HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2006
7. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Krieg und Politik - Das politische Feindstrafrecht im Alltag

Von Prof. Dr. Alejandro Aponte (Kolumbien).

Vorrede *

Es ist für mich eine große Ehre, an diesem Strafverteidigertag teilzunehmen. Im September letzten Jahres hatte ich die Gelegenheit, an einer sehr interessanten, von Herrn Klaus Malek organisierten Diskussion der Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger zusammen mit den Professoren Hefendehl und Jörg Arnold teilzunehmen. Außerdem war ich zum Dienstagsseminar hier in Frankfurt eingeladen. Bei dieser Gelegenheit konnte ich mit Cornelius Prittwitz, Wolfgang Naucke, Klaus Günther und Ulfrid Neumann diskutieren. Diese Autoren habe ich in meinem Buch zum selben Thema bearbeitet. Außerdem konnte ich mit Winfried Hassemer, der für meine Arbeit von ganz besonderem Interesse ist, über unsere Befürchtungen reden, sowie mit Günther Jakobs, der trotz der offenkundigen Differenzen in bezug auf unser Thema immer offen für einen ehrlichen akademischen Austausch war.

Einige der in diesen gemeinsamen Diskussionen aufgeworfenen Fragen haben sich in diesem Text niedergeschlagen und sind nun Teil des Vortrags. Ebenso finden sich dort diejenigen Fragen wieder, die sich bei meinem Vortrag im vergangenen Jahr im Max-Planck-Institut in Freiburg ergeben haben, und zwar bei einer Veranstaltung, die mein Kollege und Freund Jörg Arnold organisiert hat. Ihm möchte ich für seine jahrelange Unterstützung und Solidarität danken, als ich noch meine Doktorarbeit in Saarbrücken am Institut für Rechts- und Sozialphilosophie der Universität des Saarlandes schrieb, dessen damaliger Direktor Alessandro Baratta besonders in Lateinamerika sehr geschätzt wird.[1]

1. Vom kolumbianischen Einzelfall hin zu allgemeinen Überlegungen

Ausgangspunkt meines Vortrages und konkreter Bezugspunkt ist Kolumbien, aber er beschränkt sich nicht nur auf dieses Land. Es handelt sich um grundsätzliche Überlegungen, die sich mit Themen beschäftigen, die aufgrund ihrer Komplexität mit der westlichen Tradition verflochten sind. Und wenn man sich auf den kolumbianischen Fall bezieht, entsteht notwendigerweise eine Verbindung mit Europa, konkreter gesagt mit Deutschland, denn die in diesem Land entstandene Strafrechtswissenschaft hat den größten Einfluss auf Kolumbien ausgeübt; ebenso gibt es einen erheblichen Einfluss durch Italien sowie, in letzter Zeit, durch Spanien. Darum sind wir in Kolumbien und ganz generell in Lateinamerika sehr besorgt über die derzeitige Zunahme von rein effizienten und antidemokratischen Tendenzen im Strafrecht, die aktuell in Europa aufkommen, während man in den Ländern Lateinamerikas nach den antidemokratischen Regimen und einem instrumentalisierten und rein politischen Gebrauch des Strafrechts versucht, sich an demokratischen und liberalen, auf der Einhaltung der Rechte und Garantien basierenden Strafrechtssystemen zu orientieren.

Für die Lateinamerikaner ist das liberale Erbe eines demokratischen und aufgeklärten Strafrechts, wie es in Europa entwickelt wurde, eine unerschöpfliche Quelle im Kampf gegen den sich mit Riesenschritten ausbreitenden effizienten und autoritären Pragmatismus, der manchmal in Verbindung mit Regierungssystemen des angelsächsischen Raumes steht, dessen Saat jedoch heutzutage auch im restlichen Europa aufgeht.

Ausgehend von den Überlegungen zum kolumbianischen Fall ergeben sich allgemeine Fragen hinsichtlich des Feindstrafrechts, was wiederum zu einer allgemeinen Debatte über das Strafrecht, die Möglichkeiten seiner Legitimation und seine mögliche zukünftige Ausprägung führt. Gleichzeitig können die Gegensätze zwischen dem Feindstrafrecht in Kolumbien und in anderen Ländern aufgezeigt werden. Es handelt sich also um Überlegungen, die auf einem konkreten Fall fußen und nicht im intellektuellen Elfenbeinturm entstanden sind. Und aufgrund der konkreten Erfahrungen, die man in meinem Land mit dem Feindstrafrecht gemacht hat, kann man schon hier die allgemeine Schlussfolgerung meines Vortrages vorwegnehmen: Nicht ein einziges ernsthaftes Problem, das Kolumbien hat, ist durch die Anwendung des Feindstrafrechts gelöst oder auch nur verbessert worden. Weder dem Drogenhandel, noch den Entführungen, die in Kolumbien ein wirklich großes Problem sind, weder dem Terrorismus, noch der organisierten Kriminalität konnte von diesem autoritären Strafrechtsmodell irgend etwas entgegengesetzt werden. Man kann im Gegenteil ganz klar aufgrund der tatsächlichen Erfahrungen sagen, dass die durch diese Verbrechen aufgeworfenen Probleme durch das Feindstrafrecht noch verschärft worden sind.

