HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2006
7. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen


Zurechnen-Können, Erwarten-Dürfen und Vorsorgen-Müssen - Eine Erwiderung auf Günther Jakobs

Von Dr. Jochen Bung, Universität Frankfurt am Main.

Die Versachlichung der Diskussion um das Feindstrafrecht[1] enthält eine für die Strafrechtswissenschaft schwerlich zu überschätzende Chance zur Grundlagenbesinnung. Man wünscht sich, diese Chance wäre durch einen anderen Begriff eröffnet worden, aber auszuschließen ist es nicht, dass es gerade dieser Begriff sein musste. Seine Ecken und Kanten schleifen sich freilich durch die andauernde Verarbeitung im wissenschaftspublizistischen Kreislauf merklich ab. Aber das ist gut so, denn nun vermag man im Begriff des Feindstrafrechts nicht länger eine Kriegserklärung, sondern das Angebot zu erkennen, in ein zivilisiertes Gespräch über die Grundlagen des Strafrechts einzutreten. Der Begriff als Wort oder als bloßer Name besagt nicht viel.[2] Zwar ist er von Jakobs aus Gründen der Distinktion und Gewinnung von Aufmerksamkeit nicht zufällig gewählt worden. Auch ist er für sich genommen nicht etwa »ein sinnloser Laut«[3], sondern regt als kompositionaler Neologismus bestimmte Konnotationen oder Assoziationen an. Aber Konnotationen und Assoziationen sind allenfalls Vorformen von Argumenten; und daher sollte man nicht mehr länger gebannt auf das Wort »Feindstrafrecht« starren, sondern sich auf die Argumente konzentrieren, die das perhorreszierte Wort zu tragen behaupten. Ich konzentriere mich in diesem Beitrag auf Argumente von Jakobs, die er während des 30. Strafverteidigertages in Frankfurt am Main dem Publikum präsentiert hat, und zwar sowohl in seinem Vortrag als auch in der sich daran anschließenden Diskussion.[4] Insoweit der Beitrag auf Jakobs` Kritik an Argumenten eingeht, die der Verfasser an anderer Stelle vorgetragen hat[5], versteht er sich als Erwiderung.

I. Jakobs gegen Palmström-Normativismus

In seinem Frankfurter Vortrag über die »Bedingungen von Rechtlichkeit« geht es Jakobs - dem dezidiert philosophischen Titel entsprechend - zuvörderst um die Kritik einer fundamentalen Verkennung des Wesens der Rechtsgeltung, die man in Anlehnung an das bekannte Gedicht von Christian Morgenstern (»Die unmögliche Tatsache«) als Palmström-Normativismus bezeichnen kann. Palmström wird von einem Auto überfahren. Er stellt - »entschlossen weiterlebend« - fest, dass das Kraftfahrzeug an dieser Stelle gar nicht fahren durfte.

Daher kommt er zu dem Ergebnis, dass er den Unfall geträumt haben muss, »weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf«. In einer Art Umkehrung des naturalistischen Fehlschlusses schließt Palmström vom Sollen aufs Sein und übersieht dabei, dass das Recht nicht schon allein deswegen gilt, weil es Geltung beansprucht.

Die Kritik am Palmström-Normativismus findet sich schon in früheren Texten von Jakobs, so etwa in dem Einwand, niemand spaziere allein deswegen nächtens im Park, weil er weiß, dass er nicht erschlagen werden darf, sondern auch im Bewusstsein dessen, dass diese Norm Bestandteil einer Ordnung ist, die typischerweise garantiert, dass niemand während nächtlicher Spaziergänge im Park erschlagen wird.[6] Die kognitive Sicherheit des Vertrauens in die Normgeltung ist wesentliches Konstituens jener Ordnung, die wir als Rechtsordnung ansprechen. Sie ist beileibe kein freischwebendes, allenfalls in der Rechtsidee verankertes System, sondern muss, wie gerade der große Normativist Hans Kelsen hervorgehoben hat, im Großen und Ganzen wirksam sein.[7] Man kann diesen Gedanken als Rechtsrealismus bezeichnen, und er markiert den Bereich, in dem die Rechtswissenschaft nur um den Preis wissenschaftlicher Naivität sich dem Anspruch verweigern kann, zugleich auch Gesellschaftswissenschaft zu sein. Auf dem abstrakten Niveau solcher Erörterungen kann niemand die Wahrheit des Rechtsrealismus bestreiten.

