HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 611
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 284/05, Urteil v. 29.06.2006, HRRS 2006 Nr. 611
Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 18. März 2004 wird verworfen.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.
Die Angeklagte wurde wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat keinen Erfolg.
I. Mit der Verfahrensrüge macht die Angeklagte geltend, sie sei am 3. Mai 2002, dem 72. Verhandlungstag, zeitweise nicht verteidigt gewesen. Dies trifft, wie das zwischenzeitlich berichtigte Protokoll beweist, nicht zu.
1. Das ursprünglich gefertigte Protokoll enthielt zum Ablauf dieses Sitzungstages - soweit es hier von Bedeutung ist - folgende Angaben in nachstehender Reihenfolge:
09.17 Uhr Beginn; für die Angeklagte E. ist erschienen der Verteidiger Rechtsanwalt Ei.
09.38 Uhr Rechtsanwalt B. erscheint (weiterer Verteidiger der Angeklagten)
09.31 Uhr Rechtsanwalt Ei. verlässt den Sitzungssaal
09.34 Uhr Rechtsanwalt Ei. kehrt zurück
09.43 Uhr Unterbrechung
10.17 Uhr Wiedereintritt
11.21 Uhr Entlassung einer Zeugin
11.25 Uhr Sitzung geschlossen
Für die Angeklagte E. begründete Rechtsanwalt B. lediglich die - nicht näher ausgeführte - Sachrüge. Die Verfahrensrüge, mit der das Fehlen eines Verteidigers in der Zeit von 09.31 bis 09.34 Uhr beanstandet wird, wurde durch den erst in der Revisionsinstanz beauftragten Rechtsanwalt N. erhoben; sie ist am 4. Februar 2005 beim Kammergericht eingegangen. Das Protokoll ist am 20. Juni 2005 dahin berichtigt worden, dass der Zeitpunkt, zu dem Rechtsanwalt B. erschienen ist, 09.28 Uhr "heißen muss".
2. Die Verfahrensrüge ist unbegründet. Das berichtigte Protokoll beweist, dass Rechtsanwalt B. an diesem Sitzungstag bereits um 09.28 Uhr erschienen ist und somit in der Folgezeit anwesend war. Die Berichtigung des Protokolls war zulässig und ist vom Revisionsgericht zu beachten.
a) Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Protokoll auch noch nach seiner Unterzeichnung durch übereinstimmende Erklärungen der Urkundspersonen berichtigt werden kann und sogar muss, wenn sie dessen Unrichtigkeit erkennen (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2006, 112; BGHSt 1, 259 ff.; 2, 125 ff.; 10, 145 ff.).
b) Allerdings hat die Rechtsprechung bislang die Wirkung einer solchen Protokollberichtigung dahin eingeschränkt, dass sie vom Revisionsgericht nicht zu beachten ist, wenn dadurch einer bereits vorher erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen würde (vgl. Nachw. bei BGH NStZ-RR 2006, 112). Diese Rechtsprechung möchte der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs aufgeben und hat dies zum Gegenstand eines Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 3 GVG gemacht (BGH aaO).
c) Hier kommt es indes auf dieses Rechtsproblem nicht an, da das Protokoll insoweit keine Beweiskraft hatte und somit die Berichtigung der erhobenen Verfahrensrüge den Boden nicht entziehen konnte.
Einem Protokoll, das aus der Niederschrift selbst heraus ersichtliche Unklarheiten, Mängel, Lücken oder Widersprüche enthält, kommt insoweit keine Beweiskraft zu (st. Rspr.; vgl. Nachw. bei BGH NStZ-RR 2006, 112). Ein solcher Fall liegt vor. Das ursprüngliche, unberichtigte Protokoll ist für die mit der Rüge geltend gemachte Abwesenheit eines Verteidigers in dem genannten Zeitraum widersprüchlich. Die Verfahrensvorgänge sind, wie dies bei Verhandlungsprotokollen allgemein üblich ist, auch für den 72. Verhandlungstag in zeitlicher Reihenfolge mit den entsprechenden Uhrzeiten aufgeführt. Für den Zeitpunkt, zu dem Rechtsanwalt B. erschienen sein soll, enthält das frühere Protokoll einerseits die Zeitangabe "09.38", andererseits befindet sich dieser Eintrag nach einem für "09.17" vermerkten Vorgang und vor einem weiteren protokollierten Ereignis um "09.31". Diese Reihenfolge der Eintragungen deutet auf einen maßgeblichen Zeitpunkt zwischen 09.17 und 09.31 Uhr hin, der mit der angeführten Uhrzeit "09.38" nicht vereinbar ist. Dies wird dadurch bestätigt, dass nach der ersichtlich in der zeitlichen Reihenfolge geordneten textlichen Darstellung der Ereignisse Rechtsanwalt B. erschienen ist, bevor Rechtsanwalt Ei. den Sitzungssaal verlassen hat.
d) Daraus folgt weiter, dass die vorgenommene Protokollberichtigung nicht nur zulässig, sondern auch geboten und vom Revisionsgericht zu beachten ist. Dabei kommt der Berichtigung die volle Beweiskraft gemäß § 274 StPO zu (BGHSt 1, 259 ff.). Einer freibeweislichen Klärung des tatsächlichen Verfahrenshergangs bedarf es somit nicht. Denn die Regelung des § 274 StPO beruht auf der pragmatischen Erwägung, dem Revisionsgericht die einfache und sichere Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von Verfahrenstatsachen ohne schwierige und zeitraubende eigene Nachforschungen zu ermöglichen (vgl. BGHSt 26, 281, 283; 36, 354, 358).
Damit ist durch das Protokoll bewiesen, dass Rechtsanwalt B. bereits ab 09.28 Uhr im Sitzungssaal anwesend war und der mit der Verfahrensrüge vorgetragene Sachverhalt nicht zutrifft.
e) Im Übrigen wäre die Rüge auch ohne Protokollberichtigung unbegründet. Denn dann hätte das Revisionsgericht - mangels einer beweiskräftigen Aussage des ursprünglichen Protokolls - im Freibeweis die Begründetheit zu prüfen gehabt. Die vorgelegten Stellungnahmen belegen jedoch ebenfalls, dass Rechtsanwalt B. bereits um 09.28 Uhr erschienen war. Die Protokollführerin hat dienstlich erklärt, dass es sich bei "09.38 Uhr" um einen Übertragungsfehler von den handschriftlichen Aufzeichnungen in die maschinenschriftliche Fassung gehandelt hat. Sie hat dazu ihre Notizen vorgelegt, die als maßgeblichen Zeitpunkt "09.28" nennen (Bd. XVIII S. 3.11 ff. SA). Dies wird bestätigt durch die Äußerung des RiKG G., der aus seinen Aufzeichnungen ebenfalls entnehmen konnte, dass Rechtsanwalt B. bereits ab 09.28 Uhr anwesend war (Bd. XVIII S. 3.16 SA). Diesen übereinstimmenden Erklärungen sind die Verteidiger nicht entgegengetreten.
II. Die Nachprüfung des Urteils auf die allgemeine Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 611
Externe Fundstellen: NStZ 2006, 714
Bearbeiter: Ulf Buermeyer