2. Kolumbien: zwischen Frieden und Krieg

Ausgangspunkt für unsere Studien zum kolumbianischen Feinstrafrecht muss die Suche nach seinem Kontext sein, nach seinen Ursprüngen und seiner Entwicklung. In Kolumbien ist grundlegend für das Feindstrafrecht die Existenz von schwerwiegenden sozialen und politischen Konflikten. Am Anfang steht hier eine extrem konfliktreiche Gesellschaft. Aber es handelt sich nicht um irgendeinen Konflikt, sondern um einen bewaffneten internen Konflikt, um einen Konflikt, der einem Bürgerkrieg ganz ähnlich ist und den das Land seit mehr als fünfzig Jahren durchmacht. [2]

Es handelt sich dabei nicht um einen normalen Bürgerkrieg, in dem die Akteure oder Feinde klar benannt werden können. Es handelt sich, im Gegenteil, um einen verschlimmerten, unklaren und diffusen bewaffneten Konflikt, an dem viele Akteure beteiligt sind: Guerilla, Paramilitärs, Drogenhändler usw. Es ist ein entpolitisierter, entideologisierter bewaffneter Konflikt, der jedoch wie ein bewaffneter Konflikt um die Aneignung von Territorien ausgetragen wird. Es handelt sich dabei nicht um simplen Terrorismus, diesen gibt es auch im kolumbianischen Konflikt. Es handelt sich dabei um wirkliche militärische Auseinandersetzungen zwischen Akteuren, die um ihre Präsenz in den weit von den Großstädten abgelegenen Gebieten kämpfen, aus denen sich der Staat von jeher zurückgezogen hat. In diesen Gebieten üben die Staatsbeamten nicht die Macht aus, sie wurden durch parastaatliche Akteure ersetzt. Diese Gebiete stehen unter Feudalherrschaft. In den abgelegenen Gebieten, in den Gebirgen, den Urwaldregionen war der kolumbianische Staat chronisch substituiert. Die Bedingung, die Max Weber, Norbert Elias und Hans Kelsen für die Konsolidierung des modernen Staates gestellt haben, nämlich die tatsächliche Monopolisierung der Macht und die tatsächliche Territorialisierung des Rechtes, ist hier einfach nicht gegeben. Darum benutze ich in meinen Arbeiten

allgemein die von Von Trotha in seinen Arbeiten über die weltweite Krise des Gewaltmonopols benutzte Kategorie der "parastaatlichen Ordnungsform der Gewalt".[3] Dabei wird die parastaatliche Ordnungsform der Gewalt als Autorität oder Macht verstanden: die Substituierung der Machtausübung des Staates.

Aber diese Schlussfolgerung muss differenziert werden. D.h. man kann nicht einfach die üblichen Kategorien der Politikwissenschaft auf den kolumbianischen Fall anwenden. Man kann nicht einfach behaupten, dass es sich um eine kollabierte Gesellschaft ohne jegliche Institutionen handelt oder dass die Demokratie nur rein formaler Art ist. Diese Gesellschaft wird seit Jahren von verschiedenen Arten der Gewalt heimgesucht, aber es gibt in ihr Institutionen und eine sehr vielfältige Verfassung und es gibt in diesem Land ein sehr aktives und sehr dezidiert an der Verteidigung eines Minimums an Institutionen beteiligtes Verfassungsgericht. Diese Paradoxien des kolumbianischen Falls zwischen Demokratie und Gewalt, zwischen Krieg und Recht, zwischen Krieg und Politik, zwischen Krieg und Frieden, machen dieses Land so komplex und erfordern eigene Kategorien bei seiner Untersuchung.

Inmitten dieser Paradoxien, zwischen Demokratie und Gewalt, zwischen Krieg und Recht ist das Feindstrafrecht verortet. Darum handelt es sich auch nicht um einen diffusen Topos oder um eine Arbeit rein konzeptueller Natur, sondern um einen konkreten Fall, in dem Strafrecht in Situationen des Krieges oder des bewaffneten internen Konfliktes angewendet wurde, und in dem diffuse Arten der Gewalt sich gegenseitig hochschaukeln. Im Rahmen dieses Strafrechtes ist der Feind kein Sexualstraftäter oder abstrakter Feind, sondern ein ganz konkreter, nämlich ein militärischer.

Man kann aus dem kolumbianischen Fall noch eine andere These ableiten: Unter diesen Umständen wird das Strafrecht zu einer Fortsetzung des Krieges mit zivilen Mitteln. Die Strafrechtsprechung wird zu einer Fortsetzung der gewalttätigen Auseinandersetzung. Es ist klar, dass man unter diesen Umständen keine Konflikte lösen, sondern diese nur verschlechtern kann. Jedenfalls gibt es dabei keine Möglichkeit, dass der Staat durch ein neutrales Strafrecht handelt.