Wie immer bei sehr abstrakten Einsichten muss jedoch besondere Sorgfalt dem gelten, was man für die Wirklichkeit in concreto daraus ableiten kann. Zwei Dinge folgen aus dem Rechtsrealismus jedenfalls nicht. Zum einen folgt nicht, dass ein besonders konsequenter Rechtsrealismus schließlich ganz darauf verzichten könnte, Recht als einen genuinen Geltungsbereich in Bezug zu nehmen. Das zeigt eine einfache Überlegung: Ersetzen wir Aussagen der Form »A und B folgen Norm N« systematisch durch deskriptive Interpretationen der Form »A und B tun das, was sie "der Norm N folgen" nennen«. Offenkundig funktioniert dieser Vorschlag nicht, denn: »A und B tun das, was sie "der Norm N folgen" nennen« ist wahr genau dann, wenn A und B der Norm N folgen. Das zeigt, dass die Bezugnahme auf Normen und damit auch deren spezifische Dimension von Geltung irreduzibel ist.[8] H.L.A. Hart hat argumentiert, dass etwa die Voraussagbarkeit von Strafe nicht als zureichende Erklärung dafür angesehen werden kann, dass soziale Regeln existieren. Wir sagen nämlich, so Hart, »dass wir einen Menschen tadeln oder bestrafen, weil er eine Regel gebrochen hat«[9]. Die Kursivierung des »weil« ist, wenn man so will, eine Theorie der Zurechnungsfähigkeit in nuce. Der intensionale Gehalt dieses Junktors widersteht, wie Hart bemerkt, »der Analyse in klaren, harten und tatsächlichen Begriffen«[10]. Er begründet das in Recht und Moral vorausgesetzte Modell der Zuschreibung verantwortlicher Handlungsurheberschaft, wobei im Falle der Verantwortlichkeit für den Normbruch das Verstehen der Norm notwendiger Bestandteil der Prämissen des praktischen Syllogismus ist. Harts »weil«, insofern es die Handlungsverantwortung der Person meint, ist nicht naturalisierbar, etwa im Sinne von deskriptiv zu erfassenden und prognostisch zu generalisierenden Verhaltensregularitäten. Insoweit gibt es mit dem Rechtsrealismus von Jakobs vermutlich keinen Dissens. Dass Normen eine Geltungsdimension sui generis eröffnen und damit auch eine Form von Rationalität, die nicht auf Berechenbarkeit reduziert werden kann, führt noch lange nicht zum abstrakten Normativismus Palmströms, und Jakobs, der selbst eine der fundiertesten Normentheorien vorgelegt hat[11], wäre sicherlich der letzte, der das bestreiten würde.

Hat man damit aber bestimmte radikale Formen des Rechtsrealismus ausgeschlossen, gibt es noch eine zweite Möglichkeit des Kurzschlusses aus der abstrakten Einsicht in die Angewiesenheit des geltenden Rechts auf seine Wirkung; die nämlich, dass - populärhegelianisch zu reden - die Wirklichkeit des Rechts auch das Vernünftige ist. Hierüber, meine ich, muss man mit Jakobs streiten. Denn der schiere Umstand, dass es Sicherungsverwahrung, Untersuchungshaft und Vorfeldkriminalisierung gibt, besagt noch überhaupt nichts über die Möglichkeit einer vernünftigen Begründung dieser Institute und Regelungen. Niemand (außer etwa einem naturrechtsgläubigen Palmström) würde behaupten, dass Norm N nicht gilt, weil sie nicht gelten darf. Aber dass bestimmte Normen oder Rechtsinstitute abgeschafft gehören, ist eine legitime Argumentationsform, die mit Wirklichkeitsverkennung nichts zu tun hat.[12] Vielmehr

