HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 600
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 75/20, Beschluss v. 15.04.2020, HRRS 2020 Nr. 600
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 30. September 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum Tatgeschehen - mit Ausnahme derjenigen zum Rücktritt - aufrechterhalten.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat teilweise Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet, § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Schuldspruch wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung hat keinen Bestand, weil das Landgericht einen Rücktritt des Angeklagten von dem versuchten Tötungsdelikt nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts erwartete der Angeklagte, der mit einem Messer bewaffnet war, am Nachmittag des 18. Januar 2019, im Bereich eines Einkaufsmarktes in R. die Ankunft seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau, der Nebenklägerin, die wie jeden Freitag dort einkaufen würde. Zu diesem Zeitpunkt war der Angeklagte entschlossen, die Nebenklägerin zu töten. Nach dem Eintreffen der Nebenklägerin bemerkte die sie begleitende Freundin den Angeklagten und warnte die Nebenklägerin, welche daraufhin schnellen Schrittes weiterging. Der Angeklagte folgte der Nebenklägerin, packte von hinten den Kragen ihrer Jacke und fragte, warum er seine Kinder nicht sehen dürfe. Sodann fasste er die Nebenklägerin an den Haaren, riss sie zu Boden und stach unter ausholenden Bewegungen mit dem mitgeführten Messer mindestens sechsmal auf ihr Gesicht und ihren Kopf ein, um sie zu töten. Dabei äußerte er, dass er gekommen sei, sie umzubringen. Zuvor steche er ihr aber die Augen aus. In Folge der Angriffshandlungen brach die Spitze des Messers ab und die Klinge verbog sich, so dass ein gezielter Stich nicht mehr möglich war.
Der auf dem Heimweg befindliche Zeuge K. wurde auf das Geschehen aufmerksam und schubste den Angeklagten mit beiden Händen kraftvoll von der Nebenklägerin herunter, so dass dieser auf den Kantstein fiel. Der Angeklagte sprang aber sofort wieder auf und wandte sich mit dem Messer drohend dem Zeugen zu, der daraufhin auf die Straße lief und dem Angeklagten zugewandt dort verblieb. Inzwischen hatte der Vorfall die Aufmerksamkeit weiterer Personen erregt, von denen eine den Notruf wählte, was der Angeklagte auch erkannte. Der Angeklagte, der feste Winterstiefel trug, ging nun zu der noch am Boden liegenden Nebenklägerin zurück und versetzte ihr mit dem Fuß einen heftigen Tritt gegen den Kopf. Dann nahm er ihr das Handy weg und flüchtete. Das Messer warf er über eine Hecke in einen Garten. Die potentiell lebensgefährlich verletzte Geschädigte wurde mit dem Rettungswagen in die Notaufnahme des Krankenhauses verbracht und mehrfach operiert.
Das Landgericht ist von einem unbeendeten Tötungsversuch ausgegangen. Es hat einen strafbefreienden Rücktritt mangels Freiwilligkeit verneint, weil der Angeklagte nach dem Sturz auf den Kantstein nicht weiter auf die Geschädigte habe einstechen können. Denn er „befürchtete, wie sich aus der Bedrohung des Zeugen durch den Angeklagten ergibt, eine weitere Intervention des Zeugen, der ihm dadurch, dass er in der Nähe stehen blieb, deutlich signalisierte, falls erforderlich, erneut einzuschreiten.“ Das Erreichen des Ziels, die Geschädigte zu töten, sei auch deshalb nicht mehr möglich gewesen, weil der Angeklagte erkannt hatte, dass weitere Zeugen auf ihn aufmerksam geworden waren und einer von ihnen den Notruf wählte. Zudem sei das Tatmesser durch die abgebrochene Spitze und die verbogene Klinge derart beschädigt gewesen, dass dem Angeklagten eine „eventuelle schnelle und gezielte Stichführung“ nicht mehr möglich gewesen sei. Schließlich spreche das Nachsetzen mit einem heftigen Fußtritt gegen den Kopf der Nebenklägerin gegen eine freiwillige Aufgabe der weiteren Tatausführung.
b) Die Erwägungen des Schwurgerichts, mit denen es einen strafbefreienden Rücktritt vom Tötungsversuch abgelehnt hat, halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
aa) Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB kann der Täter eines versuchten Delikts durch die Aufgabe der weiteren Tatausführung strafbefreiend vom Versuch zurücktreten, wenn er freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt.
Freiwilligkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn der Täter „Herr seiner Entschlüsse“ geblieben ist und er die Ausführung seines Verbrechensplans noch für möglich hält, er also weder durch eine äußere Zwangslage daran gehindert, noch durch seelischen Druck unfähig geworden ist, die Tat zu vollbringen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 3. April 2014 - 2 StR 643/13, NStZ-RR 2014, 241; Urteil vom 28. September 2017 - 4 StR 282/17, Juris; Urteil vom 10. April 2019 - 1 StR 646/18, NStZ 2020, 81 f. jeweils mwN). Dabei stellt die Tatsache, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt oder die Abstandnahme von der Tat erst nach dem Einwirken eines Dritten erfolgt, für sich genommen die Autonomie der Entscheidung des Täters nicht in Frage. Auch in diesen Fällen ist vielmehr maßgebend, ob der Täter trotz des Eingreifens oder der Anwesenheit eines Dritten noch „aus freien Stücken“ handelt oder aber ob Umstände vorliegen, die zu einer die Tatausführung hindernden äußeren Zwangslage führen oder eine innere Unfähigkeit zur Tatvollendung auslösen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juli 2013 - 2 StR 289/13, StV 2014, 336 f.; Beschluss vom 27. August 2009 - 4 StR 306/09, NStZ-RR 2009, 366 f. mwN). Erst wenn durch von außen kommende Ereignisse aus Sicht des Täters ein Hindernis geschaffen worden ist, das der Tatvollendung zwingend entgegensteht, ist er nicht mehr Herr seiner Entschlüsse und eine daraufhin erfolgte Abstandnahme von der weiteren Tatausführung ist als unfreiwillig anzusehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. April 2019 - 1 StR 646/18, aaO).
bb) Hieran gemessen ist die Beweiswürdigung des Landgerichts lückenhaft. Denn das Landgericht hat sich nur unvollständig mit dem Vorstellungsbild des Angeklagten nach - vorübergehend durch das Einschreiten des Zeugen K. erzwungener - Beendigung der Angriffe auf die Nebenklägerin auseinandergesetzt.
Weder war der Angeklagte durch objektive Umstände noch aufgrund seiner psychischen Verfassung daran gehindert, die Tötungshandlung - auch mit einem beschädigten, aber noch einsatzfähigen Messer - fortzusetzen. Die Annahme, der Angeklagte habe sich zur Tötung der Nebenklägerin außer Stande gesehen, weil er ein erneutes Eingreifen des Zeugen K. befürchtete, steht im Widerspruch zu der Feststellung, dass der Angeklagte ohne Einschreiten des Zeugen der Nebenklägerin noch einen heftigen Tritt mit dem Fuß gegen den Kopf versetzte und ihr Handy an sich nahm, bevor er den Tatort verließ. Zudem hatte sich der Zeuge K. aufgrund der Drohung des Angeklagten in Richtung Straße entfernt, die Drohung hatte also Wirkung gezeigt.
Einem freiwilligen Rücktritt des Angeklagten steht schließlich auch nicht die Feststellung des Schwurgerichts entgegen, dass weitere Personen auf das Geschehen aufmerksam geworden waren und der Zeuge S. den Notruf wählte. Allein eine damit gegebenenfalls verbundene Erhöhung des Entdeckungsrisikos steht der Annahme der Freiwilligkeit im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB nicht von vornherein entgegen, da ein Täter in der Zeit bis zum Eintreffen von feststellungsbereiten Dritten noch ungehindert weitere Ausführungshandlungen vornehmen kann, ohne dass damit für ihn eine beträchtliche Risikoerhöhung verbunden sein muss (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2018 - 1 StR 83/18, NStZ-RR 2018, 169 f. mwN). Umstände, die die Vorstellung des Angeklagten belegen könnten, er sei von einer unvertretbaren Risikosteigerung ausgegangen, hat das Schwurgericht nicht angeführt.
2. Der aufgezeigte Rechtsfehler bedingt die Aufhebung des gesamten Schuldspruchs auch im Hinblick auf die tateinheitlich verwirklichte gefährliche Körperverletzung. Die Urteilsfeststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite einschließlich des Tatvorsatzes sind jedoch - mit Ausnahme derjenigen zum objektiven Rücktrittsgeschehen und zum diesbezüglichen Vorstellungsbild des Angeklagten - von dem zur Aufhebung des Urteils führenden Rechtsfehler nicht betroffen und haben daher Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen sind möglich, soweit sie den bisherigen nicht widersprechen.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 600
Externe Fundstellen: StV 2021, 93
Bearbeiter: Christian Becker