3. Das Notstandssyndrom

Für einen ausländischen Beobachter Kolumbiens ist es immer wieder erstaunlich zu sehen, dass trotz der konfliktreichen Umstände das Land mit einem demokratischen System überlebt hat und sogar Phasen eines eindeutigen wirtschaftlichen Wachstums auf verschiedenen Ebenen verzeichnet hat. Während in den 60er und 70er Jahren andere Länder Lateinamerikas Phasen mit Militärregierungen und Staatsstreichen erlebt haben, hielt sich Kolumbien als Demokratie. Diese Beobachtung stimmt, aber es stimmt auch, dass seit fünfzig Jahren kein Regierungschef ohne Anwendung des Belagerungs- oder Ausnahmezustandes regieren konnte. Es gab zwar keine Militärregierung, die das demokratische System ersetzt hätte, aber es gab einen permanenten Gebrauch des Ausnahmezustandes, der die Verfassungsnormen, welche die Rechte und Garantien und das Prinzip der Gewaltenteilung schützen, aufhob. In diesem Zusammenhang war es die Exekutive, die die politische Macht auf sich vereinigt hat und die eine große Zahl an Notstandsnormen erlassen hat. Diese waren nicht, wie es in einer Demokratie sein muss, Ergebnis der parlamentarischen Debatte, sondern sie wurden direkt von der Exekutive erlassen.

Während dieser jahrzehntelang andauernden politischen Unruhen in ganz Lateinamerika wurde in Kolumbien das Feindstrafrecht in Form von mündlichen Kriegsgerichten umgesetzt. Die militärische Kriminaljustiz wurde somit auf Zivilisten angewendet. In vielen Kriegsgerichten wurden Guerilleros und Aufständische verurteilt. Aber es wurden häufig auch Zivilisten verurteilt, die nichts mit dem bewaffneten Konflikt zu tun hatten. In dieser Zeit kristallisierte sich auch eine andere charakteristische Eigenschaft des Feindstrafrechtes heraus: Zusammen mit dem "Hauptfeind", das war in den 60er und 70er Jahren der Guerillero, wurden auch Gewerkschaftsmitglieder, Anwälte, Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen und Studenten verurteilt, alles Akteure, die keinerlei Verbindung zum bewaffneten Konflikt hatten. Heutzutage wird der Terrorist oder die organisierte Kriminalität als Hauptfeind betrachtet. Und auch hier werden in seinem Schatten andere Akteure bestraft, die sich in einer Art "Grauzone" bewegen, die sich bei verschärften und ungelösten Konflikten bildet.

Nun zeigt uns dieses historisch herausragende Faktum, nämlich der permanente Gebrauch des Ausnahmezustandes, eine der zentralen Eigenschaften des Feindstrafrechts in Kolumbien auf, das direkter Ausdruck des Notstandes ist und das aus der im Rahmen des Ausnahmezustandes erlassenen Strafgesetzgebung entstanden ist. Es handelt sich dabei um ein Notstandsstrafrecht. Als solches ist dieses vor allem das Ergebnis von Debatten über den Ausnahmezustand, der immer in den Köpfen der Exekutive herumgeistert. Das Notstandsstrafrecht als konkreter Ausdruck des Feindstrafrechts ist also im wesentlichen ein politisches Strafrecht. Es steht in Verbindung mit politischen Entscheidungen. Die Entscheidung über den Ausnahmezustand ist vor allem eine politische Entscheidung, und womöglich noch mehr die Entscheidung darüber, wer denn das Ziel der Notstandsnormen ist. Zwei Entscheidungen liegen also dem Feindstrafrecht als politischem Strafrecht zugrunde: die Entscheidung über den Ausnahmezustand und die Entscheidung darüber, gegen welchen Feind sich die Normen richten sollen.

4. Der Feind als konstruierter Feind

Aufgrund dieser beiden Entscheidungen, und vor allem aufgrund der zweiten, kann man folgende Schlussfolge-

rung ziehen: Der Feind ist immer ein konstruierter Feind. Es gibt immer eine Entscheidung über die Feindschaft und über den Feind. Dies ist natürlich nicht nur eine besondere Eigenschaft im kolumbianischen Fall, sondern eine ganz allgemeine. Der Notstand ist nicht nur mit dem Ausnahmezustand verbunden, sondern auch mit Sondersystemen, wie zum Beispiel den Sondernormen gegen die organisierte Kriminalität oder gegen den Terrorismus, die Ausnahmen zu den normalen Spielregeln herstellen. So kann man beispielsweise auf die Frage von Hefendehl in einer Arbeit über die organisierte Kriminalität, was denn nun eigentlich organisierte Kriminalität ist und wer denn diese Verbrechen überhaupt begeht, folgendes antworten: Die Entscheidung darüber, wer der Feind ist und wie er behandelt wird, ist vor allem eine politische Entscheidung. [4]

Es ist darum naiv zu glauben, dass der Feind vor allem derjenige ist, der sich wie ein Feind benimmt. Sicherlich benehmen sich Terroristen, Selbstmordattentäter oder Kriegsverbrecher ganz extrem wie Kriminelle. Aber in einem so diffusen Bereich wie den Normen gegen die organisierte Kriminalität, gegen den Drogenhandel, Geldwäsche oder den Terrorismus wird der wirkliche Gehalt dieser Normen und vor allem ihr Ziel von einer Entscheidung definiert. Der Feind ist nicht unbedingt derjenige, der sich so benimmt, sondern der als solcher definiert wird.

