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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1060

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 234/22, Beschluss v. 10.08.2022, HRRS 2022 Nr. 1060


BGH 1 StR 234/22 - Beschluss vom 10. August 2022 (LG Stuttgart)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Schuldunfähigkeit des Täters im Moment der Tat; keine Maßregelanordnung bei strafbefreiendem Rücktritt vom Versuch).

§ 63 StGB; § 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB; § 24 Abs. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nur zulässig, wenn der Täter allein wegen der mangelnden Schuldfähigkeit nicht bestraft werden kann, nicht jedoch, wenn er mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurückgetreten ist (vgl. BGHSt 31, 132, 135). Dem steht nicht die rechtliche Einordnung entgegen, wonach es sich beim Rücktritt um einen Strafaufhebungsgrund handelt, was das Begehen der rechtswidrigen Anknüpfungstat als solches unberührt lassen könnte.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 8. April 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Beschuldigte im Sicherungsverfahren in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Ihre hiergegen gerichtete Revision, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat Erfolg.

1. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet die Beschuldigte seit längerem an paranoider Schizophrenie. Spätestens seit Sommer 2021 stellte sie sich wahnhaft vor, ein unbekannter Mann rufe sie an und bedrohe sie bis hin zur Ermordung. In ihr Wahngebilde bezog sie spätestens seit September 2021 den - ihr unbekannten - Zeugen M. aus S. ein, den sie infolge ihrer akustischen Halluzinationen für einen „Vergewaltiger“ und „Kinderschänder“ hielt und der sie ebenfalls mit dem Tode bedrohe. Am 2. Oktober 2021 begab sich die Beschuldigte, nachdem sie M. s Wohnanschrift herausgefunden hatte, mit einem Benzinkanister und zwei Feuerzeugen zu dessen dreigeschossigem Reiheneckhaus, um ihn zur Rede zu stellen und für seine angeblichen Nachstellungen zu bestrafen. Nachdem sie über eine unverschlossene Kellertür ins Haus gelangt war und festgestellt hatte, dass sich niemand im Wohnhaus aufhielt, durchsuchte sie mehrere Kleiderschränke und verbrachte einen Laptop sowie mehrere Leitzordner als Beweismaterial für die von ihr vorgestellten Straftaten in ihren Wagen. Anschließend schüttete die Beschuldigte, die infolge ihres Wahns nicht fähig war, das Unrecht der von ihr begangenen Tat einzusehen, im Ober- und Dachgeschoss rund fünf Liter Benzin über Kleidungsstücke, Fußböden, Matratzen und Bettwäsche aus, wodurch sie einen Schaden von fast 2.900 € verursachte. Bevor sie das Benzin entzünden konnte, bemerkte sie, dass M. mit seiner Familie zurückgekehrt war und bereits das Erdgeschoss betreten hatte; damit war ihr der Fluchtweg abgeschnitten. Die Beschuldigte hielt deswegen ihren Tatplan, nach Inbrandsetzen des Wohnhauses unerkannt zu entkommen, für gescheitert und ihre Tat für entdeckt. Sie rief M. s Ehefrau zu, ob sie wisse, dass sie einen Vergewaltiger im Haus habe, und wurde von alarmierten Polizeibeamten festgenommen. Das Ehepaar M. musste über 1.700 € für die Reinigung des Wohngebäudes bezahlen.

b) Nach der Würdigung des Landgerichts war die Beschuldigte mangels Freiwilligkeit nicht strafbefreiend vom unbeendeten Brandstiftungsversuch (§ 306a Abs. 1 Nr. 1, §§ 22, 23 StGB) zurückgetreten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 StGB): M. s überraschende Rückkehr habe sie am Anzünden des Benzins gehindert; zudem habe sie infolge ihrer Entdeckung nicht mehr zwischen Tatvollendung und -aufgabe entscheiden können (insbesondere UA S. 23).

2. Die Anordnung der Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 Satz 1 StGB hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Zum einen sind die Feststellungen widersprüchlich, da sich der festgestellte Wille der Beschuldigten, nicht entdeckt werden zu wollen, nicht - jedenfalls nicht ohne weitere Erläuterungen - mit der Annahme fehlender Unrechtseinsicht (§ 20 StGB) vereinbaren lässt (dazu unter a) aa)). Zum anderen ist ein solcher Wille in der Beweiswürdigung nicht belegt; daher erweisen sich auch die Rücktrittsprüfung und die Gefahrenprognose als durchgreifend rechtsfehlerhaft (dazu unter a) bb) und a) cc)).

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Täter bei Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder zumindest vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht (BGH, Beschlüsse vom 5. April 2022 - 1 StR 34/22 Rn. 5; vom 27. Januar 2022 - 1 StR 453/21 Rn. 6 und vom 22. September 2021 - 1 StR 305/21 Rn. 17; je mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Anordnung dieser Maßregel zudem nur zulässig, wenn der Täter allein wegen der mangelnden Schuldfähigkeit nicht bestraft werden kann, nicht jedoch, wenn er mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurückgetreten ist (BGH, Urteil vom 28. Oktober 1982 - 4 StR 472/82, BGHSt 31, 132, 135; Beschlüsse vom 23. Juni 2021 - 2 StR 81/21 Rn. 21; vom 7. April 2021 - 6 StR 128/21 Rn. 6; vom 20. Juni 2019 - 5 StR 208/19 Rn. 5; vom 10. Juni 2015 - 1 StR 190/15 Rn. 10 und vom 8. August 2002 - 3 StR 239/02 Rn. 2). Dem soll nicht die rechtliche Einordnung entgegenstehen, wonach es sich beim Rücktritt um einen Strafaufhebungsgrund handelt, was das Begehen der rechtswidrigen Anknüpfungstat als solches unberührt lassen könnte.