ist es eine konstitutive Bedingung für jede Lex-lata-Debatte, dass sie sich zumindest in einem Möglichkeitsraum von Gesichtspunkten de lege ferenda bewegt. In diesem Sinne ist Jakobs` herablassende Haltung gegenüber der Rechtspolitik der Kurzschluss eines falsch verstandenen Rechtsrealismus. Dass Recht etwas ist, das im Großen und Ganzen praktiziert werden muss, dass eine Normenordnung nur Bestand hat, wenn sie auch eine Zwangsordnung ist, besagt überhaupt nichts gegen Rechtspolitik.

Es ist - beiläufig gesagt - das große Problem der enormen Vagheit von Begriffen wie »im Großen und Ganzen« oder »partiell« (der Feind taucht in letzter Zeit bei Jakobs vermehrt in begrifflich abgerüsteter Gestalt als »Partialfeind« auf), die es so schwer machen, den argumentativen Gehalt der Rede vom Feindstrafrecht auszuloten. Dass wir wissenschaftlich mit vagen Begriffen arbeiten müssen, bedarf keiner Erörterung, ebenso die von Jakobs in seinem Frankfurter Vortrag hervorgehobene Unverzichtbarkeit idealtypisierender Begriffsbildung. Aber über die zulässigen Grenzen der Vagheit lässt sich sehr wohl streiten.[13] Wenn jemand etwa sagen würde, Feind sei derjenige, der sich zumindest teilweise im Großen und Ganzen nicht zuverlässig verhält, würde ich sagen, dass die Grenzen zulässiger wissenschaftlicher Vagheit oder rechtsdogmatischer Operationalisierbarkeit überschritten sind. Dass die Vagheit bei Jakobs schon so weit geht, vermag ich nicht mit Sicherheit auszuschließen.

II. Vom Polizeigedanken im Recht

Wer die Entthronung normativistischer Omnipotenz durch die Wirklichkeit nicht aushalte, argumentierte Jakobs in seinem Frankfurter Vortrag, solle sich auf Rechtspolitik oder auf Normlogik verlegen. Dabei verfällt - wie eben gezeigt - die Kritik an der Rechtspolitik in den selben Fehler, den sie der Rechtspolitik vorwirft: Sie ist zu abstrakt und kann leicht mit dem Hinweis entkräftet werden, dass Rechtspolitik Teil der Rechtswirklichkeit ist. Dass man es mit der Politisierung des Rechts nicht übertreiben, zum Beispiel nicht alle möglichen gesellschaftlichen Reformideen als Staatszielbestimmungen in die Verfassung aufnehmen soll, ist kein Gegeneinwand, sondern selbst eine rechtspolitische Forderung.

Wie verhält es sich aber mit Jakobs` Kritik an der Normlogik? Dass diese jedenfalls dann vom Vorwurf der Realitätsferne getroffen wird, wenn sie sich darauf beschränkt, im sog. deontischen Kalkül die Spielfiguren hin und her zu schieben, ist nicht zu bestreiten. Das erklärt wohl auch, warum es selbst grundlagenorientierte und formalen Methoden nicht von vornherein feindlich gegenüberstehende Juristen abgelehnt haben, sich mit dieser hermetischen Disziplin näher zu beschäftigen. Für die Funktionsweise des normlogischen Kalküls ist es charakteristisch, dass die deontischen Operatoren wechselseitig definiert werden können.[14] Dass jemand etwas tun darf, ist danach z.B. äquivalent nicht etwa mit der Aussage, dass jemand etwas nicht tun muss, sondern damit, dass er nicht etwas nicht tun muss. Die materielle Logik unserer normalsprachlichen Rede vom Müssen, Dürfen oder Können entzieht sich jedoch der Hermetik dieser definitorischen, auf einem formalen Begriff der Negation beruhenden[15] Äquivalenzen. Der Vorwurf der Realitätsferne ist hier ganz fehl am Platz. Im Gegenteil ist die Berücksichtigung der materiellen Logik unseres normativen Vokabulars eine wesentliche Bedingung dafür, dass eine Untersuchung der Bedingungen von Rechtlichkeit nicht ihren Gegenstand verfehlt.