Die von der Kriminologie entwickelte Kategorie der "Definitionsmacht" kann in diesem Zusammenhang weiterhelfen. Und jedes Land und jede Gesellschaft muss für sich selbst herausfinden, wo die Zentren der Definitionsmacht sitzen. In Kolumbien ist es ganz klar, dass im Zusammenhang mit dem Drogenhandel es nicht die Regierung ist, die darüber entscheidet, was den Drogenhandel ausmacht und wer dazu gehört. Diese Entscheidungen werden in Machtzentren getroffen, die nicht einmal in unserem Land liegen.

5. Absolute und relative Feinde

Wenn man weiß, dass der Feind vor allem ein konstruierter Feind ist, kann man auch verstehen, dass das Feindbild der politischen aktuellen Situation unterliegt. Der Feind von heute ist nicht unbedingt der Feind von morgen. Aber man kann dann auch einen weiteren sehr interessanten Sachverhalt sehen: Es gibt nämlich relative Feinde und absolute Feinde. In einem konfliktreichen Szenario, wie es in Kolumbien gegeben ist, kann man diesen Unterschied genau sehen. Das Feindstrafrecht wird nicht immer gegen die als absolut betrachteten Feinde angewendet, zum Beispiel gegen einen Terroristen. Im Gegenteil, und das ist auch Teil des Feindstrafrechts, häufig werden gegenüber bestimmten Akteuren, die eine politische Entscheidung in einen Friedensprozess integriert hat, Amnestien und Begnadigungen ausgesprochen. Sie wurden im Strafprozess meistens sehr gnädig verurteilt. Sowohl die Guerilleros als auch heutzutage die Paramilitärs wurden in Sonderverfahren sehr wohlwollend behandelt. Das Prinzip, das hinter diesen Zugeständnissen steckt, war das Anerkennen des politischen Charakters ihrer Handlungen. Aber dieses Anerkennen ist eine eminent politische Handlung, sie hängt nicht von den begangenen Taten ab, sondern sie ist die Grundlage einer politischen Entscheidung.

Heutzutage gibt es beispielsweise ein Sondergesetz namens "Ley de Justicia y Paz" (Gesetz zur Sicherung des Friedens und der Sicherheit"), das, zumindest zurzeit, auf Mitglieder von ultrarechten paramilitärischen Gruppen angewendet wird. Diese waren in schwerste Verbrechen und Verletzungen der Menschenrechte verwickelt. Aber heutzutage sind sie Teil des Friedensprozesses mit der aktuellen Regierung und erhalten Vorteile aus dem genannten Gesetz. Wie schwer auch ihr Verbrechen gewesen sein mag, ihre Strafe bewegt sich immer zwischen fünf und acht Jahren Haft, die sie tatsächlich verbüßen müssen. Und dieses Gesetz ist auch und vor allem Feindstrafrecht, nur in diesem Fall wird es auf diejenigen angewendet, die eine politische Entscheidung zu relativen Feinden gemacht hat. In diesem Fall könnten die internationale Gemeinschaft oder Menschenrechtsorganisationen meinen, dass es sich um Schwerverbrecher handelt, die eine sehr hohe Strafe verdienen würden. Aber dies ist irrelevant. Das einzig Wichtige ist, dass die politische Entscheidung ihnen ihren heutigen Status verliehen hat. Und darum wiederholen wir hier noch einmal: Es ist pure Naivität und Demagogie zu glauben, dass der Feind derjenige ist, der sich auch so benimmt. Wir wiederholen: Der Feind ist eine Konstruktion.

6. Feindstrafrecht: Dogmatik oder Politik?

Diese Schlussfolgerung führt uns auch zu einer weiteren grundlegenden These: Die Antwort auf die Frage, wie das Feindstrafrecht in der Praxis als politisches Notstandsstrafrecht handelt, wird nicht von der Strafrechtsdogmatik gegeben. Dies ist ein weiterer naiver Gedanke. Wenn man ein ausgesprochen politisches Bestrafungsmodell mit dogmatischen Kategorien bearbeiten will, so ist man schon gescheitert. Aber das Problem ist noch

weitaus komplizierter und hat mit einer Frage zu tun, die Professor Naucke und verschiedene Anwälte in Freiburg aufwarfen: Kann man das Feindstrafrecht als politisches Strafrecht, als von der aktuellen Situation abhängiges und ganz allgemein von den Rechten und Garantien weit entferntes Recht, in dem der Verbrecher durch den Feind ersetzt wird und dieser außerhalb des Gesellschaftsvertrages verurteilt wird, kann man ein solches Recht überhaupt noch Recht nennen?

