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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2021
22. Jahrgang
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1. Bei der Entscheidung unionsrechtlich vollständig determinierter Rechtsfragen kommen die Grundrechte des Grundgesetzes nicht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab zur Anwendung. Maßgeblich sind grundsätzlich die Unionsgrundrechte. (BVerfG)
2. Bei der Auslegung der Grundrechte der Charta der Europäischen Union sind sowohl die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte konkretisierten Konventionsrechte als auch die von den Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten ausgeformten mitgliedstaatlichen Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, heranzuziehen. (BVerfG)
3. Im Rahmen des europäischen Verfassungsgerichtsverbunds gewährleistet das Bundesverfassungsgericht den Grundrechtsschutz in Kooperation mit dem Gerichtshof der Europäischen Union, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Verfassungs- und Höchstgerichten der anderen Mitgliedstaaten. (BVerfG)
4. Bei der von dem mitgliedstaatlichen Gericht vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Gemeinschaftszellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3m², zwischen 3m² und 4m² oder über 4m² liegt.
5. Aus Art. 4 GRCh folgt die Pflicht der mit einem Überstellungsersuchen befassten Fachgerichte, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob für den zu Überstellenden eine echte Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. (BVerfG)
6. Die vom Gerichtshof der Europäischen Union bei der Auslegung des Art. 4 GRCh angewandten Maßstäbe decken sich mit Art. 1 Abs. 1 GG sowohl hinsichtlich der Mindestanforderungen an Haftbedingungen im ersuchenden Staat als auch hinsichtlich der damit verbundenen Aufklärungspflichten des mit dem Überstellungsersuchen befassten Gerichts. (BVerfG)
7. Eine unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründete Begrenzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts im Rahmen der Identitätskontrolle ist angesichts des durch Art. 4 GRCh gewährleisteten Grundrechtsschutzes im vorliegenden Fall nicht veranlasst. (BVerfG)
8. Im vollständig unionsrechtlich determinierten Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl kann sich ein Verfolgter auch vor dem Bundesverfassungsgericht auf die Unionsgrundrechte, insbesondere auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union berufen. Diese bilden ein Funktionsäquivalent zu den Grundrechten des Grundgesetzes und sind als Kontrollmaßstab für die richtige Anwendung des einschlägigen Unionsrechts durch die Fachgerichte heranzuziehen. Die Vorbehalte der Ultra-vires-Kontrolle und der Identitätskontrolle bleiben dabei unberührt. (Bearbeiter)
9. Bei einem Überstellungsersuchen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ist dem ersuchenden Mitgliedstaat im Hinblick auf die Einhaltung des Unionsrechts einschließlich der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Allerdings können „außergewöhnliche Umstände“ einer Überstellung entgegenstehen, was das zuständige Fachgericht in zwei Prüfungsschritten von Amts wegen aufzuklären hat. (Bearbeiter)
10. Im ersten, die allgemeine Haftsituation betreffenden Schritt ist zu prüfen, ob sich – etwa aus Entscheidungen internationaler Gerichte oder Berichten des Europarats – konkrete Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat ergeben, die eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen begründen. In einem zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Schritt ist zu fragen, ob bei einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die zu überstellende Person aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. (Bearbeiter)
11. Liegt der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum in einer Gemeinschaftszelle unter 3 m2, so besteht eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK, die regelmäßig nur widerlegt werden kann, wenn es sich kumulativ erstens um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums gegenüber dem geforderten Minimum von 3 m2 handelt, diese Reduzierung zweitens mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht sowie drittens die Haftanstalt allgemein angemessene Haftbedingungen bietet und die betroffene Person keinen anderen Bedingungen ausgesetzt ist, die als die Haftbedingungen erschwerende Umstände anzusehen sind. (Bearbeiter)
12. Verfügt ein Gefangener in einem Gemeinschaftshaftraum über einen persönlichen Raum zwischen 3 m² und 4 m², so kann Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK verletzt sein, wenn weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zu Frischluft und Tageslicht, eine zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen. Bei mehr als 4 m² persönlichem Raum sind für die erforderliche Gesamtbeurteilung die weiteren Aspekte der Haftbedingungen relevant. (Bearbeiter)
13. Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Dieses muss den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen Informationen in Bezug auf die konkret zu erwartenden Haftbedingungen bitten. Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, diese Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten
Fristen zu übermitteln. Kann die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit der Zusicherung einschätzen zu können. (Bearbeiter)
14. Art. 1 Abs. 1 GG enthält hinsichtlich der Mindestanforderungen an Hafträume im ersuchenden Staat und hinsichtlich der Aufklärungspflichten der mit Überstellungsersuchen befassten Gerichte keine von Art. 4 GRCh abweichenden Anforderungen. Ob die Art und Weise der Unterbringung eines Strafgefangenen die Menschenwürde verletzt, ist grundsätzlich von einer Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände abhängig. Hierbei spielen insbesondere die Bodenfläche pro Gefangenem, die Situation der sanitären Anlagen, die Dauer der Unterbringung und die täglichen Einschlusszeiten, die Lage und Größe des Fensters, die Ausstattung und Belüftung des Haftraums sowie die Raumtemperatur und die hygienischen Verhältnisse eine Rolle. (Bearbeiter)
15. Eine Entscheidung, mit der eine Auslieferung nach Rumänien aufgrund eines europäischen Haftbefehls für zulässig erklärt wird, berücksichtigt die Bedeutung und Tragweite von Art. 4 GRCh und die damit verbundenen Aufklärungspflichten nicht in ausreichendem Maße, wenn das Oberlandesgericht bei der Überprüfung der zu erwartenden Haftbedingungen ohne umfassende Gesamtwürdigung lediglich die mitgeteilte Mindesthaftraumgröße in den Blick nimmt. Dasselbe gilt, wenn das Gericht sich auf die Prüfung der ersten beiden Vollzugsregime (Quarantäne und geschlossener Vollzug) beschränkt, denen der Verfolgte unterworfen sein wird, und dabei außer Acht lässt, dass eine spätere Überstellung in den halboffenen Vollzug hinreichend wahrscheinlich ist, wo der Betroffene in mit Art. 4 GRCh unvereinbarer Weise dauerhaft in einem Gemeinschaftshaftraum mit einem persönlichen Raum von nur 2 m² untergebracht sein wird. (Bearbeiter)
1. Die Heranziehung eines wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer Bewährungsstrafe Verurteilten zur Tragung von Verfahrenskosten (Sachverständigenkosten für die Auswertung von Datenträger) ist unverhältnismäßig, wenn nicht berücksichtigt wird, dass der Betrag die Höhe einer dem Verurteilten erteilten, bereits beglichenen Geldauflage erheblich übersteigt und sich die Zahlungsverpflichtungen des Verurteilten bei Berücksichtigung einer seinen wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechenden Ratenhöhe auf einen Zeitraum von mehr als dem Doppelten der festgesetzten Bewährungszeit erstrecken würden.
2. Die strafprozessrechtlichen Kostenregelungen einschließlich des darin verankerten Veranlassungsprinzips sind unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich nicht zu beanstanden. Eine außergewöhnlich hohe Kostenbelastung kann allerdings im Rahmen der Strafzumessung als Tatfolge im Sinne von § 46 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen sein, die außer Verhältnis zur verhängten Strafe stehen kann.
3. Ist bei der Bemessung der Strafe oder einer – strafähnlichen – Geldauflage eine (drohende) erhebliche Kostenbelastung unberücksichtigt geblieben, so kann es geboten sein, von der Auferlegung oder Beitreibung der Kosten – zumindest teilweise – abzusehen, um eine mit Blick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verurteilten übermäßige Belastung abzuwenden. Das Strafprozessrecht und das Kostenrecht bieten insoweit hinreichende Möglichkeiten.
1. Das Zurschaustellen eines Pullovers mit dem Schriftzug „FCK BFE“ („Fuck Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“) gegenüber Polizeibeamten einer solchen Einheit im Rahmen einer Demonstration fällt als wertende Äußerung zwar in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit. Zugleich stellt diese jedoch eine Schmähung beziehungsweise Formalbeleidigung dar, welche die grundsätzlich gebotene Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Äußernden und dem Persönlichkeitsrecht der Angesprochenen ausnahmsweise entbehrlich macht.
2. Allerdings setzt eine auf eine derartige Äußerung gestützte strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung hinreichende Feststellungen zur Individualisierung des Schriftzuges auf einen konkreten Adressatenkreis voraus.
Dem ist Genüge getan, wenn das Strafgericht detailliert darlegt, dass sich die Äußerung aufgrund der Vorgeschichte des Angeklagten mit der konkreten Polizeieinheit sowie aufgrund seines planvollen Verhaltens zur Herabsetzung der ihn kontrollierenden Beamten nicht allgemein auf derartige Einheiten, sondern spezifisch auf die Mitglieder der örtlichen Einheit bezieht und es sich deshalb nicht nur um eine allgemeine politische Stellungnahme über die Institution der Polizei als Kollektiv handelt.