Zum Beispiel ist die bloße Auskunft, dass es ein Recht der Gefahrenabwehr gibt, von eher bescheidenem epi-stemischem Zuschnitt. Interessant wird es erst, wenn man zu Aussagen übergeht, die deontisches Vokabular in dem eben erläuterten materiellen Sinne enthalten. Zum Beispiel: Polizeirecht ist nötig, weil es Situationen gibt, in denen Gefahren abgewehrt werden müssen. Bleiben wir beim Beispiel der Gefahrenabwehr. Eine Teilklasse jener Situationen, in denen Gefahren abgewehrt werden müssen, stellen solche Konstellationen dar, in denen die Gefahr von einem Menschen ausgeht. Und eine Teilklasse dieser Konstellationen wiederum bilden Situationen, in denen dem Betreffenden im Wege kommunikativen Handelns schwerlich beizukommen ist. Zum Beispiel: Ich bin am Steuer eingeschlafen und rase auf eine Gruppe von Menschen zu. Insoweit es um solche Gefahren geht, lässt sich ein Vorsorgen-Müssen behaupten, das zumindest teilweise außerhalb des Mediums symbolisch vermittelter Interaktion organisiert werden muss, namentlich in der besonders effektiven Organisationsform der Polizei. Es gibt Gefahrsituationen, bei denen der Versuch einer verständigungsorientierten Lösung entweder von vornherein sinnlos ist oder mit Sicherheit zu spät kommt, d.h. zu Schäden führt, die wir nicht in Kauf zu nehmen bereit sind. Die entscheidende Frage ist offenkundig, was wir schon als eine solche Situation ansehen dürfen und was noch nicht, mit anderen Worten die Frage nach der legitimen Grenze der Gefahrenabwehr oder, positivistisch gesprochen, der Grenze des Gefahrenabwehrrechts.

Sie könnte durch das Strafrecht gezogen werden. Denn das Strafecht (in dem idealtypischen Sinne, den Jakobs meint, wenn er vom Bürgerstrafrecht spricht) ist als System der Zurechung in der normativen Ansprechbarkeit der Person verankert und als System der Freiheit im Gedanken der Selbstverantwortlichkeit dieser Person. Aber das Strafrecht - dieses Exerzitium rechtsstaatlichen Denkens - hat schon immer ein nicht zu übersehendes Legitimationsproblem. Gegenwärtig steht dafür exemplarisch die Debatte mit den Neurowissenschaften, die sich nicht umsonst das Strafrecht als Hauptschauplatz der

argumentativen Auseinandersetzung ausgesucht haben.[16] Hier wird insinuiert, künftigen Generationen könnte das Sprachspiel der Zurechnung eines freien oder zumindest vernünftig motivierten Willens und einer persönlichen Schuld ähnlich unaufgeklärt vorkommen, wie uns Heutigen das überkommene Sprachspiel über den Einfluss parapsychischer Phänomene wie Dämonen.[17] Zum Glück sind die Widersprüche oder Ungereimtheiten der neuroszientistischen Avantgarde einstweilen noch so augenfällig[18], dass wir uns nicht veranlasst sehen müssen, an der Praxis der Zuschreibung individueller Verantwortung festzuhalten, sei es im Strafrecht[19] oder anderswo. Aber die Frage bleibt - und sie drückt das zentrale Problem aus, das im Begriff des Feindstrafrechts enthalten ist: Wie kann man das Strafrecht gegen den "Polizeigedanken" im Recht behaupten?[20]