Diese Frage ist natürlich beunruhigend, aber sie ist vielleicht relativ einfach zu beantworten, wenn man die Szenarien betrachtet, in denen dieses Modell in die Realität umgesetzt wurde und in denen es sich nicht um eine rein theoretische Spekulation handelt. Um diese Frage zu beantworten, muss man sich folgendes vor Augen halten: Es gab in Kolumbien große Bemühungen der Anwälte, die fast zehn Jahre lang in den 90er Jahren im Rahmen einer Notstandsstrafgesetzgebung, der sogenannten "Justiz ohne Gesicht" handeln mussten. Diese ist in der neueren Geschichte das bekannteste Modell eines Feindstrafrechtes und war dadurch gekennzeichnet, dass alles geheim war. Es gab geheime Beweise, Staatsanwälte, Richter, Zeugen und Gutachter. Bei diesen Strafprozessen wurden die Rechte und Garantien radikal beschnitten. Und dennoch bewegten sich die Anwälte innerhalb ihrer Grenzen und versuchten, wenigstens ein Minimum an Prozessgarantien zu sichern. Auch das Verfassungsgericht unternahm mutige Versuche, einige der kompliziertesten und am meisten kritisierten Figuren der Justiz ohne Gesicht an das Gesetz und die Verfassung anzupassen. Kann man nun in diesem Fall kritisieren, dass der Versuch des Verfassungsgerichtes, die Auswirkungen einer sehr rigiden Sonderjustiz zu relativieren, ein reiner Akt der Legitimierung dieser Justiz ist? Oder handelt es sich vielmehr um mutige Bemühungen des Gerichtes, das allen Arten von Druck ausgesetzt war? An dieser Stelle müssen wir darauf hinweisen, dass das kolumbianische Verfassungsgericht häufig von der Exekutive und dem Notstandsgesetzgeber zu einer Art Feind des "Kampfes gegen die organisierte Kriminalität" oder gegen den Terrorismus gemacht wurde. Dies ist eine weitere Eigenschaft des Feindstrafrechts: Die Tendenz zu Reaktionen, die an die jeweilige Situation gebunden sind, kann sogar dazu führen, dass eine Institution wie das Verfassungsgericht als "Feind" betrachtet wird. Diese Tatsache wurde vor allem von Herbert Prantl in einem Kommentar über mein deutsches Buch zu diesem Thema im April 2004 hervorgehoben.[5]

Das Dilemma ist folgendes: Soll sich das Verfassungsgericht den Notstandsstrafgesetzen im ganzen entgegenstellen und wird dafür von der Exekutive an den öffentlichen Pranger gestellt und als Hindernis im "Kampf gegen den Terrorismus" oder gegen die organisierte Kriminalität dargestellt? Oder soll es einen Ausgleich schaffen, um die Auswirkungen eines antiliberalen und antidemokratischen Strafrechts zu mildern, wohl wissend, dass es sich nicht dem ganzen System entgegenstellen kann? Alle Entscheidungen des Verfassungsgerichtes der letzten 15 Jahre zu diesen Themen waren von diesem Dilemma geprägt. Dabei wurden die Entscheidungen dahingehend pervertiert, als das Verfassungsgericht zu einem Mitentscheider wurde über den Ausnahmezustand sowie über die Definition des Feindes und ob er ein relativer oder absoluter Feind ist. Dies ist einer Demokratie natürlich nicht zuträglich. Das Eingreifen der Verfassungsrichter ist somit übertrieben und extrem politisiert und führt möglicherweise zu Dysfunktionalität. Aber so kam es bis heute zu dieser Dynamik und das Verfassungsgericht hat zugunsten eines verfassungskonformen Strafrechts die praktischen Auswirkungen der Notstandsstrafgesetzgebung begrenzt.

7. Die Deinstitutionalisierung der strafrechtlichen Funktion

Diese vorherigen Überlegungen stehen in Verbindung mit einer Frage, die mir häufig in den internationalen Foren zu diesem Thema begegnet ist: Ist es besser, wenn es in einer so konfliktreichen Gesellschaft ein minimales Feindstrafrecht gibt, das auch noch von den Richtern in seine Grenzen verwiesen wird, oder ist es besser, wenn es überhaupt keine Strafgesetzgebung gibt? Auch diese Frage ist sehr beunruhigend. In einem Staat, in dem in den meisten Gebieten das Paradigma der Selbstverteidigung gilt, in denen der Normalbürger dem Schicksal ausgeliefert ist, das die bewaffneten und den Staat substituierenden Akteure ihm aufzwingen, und in dem eine parastaatliche Ordnungsform der Gewalt herrscht, ist es natürlich immer viel besser, ein autoritäres Strafrechtssystem zu besitzen als gar keines. Aber das kann nicht darüber hinwegtrösten, dass diese resignierende Haltung schlimme Auswirkungen hat.

Ein konkretes Beispiel dafür: In einer abgelegenen Urwaldregion führen die Armee und die Polizei eine Befreiungsaktion für eine entführte Person durch. Es kommt zu einem Feuergefecht zwischen den Entführern und den staatlichen Einsatzkräften. Wenn es nun keine juristische Regelung, wenn auch minimaler Art, gibt, so kann es vorkommen und ist auch vorgekommen, dass die Entführer zum Beispiel einfach erschossen werden, sobald sie sich ergeben haben. Oder möglicherweise werden sie gefangen genommen und dann gefoltert. Wenn es aber eine Art der minimalen juristischen Regelung gibt, auch wenn sie autoritär ist, so können die Entführer den Behörden übergeben werden und dann ohne große Garantien als Feinde verurteilt werden, aber zumindest ist ihr Leben nicht in Gefahr. Das ist natürlich eine pervertierte Wahlmöglichkeit, aber dies ist heutzutage das wahre Dilemma des Feindstrafrechts.

