel; Lücken; Widersprüche); Protokollberichtigung (Berücksichtigung durch das Revisionsgericht; Beweiskraft).

§ 274 StPO

1. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Protokoll auch noch nach seiner Unterzeichnung durch übereinstimmende Erklärungen der Urkundspersonen berichtigt werden kann und sogar muss, wenn sie dessen Unrichtigkeit erkennen (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2006, 112; BGHSt 1, 259 ff.; 2, 125 ff.; 10, 145 ff.). Dabei kommt der Berichtigung die volle Beweiskraft gemäß § 274 StPO zu (BGHSt 1, 259 ff.). Allerdings schränkt die Rechtsprechung bislang die Wirkung einer solchen Protokollberichtigung dahin ein, dass sie vom Revisionsgericht nicht zu beachten ist, wenn dadurch einer bereits vorher erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen würde (vgl. Nachw. bei BGH NStZ-RR 2006, 112).

2. Einem Protokoll, das aus der Niederschrift selbst heraus ersichtliche Unklarheiten, Mängel, Lücken oder Widersprüche enthält, kommt insoweit keine Beweiskraft zu (st. Rspr.; vgl. Nachw. bei BGH NStZ-RR 2006, 112).


Entscheidung

643. BGH 4 StR 182/06 - Beschluss vom 13. Juni 2006 (LG Dortmund)

Wirksame Revisionsrücknahme der durch den Verteidiger eingelegten Revision durch den Angeklagten (Voraussetzung der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten).

§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO

Eine Rücknahmeerklärung ist nur dann wirksam, wenn der Erklärende bei deren Abgabe verhandlungsfähig war. Dies ist gegebenenfalls vom Revisionsgericht im Freibeweisverfahren zu klären (vgl. BGH NStZ 1983, 280; bei Kusch NStZ 1997, 378).


Entscheidung

572. BGH 2 StR 10/06 - Beschluss vom 21. Juni 2006 (LG Koblenz)

Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung; fragwürdige Zeugenaussage; Tateinheit (teilweise Identität der Ausführungshandlungen); Betrug; Täterschaft (Kurier; Abgrenzung zur Beihilfe).

§ 261 StPO; § 52 StGB; § 263 StGB; § 29 BtMG

Einer Aussage, an deren Richtigkeit der Tatrichter selbst Zweifel hat, darf auch kein lediglich eine andere, ebenfalls zweifelhafte Aussage bestätigender Wert beigemessen werden. Die auf Grund eines möglichen Falschbelastungsmotivs zweifelhafte Bestätigung einer ohnehin fragwürdigen Aussage bildet keine tragfähige Grundlage für eine Überzeugungsbildung.