III. Zurechnen-Können und Erwarten-Dürfen

Es ist klar, dass es auf diese Frage keine einfache Antwort gibt. Offenkundig aber hängt ein wesentlicher Teil der Antwort von der Beantwortung einer anderen Frage ab, nämlich der, was man von einer Person als Adressatin des Rechts erwarten darf. Auch auf die Bedeutung dieser Frage hat die Diskussion um das Feindstrafrecht aufmerksam gemacht. Die Antwort von Jakobs lautet bekanntlich: Was wir erwarten dürfen, ist Rechtstreue. Er geht sogar so weit zu behaupten, die Präsumtion rechtstreuen Verhaltens sei eine Bedingung des Status der Person-im-Recht. Das enthält den keineswegs selbstverständlichen Gedanken, dass man sich diesen Status verdienen muss. Kindhäuser formuliert eine ähnliche Idee, die auf den ersten Blick sogar noch weiter geht, wenn er argumentiert, was wir erwarten dürfen, sei (über die äußere Normkonformität hinaus) »kommunikative Loyalität«[21]. Darin liegt ersichtlich die Gefahr der begrifflichen Erzeugung von Meta-Rechtsgütern, die sich alle über den Gedanken eines die Kommunikationsbedingungen sichernden Strafrechts einstellen. Auch scheint es kein großer Schritt mehr zu der Überlegung, dass man - sicherheitshalber - von seiner kommunikativen Freiheit erst gar keinen Gebrauch macht, um sich nicht dem Vorwurf kommunikativ illoyalen Verhaltens auszusetzen. Allerdings geht Kindhäuser nicht so weit zu sagen, wer sich kommunikativ illoyal verhalte, sei damit schon ein potentieller Kandidat für das Gefahrenabwehrrecht.[22] Hier ist Jakobs` Version des Zusammenhangs von Zurechnungsfähigkeit und Zuverlässigkeit deutlich radikaler: Wer sich nicht (im Großen und Ganzen) rechtstreu verhält, verliert den Anspruch, jedenfalls im Vollsinne als Rechtsperson behandelt zu werden. Insoweit kommt es nur noch auf die Entstörung der sozialen Ordnung an. Wenn es überhaupt noch eine normative Dimension dieser Entstörung gibt, dann jene, die man versuchte, im älteren Polizeirecht auf den Begriff der Polizeipflicht zu bringen. Diese dogmatische Figur ist aber nicht ohne Grund aufgegeben worden, weil sie keine verständliche Handlungsanweisung enthält.[23] Es gibt keine verständliche generelle Anordnung der sozialen Mitwirkung. Und vor allem bleibt, wer nicht mitmacht, selbstverständlich Person im Recht. Das kann man meinetwegen als Axiom im klassischen Sinne bezeichnen.[24] Aber es erschließt sich auch aus der Überlegung, dass Rechte gegenüber Pflichten deontologisch primär sind. Denn eine Pflicht ist nicht zu denken, ohne ein Recht zu verpflichten, während ein Recht sehr wohl denkbar ist, ohne die Pflicht, es auszuüben. Und wenn Jakobs erwidern würde, dass unter Umständen die Macht zu verpflichten dem Recht vorgeordnet ist, würde ich sagen, dass die Pflicht, die aus der Macht erwächst, keine Pflicht ist, sondern Gewalt. Am Ende käme es dann also auf die Frage an, wie man zur Gewalt steht. Dass es Gewalt gibt, ist dabei nicht der interessante Punkt. Die interessante Frage ist die, ob Gegengewalt legitim ist. Der Terrorist (der den Rechtsstaat nicht verstehen will) würde diese Frage natürlich