Wenn man sich nun eingehender mit diesem Dilemma beschäftigt, so findet man heraus, dass die erwähnte Wahlmöglichkeit in Wirklichkeit nur formaler Art ist. D. h. das zentrale Problem des Feindstrafrechts ist seine inhärente Gefahr, zu einer reinen de-facto-Antwort in der deinstitutionalisierten Ausübung der strafrechtlichen Reaktion zu verkommen. Wenn, wie Walter Benjamin behauptet, in der juristischen Ordnung eine rechtssetzen-

de und eine rechtserhaltende Gewalt existiert, so dass es in jedem juristischen System eine Gewalt gibt, die notwendig ist, um dieses Recht zu erhalten, so kann diese Gewalt gleichzeitig zu einer Bedrohung der juristischen Ordnung werden.[6] Die Macht, die nötig ist, um das Recht zu erhalten, wird zu ihrer eigenen Bedrohung, da diese Macht zu einer Macht ohne Grenzen werden kann.

Diese grundlegende Tatsache, die es in jedem Strafrechtssystem egal welcher Art gibt, verschärft sich noch im Falle eines Feindstrafrechts. In diesem Fall muss Gewalt ausgeübt werden, um diese Art von Rechtsmodell aufrecht zu erhalten, und diese Gewalt ist im wesentlichen gegen die Rechte und Garantien gerichtet und kann daher in der Praxis unbegrenzt ausgeübt werden, so dass sie die Art von Recht ersetzen kann, die sie erst eingesetzt hatte. Daher wird das Feindstrafrecht in Wirklichkeit zu einem unbegrenzten Instrument der Machtausübung und kann sich über den guten oder schlechten Willen eines Polizisten, Staatsanwaltes oder Richters, seine Auswirkungen zu begrenzen, hinwegsetzen. Diese Wirklichkeit verschärft sich bei Konflikten, in denen das Feindstrafrecht zu einer Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln wird. In diesem Fall, und wir kommen hier auf den bereits erwähnten Fall zurück, überträgt sich die Eigenschaft des Nicht-Bürgers, des Feindes auf die Handlungsweise des Polizisten oder Soldaten, der dann auch einen sich ergebenden Entführer erschießen oder foltern kann, denn es handelt sich ja auf jeden Fall um eine Handlungsweise im Rahmen eines total deinstitutionalisierten Rechtssystems.

8. More of the same: die Selbstbezüglichkeit der Notstandsfeindstrafrechtsnormen

Wenn man den vorherigen Schlüssen folgt, so ist es nicht nur Aufgabe der Juristen in Kolumbien, einen Modus zu finden, wie das Feindstrafrecht begrenzt werden kann, sondern es ist ihre Aufgabe, ein wirkliches verfassungskonformes Strafrecht zu finden. Dieses Strafrecht sollte nicht die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein, es sollte keine Opfer schaffen, die man zu Sündenböcken macht, es sollte die Konflikte nicht verschärfen, und es sollte auf irgendeine Weise die Konflikte effektiv lösen. Außerdem sollte es keine falschen Erwartungen in der Gesellschaft wecken.

Aber genau dies ist eine weitere Eigenschaft des politischen Notstandsstrafrechtes als Feindstrafrecht. Da es keines der schweren Probleme auch nur annähernd lösen kann, ist seine Antwort angesichts der gesellschaftlichen Enttäuschung der Erlass von immer mehr Normen. Diese werden vervielfältigt und symbolisch legitimiert, beziehen sich immer wieder auf einander und rechtfertigen sich gegenseitig, ohne irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen. Je größer die Enttäuschung, desto größer ist die normative Inflation, und dieses Problem gibt es heutzutage in allen Ländern, die dieses autoritäre Strafrechtsmodell vorantreiben.

Die bereits erwähnte Aufgabe, nämlich einen mutigen Vorstoß zur Einführung eines liberalen und verfassungskonformen Strafrechts und zur Verteidigung des wirklichen Bürgerstrafrechtes vorzunehmen, wird in Kolumbien hauptsächlich vom Verfassungsgericht übernommen. Im Jahr 2004 erklärte dieses Gericht mit einer knappen Mehrheit von fünf zu vier Stimmen ein neues Antiterrorstatut für verfassungswidrig, denn es handelte sich dabei nicht nur um Ausnahmenormen, sondern um eine Verfassungsreform. Die Verfassung sollte radikal zugunsten einer absoluten Fortdauer des Feindstrafrechts geändert werden. Obwohl es allen Arten von Druck ausgesetzt war, auch internationalem Druck, und trotz der Vereinbarungen, die die Regierung mit anderen Ländern getroffen hatte, traf das Gericht diese mutige Entscheidung. Auch im Zusammenhang mit dem neuen Anklagegrundsatz, der seit 2005 gilt, haben das Gericht und die neuen Richter des Rechtssystems dem Freiheitsprinzip Vorrang vor dem Autoritätsprinzip gegeben. Ganz allgemein werden in Lateinamerika Reformen des Strafrechts vorangetrieben, die auf den Prinzipien der Verfassung und des humanitären Völkerrechts basieren. Es handelt sich um einen ganz konkreten Einsatz, an dem alle Bereiche der juristischen Gemeinschaft beteiligt sind.