Schließlich muss es überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird; dadurch muss eine schwere Störung des Rechtsfriedens zu besorgen sein. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Sie muss sich darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (BGH, Beschlüsse vom 5. April 2022 - 1 StR 34/22 Rn. 5; vom 27. Januar 2022 - 1 StR 453/21 Rn. 6 und vom 22. September 2021 - 1 StR 305/21 Rn. 17; je mwN).

aa) Erforderlich ist demnach zunächst eine eindeutige Bewertung des Zustandes des Täters. Insoweit muss geklärt werden, ob er (noch) die Fähigkeit besitzt, das Unrecht seines Tuns zu erkennen, und lediglich nicht in der Lage ist, danach zu handeln, oder ob ihm bereits die Fähigkeit fehlt, das Unerlaubte seiner Tat einzusehen (BGH, Beschlüsse vom 5. April 2022 - 1 StR 34/22 Rn. 6; vom 6. Mai 2020 - 4 StR 12/20 Rn. 5 und vom 12. Februar 2020 - 1 StR 25/20 Rn. 5; je mwN).

Zwar hat sich das Landgericht, das sich - wie geboten (§ 246a Abs. 1 Satz 1 StPO) - sachverständig hat beraten lassen, auf das Fehlen der Einsichtsfähigkeit festgelegt; dies ist aufgrund der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie und der dadurch begründeten Wahnvorstellungen für sich genommen rechtsfehlerfrei. Indes bleibt ungeklärt, warum die Beschuldigte unerkannt bleiben wollte, wenn sie sich zur Bestrafung des Zeugen M. für berechtigt hielt und ihn mit seinen „Straftaten“ konfrontieren wollte. Das aus dem Bemühen, nicht entdeckt werden zu wollen, erkennbare „schlechte Gewissen“ widerspricht der Annahme fehlender Unrechtseinsicht (vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. September 2003 - 4 StR 316/03 Rn. 6). Eine Erklärung für diesen von der gesuchten Auseinandersetzung abweichenden Willen, eine Entdeckung nunmehr zu vermeiden, ist auch nicht dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe zu entnehmen.

bb) Tatsächlich hat das Landgericht einen solchen Willen in seiner Beweiswürdigung nicht belegt. Es hat nicht dargelegt, aus welchen Umständen es auf einen solchen Beweggrund geschlossen hat. Solches wäre aber innerhalb der Rücktrittsprüfung des § 24 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 StGB erforderlich gewesen, um den Ausschluss einer Freiwilligkeit auf ein nunmehr für unvertretbar (beträchtlich) gestiegen gehaltenes Entdeckungsrisiko stützen zu können (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 24. November 2021 - 4 StR 345/21 Rn. 8; vom 15. April 2020 - 5 StR 75/20 Rn. 10 und vom 14. Januar 2020 - 2 StR 284/19 Rn. 12; Urteil vom 10. April 2019 - 1 StR 646/18 Rn. 7-9; je mwN). Nach dem - hierfür maßgeblichen - „Rücktrittshorizont“ (BGH, Beschlüsse vom 27. April 2022 - 4 StR 408/21 Rn. 5 f. und vom 24. November 2021 - 4 StR 345/21 Rn. 6 f.; je mwN) kann das Ablehnen eines Rücktritts auch nicht mit einem Fehlschlag begründet werden; denn bereits aufgrund der räumlichen Entfernung zwischen den Stockwerken hätten die heimkehrenden Bewohner die Beschuldigte nicht am Inbrandsetzen des Benzins hindern können, und zwar auch nicht nach deren Vorstellungsbild.

cc) Sollte die Beschuldigte tatsächlich vom Brandstiftungsversuch (zu dessen Beginn vgl. BGH, Urteil vom 9. März 2006 - 3 StR 28/06, BGHR StGB § 22 Ansetzen 34 Rn. 4) zurückgetreten sein, würde der aufgezeigte Mangel in der Beweiswürdigung, wollte man die bisherige Rechtsprechung (Rn. 6) in Zweifel ziehen, jedenfalls eine neue Gefahrenprognose erfordern (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. März 2017 - 4 StR 11/17 Rn. 14 und vom 10. Mai 2016 - 4 StR 185/16 Rn. 8). Auf die tateinheitlich begangene und vollendete Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1 StGB) hat das Landgericht die Maßregel des § 63 Satz 1 StGB nicht gestützt. Ungeachtet der Verfahrensvoraussetzungen hierfür (§ 303c StGB) bedürfte deren Erheblichkeit mit Blick auf einen Richtwert von 5.000 € für das Tatbestandsmerkmal des „schweren wirtschaftlichen Schadens“ (BT-Drucks. 18/7244 S. 20 f.; vgl. dazu BGH, Beschluss vom 23. Januar 2018 - 1 StR 523/17 Rn. 2 f.) der umfassenden tatgerichtlichen Würdigung nach den konkreten Umständen des Einzelfalls.

b) Um dem nunmehr zur Entscheidung berufenen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Tatsachenfeststellungen zu ermöglichen, sind bei diesem einheitlichen Geschehen sämtliche Feststellungen aufzuheben und nicht etwa diejenigen zur objektiven Tatseite bis zum Eintreffen der Familie M. aufrechtzuerhalten (§ 353 Abs. 2 StPO; vgl. aber auch etwa BGH, Beschluss vom 15. April 2020 - 5 StR 75/20 Rn. 11; Urteil vom 10. April 2019 - 1 StR 646/18 Rn. 17).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1060

Bearbeiter: Christoph Henckel