uneingeschränkt mit Ja beantworten. Aber inwieweit können wir uns die Antwort des Terroristen zu eigen machen? Roellecke schreibt: »Terroristen nehmen zum Beispiel Geiseln. Wir dürfen und tun das nicht und sollten daran festhalten. Terroristen foltern. Wir dürfen und tun das nicht und sollten daran festhalten.«[25] Dem Inhalt solcher Aussagen den Status kultureller Tabus zuzuschreiben, ist im übrigen verfehlt. Nicht, dass sie nicht in der ein oder anderen Rechtskultur diesen Status beanspruchen können, aber das ist für die Theorie des Unantastbaren im Recht kein ergiebiger Punkt, weil Tabus ihren spezifischen Status der Unantastbarkeit verlieren, wenn man sie zum Gegenstand der Theoriebildung macht. Daher verdient es den Vorzug, Aussagen der fraglichen Art ohne Umschweife als Axiome eines universellen Rechtssystems zu betrachten, auch wenn die Strukturen dieses Systems nicht den Charakter eines Ableitungszusammenhangs im technischen Sinne haben.[26]

Im übrigen gibt es außerhalb dieses Systems normative Ressourcen, die in der bisherigen Diskussion über Rechtsstaat und Terrorismus bedauerlicherweise eine viel zu geringe Rolle gespielt haben. So ist es uns gegenüber der terroristischen Bedrohung nicht etwa ins Belieben gestellt, ob wir mutig oder feige sind, ob wir die Bedrohung (eigentlich: die Angst) selbst aushalten oder gleich nach dem schützenden Staat rufen. Nach einem Argument des Aristoteles ist es nämlich der Mut, der das Prädikat der »sittlichen Schönheit« verdient[27], und das sollte man sich bei den etwas aufgeregten Debatten über Terror und Terrorismus wenigstens gelegentlich vergegenwärtigen.

Was den Internbereich des Strafrechts anbetrifft, hat Kindhäuser eine sehr wichtige Einsicht formuliert, indem er klar gestellt hat, dass »Schuldzurechnung[...]keinen geglückten Dialog mit dem Täter voraus[setzt].«[28] Daher sollten wir die Zurechnungsfähigkeit an bescheideneren Bedingungen der Zuverlässigkeit ausrichten; etwa an Ausschlussbedingungen, wie sie in § 20 StGB normiert sind. Die personale Selbstverwaltung findet - sieht man einmal von der Rechtsfolgenseite, d.h. vom Strafvollzug ab - erst da ihre Grenze, wo über die normative Unzuverlässigkeit hinaus kognitive Unberechenbarkeit des Verhaltens gegeben ist.[29]


[1] Zutreffend diagnostiziert Arnold das »Ende der Gespensterjagd« und den Beginn der wissenschaftlichen Debatte, in: Thomas Uwer/Organisationsbüro (Hg.), Bitte bewahren Sie Ruhe. Leben im Feindrechtsstaat, Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen, Berlin 2006, S. 13 ff. Die Beiträge des Bandes sind ein Beleg für diese Einschätzung. Vgl. insoweit auch die Abhandlungen von Hörnle, Deskriptive und normative Dimensionen des Begriffs »Feindstrafrecht«, GA 2006, S. 81 ff. sowie Sinn, Moderne Verbrechensverfolgung - auf dem Weg zu einem Feindstrafrecht?, ZIS 2006, S. 107 ff.

[2] In ihrem Vorwort zur genannten Monographie (Fn. 1) sprechen Uwer und von Schlieffen anschaulich von der »Hieroglyphe Feindstrafrecht«, a.a.O., S. 11.

[3] Hegel, Phänomenologie des Geistes[1807], Frankfurt am Main 1973, S. 26.