9. Das Feindstrafrecht: eine Selektivitätsmaschine

Abgesehen von den genannten Gründen und den pervertierten Auswirkungen eines Modells der strafrechtlichen Reaktion, das auf der Feindschaft basiert und bei dem der Bürger durch den Feind ersetzt wird, bei dem der Beschuldigte eher als militärischer Feind gesehen wird denn als Prozessbeteiligter unter dem Schutz der Unschuldsvermutung, gibt es heute einen wichtigen Grund dafür, die Bemühungen um Einführung eines autoritären Strafrechtsmodells einzudämmen. Das Feindstrafrecht ist vor allem eine gigantische Selektivitätsmaschine. Da es sich um ein extrem politisiertes Recht handelt, dessen Figuren und Normen nicht dem Diktat der Dogmatik folgen, um eine flüchtige und von der jeweiligen Situation abhängige Reaktion, werden in ihm in Wirklichkeit nicht diejenigen verurteilt, die im Legitimitätsdiskurs zu diesem Strafrechtsmodell als Objekte dieser Normen gehandelt wurden.

In Wirklichkeit werden weder die Terroristen, noch die Hintermänner des Drogenhandels oder der organisierten Kriminalität noch die Drahtzieher von Menschenraub im großen Stil verurteilt. Diese befinden sich außerhalb der Reichweite der strafrechtlichen Normen, befinden sich nicht innerhalb des Kreises, in dem das Gesetz angewendet wird, sei es weil es sich um bewaffnete Akteure handelt, die den Staat bekämpfen und sich in abgelegenen Gebieten verstecken, sei es weil es sich um Schwerverbrecher handelt, die auch den Staat unter Druck setzen und bei denen man nicht das Strafrecht anwenden kann. Es kommt zu einer Paradoxie zwischen Recht und Ge-

walt: Je mehr Gewalt ein Akteur gegen den Staat und die Gesellschaft anwendet, desto weniger schwer wird er bestraft; im Gegenteil, wenn die Gewalt, die er ausübt, nicht so groß ist, ist er vielleicht einer viel härteren Strafe ausgesetzt. Darum ist das Feindstrafrecht auch keine Waffe gegen organisierte Kriminalität, dies ist reine Rhetorik. Es ist ein Modell auf der Basis von symbolischen Normen, die schlußendlich selektiv auf Kleinkriminelle oder ganz einfach auf Unschuldige angewendet werden. Tatsächlich waren in den ersten Jahren der Amtszeit der derzeitigen Regierung Massenverhaftungen an der Tagesordnung. In einem Gebiet, in dem sich bewaffnete Akteure aufhalten, wurden 20 oder 30 Personen gleichzeitig unter dem Vorwand der Verbindung zur Guerilla verhaftet. Diese wurden dann den Medien vorgeführt, und wenn der moralische und wirtschaftliche Schaden bereits entstanden ist, stellen die Staatsanwälte und Richter fest, dass 90 bis 95% dieser Personen gar nichts mit den bewaffneten Gruppen zu tun haben. Wie bereits gesagt, ist dies ein Medium, mit dem in hohem Maße Selektivität hergestellt wird und permanent Opfer zu Sündenböcken gemacht werden.

Nicht nur, dass auf diese Weise die Konflikte verschärft und nicht gelöst werden, es werden auch neue Beteiligte am Konflikt selbst geschaffen, da die nicht verfassungsgemäßen Normen selektiv angewendet werden. Wenn bei einem Kleinkriminellen, der nur ein kleines Rädchen in einer kriminellen Bande oder im Drogenhandel ist, die gegen Feinde gerichteten Normen mit aller Schärfe angewendet werden, so kann es sein, dass dieser am Ende wirklich zu einem Feind und Schwerverbrecher wird. So ist dann dieses Individuum für den Staat verloren und das Recht kann nicht wiederhergestellt werden. Aus diesen Opfern können dann aufgrund der gleichen juristischen Ordnung Mörder werden. Diese Praxis wird noch pervertierter, wenn das Opfer als Sündenbock zu einem Subjekt mit niederer Moral gemacht wird. Diesen Prozess habe ich als "Moralisierung des Feindes" beschrieben, und dieser ist heute sehr verbreitet in den totalisierenden und verabsolutierenden Diskursen über Antiterrorgesetzgebungen.[7] Der moralische Feind ist immer und vor allem ein absoluter Feind, wir erinnern da an den erbitterten "Kampf der Kulturen" der heute in der westlichen Welt geführt wird. Gegenüber dem absoluten Feind gibt es keine Grenzen bei der Bekämpfung.