[4] Der Vortrag ist in dieser Ausgabe der HRRS abgedruckt.

[5] Bung, Feindstrafrecht als Theorie der Normgeltung und der Person, in: Uwer/Organisationsbüro (Hg.), Bitte bewahren Sie Ruhe. Leben im Feindrechtsstaat (Fn. 1), zugleich veröffentlicht in HRRS 2/2006, S. 63 ff.

[6] Vgl. Jakobs, Staatliche Strafe. Bedeutung und Zweck, hrsg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Paderborn 2004, S. 29. - Heute spricht man vom Sicherheitsstaat, aber die Idee ist viel älter, vgl. etwa den Zusatz zu § 268 der Hegelschen Rechtsphilosophie: »Das Zutrauen haben die Menschen, dass der Staat bestehen müsse[...], aber die Gewohnheit macht das unsichtbar, worauf unsere ganze Existenz beruht. Geht jemand zur Nachtzeit sicher auf der Straße, so fällt es ihm nicht ein, dass dieses anders sein könne, denn diese Gewohnheit der Sicherheit ist zur andern Natur geworden, und man denkt nicht gerade nach, wie dies erst die Wirkung besonderer Institutionen sei. Durch die Gewalt, meint die Vorstellung oft, hänge der Staat zusammen; aber das Haltende ist allein das Grundgefühl der Ordnung, das alle haben.« (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1820], Werke 7, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1989, S. 414).

[7] Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 215 ff. Kelsen bezeichnet die Bestimmung des Verhältnisses von Geltung und Wirksamkeit des Rechts als »eines der wichtigsten und zugleich schwierigsten Probleme der positivistischen Rechtstheorie«, ebd., S. 215. Da sich die Frage der Rechtswirkung auch für das Naturrecht stellt, kann man aber ohne weiteres auf die Rechtstheorie insgesamt extrapolieren.

[8] Nur am Rande möchte ich bemerken, dass dies nicht heißt, dass man die Bedeutung von Normen nicht im Sinne von Wahrheitsbedingungen spezifizieren könnte. Das ist ein für die Frage der Anwendbarkeit des juristischen Syllogismus bedeutsamer Punkt, weil dieser - als deduktives Schema - über das Prinzip der Wahrheitserhaltung definiert ist.

[9] Hart, Der Begriff des Rechts[1961], Frankfurt am Main 1973, S. 23 f.

[10] Ebd., S. 24.

[11] Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl., Berlin 1999.

[12] Vgl. K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, Frankfurt am Main 2005, S. 254: »Mit der Normbefolgungspflicht der Rechtsperson verliert der Staatsbürger nicht das Recht, für eine Abschaffung oder Änderung der Norm öffentlich einzutreten. Vielmehr gründet sich die Normbefolgungspflicht[…]gerade auf das gegenüber jeder positiv geltenden Norm weiterhin bestehende Recht und auf die Möglichkeit, die ablehnende Stellungnahme in demokratischen Verfahren zur Geltung zu bringen.«

[13] Auf diesen wichtigen Punkt hat in der Frankfurter Anschlussdiskussion Frank Saliger aufmerksam gemacht.

[14] S. dazu Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S. 43 f.

[15] Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt am Main 2000, S. 244.

[16] S. dazu K. Günther, Hirnforschung und strafrechtlicher Schuldbegriff, KJ 2006, 116 f.

[17] Vgl. Rorty, Unkorrigierbarkeit als Merkmal des Mentalen, in: P. Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, 3. Aufl., Weinheim 1997, S. 256 f.

[18] Insbesondere der semantische Parasitismus am mentalistischen Vokabular und der inkonsistente Skeptizismus des Eigenpsychischen, wonach man sich permanent darüber irren könnte, was man weiß und was man will.

[19] Dazu Jakobs, Individuum und Person - Strafrechtliche Zurechnung und die Ergebnisse moderner Hirnforschung, ZStW 117 (2005), S. 247 - 266.

[20] Diese Überlegung ist Nauckes Diagnose der »Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts« verpflichtet, vgl. Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, Baden-Baden 2000, insbes. den gleichnamigen Aufsatz a.a.O., S. 411 ff. sowie die Ausführungen über das »Vordringen des Polizeigedankens im Recht«, ebd., S. 379 ff. Über Nauckes Vorstellung von Rechtsmetaphysik bin ich mir allerdings noch nicht ganz im Klaren (vgl. aber Fn. 24). Zur These, dass die zentrale Problematik im Begriff des Feindstrafrechts die Abgrenzung zum Polizeirecht ist, s. auch Roellecke, Der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terror, JZ 6/2006, 269: »Da der Rechtsstaat Terroristen[...]nicht verstehen kann, ist der normative Ansatz einem Rechtsgebiet zu entnehmen, das nicht an die Intention von Personen, sondern an eine objektiv gegebene Ordnung anknüpft. Das ist die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, also das Polizeirecht.« S. zu der Thematik demnächst auch Hassemer, Gefahrenabwehr durch Strafrecht, WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2/2006 sowie ders., HRRS 4/2006, S. 130 ff.

[21] Kindhäuser, Rechtstreue als Schuldkategorie, ZStW 107 (1995), S. 718 ff. sowie S. 725 ff. »Schuld im demokratischen Rechtsstaat ist, noch ganz allgemein formuliert, ein Handeln, das mangelnde Rechtstreue - also ein Defizit an kommunikativer Loyalität, die rechtsförmige Verständigung überhaupt ermöglicht - ausdrückt«, a.a.O., S. 725 f.

[22] Immerhin aber: »Die gesteigerte Reaktion auf terroristische Gewalttaten lässt sich[...]dadurch erklären, dass der Terrorist glaubhaft behauptet, über den vordergründigen Bankraub etc. hinaus die Zerstörung der staatlichen und rechtlichen Ordnung überhaupt zu bezwecken, und das heißt: Verständigung in toto aufzukündigen«, Kindhäuser, a.a.O., S. 727, Fn. 86.

[23] Vgl. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 13. Aufl., Göttingen 2001, § 9.

[24] Bedenkt man freilich, dass kein System von Aussagen ohne Begriffe auskommt, die nur durch ihre Rolle im System rechtfertigt sind, kann man auch vom Axiom im nicht-klassischen Verständnis sprechen. Vielleicht sind es Axiome dieser Art, aus denen Naucke das ableitet, was er »Rechtsmetaphysik« nennt (vgl. Fn. 20).

[25] Roellecke, JZ 6/2006, S. 269.

[26] Gleichwohl verdichten sich die argumentativen Pfade des Systems auch jenseits »deutscher Grundrechtsintrovertiertheit«, Gaede HRRS 7/2006, S. 247.

[27] Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. von Günther Bien, 4. Aufl., Hamburg 1985: Meiner (Philosophische Bibliothek Bd. 5), S. 65.

[28] Kindhäuser, a.a.O. (Fn. 21), S. 732.

[29] Wenn Jakobs argumentiert, ich pathologisiere diejenigen, die hartnäckig dissentieren, stimmt das insoweit nicht, als Dissens (auch der hartnäckigste) gerade nicht aus der Kommunikation herausfällt. Auch jenseits der "Dissidenten"-Fälle habe ich Sympathien für Hypothesen, die die Unterscheidung zwischen gesund bzw. normal und krank zumindest erschweren (s. zu diesem Topos etwa Fromm, Die Pathologie der Normalität, Berlin 2005, S. 15 ff.). Freilich glaube ich (insoweit in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht), dass es pathologische Fälle normativer Unansprechbarkeit gibt, vgl. insoweit auch Sinn, ZIS 2006, S. 114. Diese Fälle sind aber im wesentlichen einem sozial helfenden Recht aufgegeben.