10. Auf dem Weg zu einem verfassungskonformen Strafrecht

Wie wir bereits am Anfang erwähnt haben, beobachtet man in Lateinamerika mit Besorgnis die Tendenzen, die sich in einigen Ländern Europas anscheinend den Weg bahnen. Dabei sollen Antiterrorgesetze und Gesetze gegen die organisierte Kriminalität vorangetrieben werden, in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um Formen des Feindstrafrechts. Während man auf unserem Kontinent dafür kämpft, das Strafrecht und die Strafprozeßordnung auf die Linie der Verfassung und des humanitären Völkerrechts zu bringen, wird in Ländern, die seit Jahren einen großen Einfluss auf unsere Staaten haben, mit autoritären Systemen experimentiert. Dies ist eine pervertierte Paradoxie im Zusammenhang mit der Globalisierung des Rechts. Mein Beitrag in diesem Szenario hat nicht nur den Sinn einer rein akademischen und gelehrten Übung oder den einer Ausführung eines für das vergleichende Recht interessanten Falles, sondern er kann nur dann einen Sinn haben, wenn er ganz klar und ausgehend von einem konkreten Fall ein wirkliches Bürgerstrafrecht als verfassungskonformes Strafrecht als einzig wirksamer Beitrag zu einer Annäherung auf einer eher nüchternen und weniger rhetorischen und ideologischen Ebene an die schweren Konflikte, unter denen unsere Gesellschaften in unterschiedlicher Abstufung leiden, einfordert.


* Der Beitrag gibt einen Vortrag wieder, den der Verfasser im März auf dem 30. Strafverteidigertag gehalten hat.

[1] Eine detaillierte Darstellung des kolumbianischen Falles im Rahmen einer allgemeinen Reflexion über das Feindstrafrecht findet sich in: Aponte, Alejandro, Krieg und Feindstrafrecht. Überlegungen über das effiziente Feindstrafrecht anhand der Situation in Kolumbien, Baden-Baden, 2004.

[2] In der Diskussion, die sich nach meinem Vortrag beim Dienstagsseminar in Frankfurt im Juli 2005 ergab, formulierte Ulfrid Neumann die folgende Frage: Wenn es so ist, dass der Ausgangspunkt für das Feindstrafrecht in Kolumbien der Konflikt ist, während es laut Jakobs in Deutschland bzw. in Europa der Konsens ist, welche praktischen Konsequenzen würde dieser Unterschied mit sich bringen? Dies ist eine der zentralen Fragen. Unser Meinung nach kann es sein, obwohl sich das im Prinzip paradox anhört, dass in einer auf dem Konsens beruhenden Gesellschaft das Strafrecht noch härter und noch weniger die Rechte und Garantien bewahrend angewendet wird als in einer Gesellschaft, die durch große soziale und politische Konflikte gekennzeichnet ist. Denn in diesen mag es geschehen, und so ist es auch geschehen, dass in einem Akt der Selbsterkenntnis, dass alle an diesen vielfältigen Konflikten beteiligt sind, sowohl die strafrechtliche als auch die militärische Antwort eventuell relativiert und die Feind als relative Feinde gesehen werden. Jedoch in einer Gesellschaft, die auf dem breiten Konsens beruht, obwohl dieser niemals empirisch nachgewiesen werden konnte, kann derjenige, der sich von diesem Konsens entfernt, als Verräter behandelt werden, nämlich als Verräter an der Sache des Konsens. In diesem Fall könnte seine Strafe unbegrenzt sein, aus dem Feind wir eine Unperson im absoluten Sinn.

[3] Von Trotha, Trutz, Ordnungsformen der Gewalt oder Aussichten auf das Ende des staatlichen Gewaltmonopols, in: Nedelmann, Brigitta unter Mitarbeit von Koepf, Thomas (Hrg.), Politische Institutionen im Wandel, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1997, S. 141.

[4] Hefendehl, Roland, Organisierte Kriminalität für ein Feind- oder Täterstrafrecht?, in: Strafverteidiger, Jahr 25, Heft 3, März 2005, SS.156- 161. Über diesen Aspekt wurde im Rahmen der verschiedenen Vorträge des Autors in Deutschland im Sommer 2005 am meisten diskutiert. Im bereits eingangs genannten Dienstagsseminar in Frankfurt betonten Naucke und Neumann diesen zentralen Aspekt. Dies hat mit den unterschiedlichen Ausgangspunkten zu tun, nämlich dem Konflikt im kolumbianischen Fall und dem Konsens im europäischen Fall. Für Neumann ist laut Jakobs derjenige der Feind, der sich wie ein Feind benimmt. Diese Schlussfolgerung können wir in dieser Arbeit nicht teilen. Im Rahmen unseres Vortrages im Max-Planck-Institut für Internationales Strafrecht in Freiburg im September 2005 kamen wir auch und besonders auf diesen Aspekt zurück. Bei diesem Vortrag wurde die Schlussfolgerung, die ja vom kolumbianischen Fall ausgeht, dass nämlich der Feind vor allem eine Konstruktion ist, außerdem von Professoren geteilt, die aus Ländern mit komplexen Problemen kommen, wie zum Beispiel aus Italien. Dort wurde im Juli 2005 direkt nach den Attentaten von London wieder ein Antiterrorgesetz erlassen, das wegen seiner rein symbolischen und rhetorischen Auswirkungen harsch kritisiert wurde. Und diese Rhetorik ist die Rhetorik des Notstandes auf der Grundlage eines konstruierten Feindbildes.

[5] Prantl, Herbert, Bürger und Feinde. Strafrecht als Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln - der Beschuldigte als militärisches Ziel, in: Süddeutsche Zeitung, April 24/ 2005.

[6] Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt, in: Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse, Frankfurt am Main, 1965, S. 40.

[7] Siehe dazu Aponte (2004), S. 316.