HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2021
22. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

144. BGH 4 StR 390/20 - Beschluss vom 17. November 2020 (LG Chemnitz)

Öffentlichkeitsgrundsatz (Verlassen der häuslichen Unterkunft zur Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen während der Coronavirus-Pandemie); Urteilsgründe (Darstellung der entscheidungserheblichen Tatsachen durch den Tatrichter); Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (mehrstufige Prüfung: psychopathologische Eingangsmerkmale, Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit; eigenverantwortliche rechtliche Beurteilung des Tatrichters).

§ 169 GVG; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 338 Nr. 6 StPO; § 20 StGB; § 21 StGB

1. Soweit in einer Allgemeinverfügung, die aufgrund der Coronavirus-Pandemie auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes erlassen worden ist, das Verlassen der häuslichen Unterkunft ohne triftigen Grund untersagt wird, gilt die Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen als ein solcher triftiger Grund zum Verlassen der häuslichen Unterkunft.

2. Der in § 169 GVG niedergelegte Öffentlichkeitsgrundsatz soll eine Kontrolle der Justiz durch die am Verfahren nicht beteiligte Öffentlichkeit ermöglichen und ist historisch als unverzichtbares Institut zur Verhinderung obrigkeitlicher Willkür verankert worden. Angesichts dieser Bedeutung der grundsätzlichen Öffentlichkeit eines Strafverfahrens, die auch dadurch belegt wird, dass ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens einen absoluten Revisionsgrund gemäß § 338 Nr. 6 StPO darstellt, steht außer Frage, dass das Verlassen der häuslichen Unterkunft zur Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen einen triftigen Grund begründet.

3. Das Urteil muss erkennen lassen, welche Tatsachen der Tatrichter als seine Feststellungen über die Tat seiner rechtlichen Bewertung zugrunde gelegt hat. Das Revisionsgericht ist nicht gehalten, sich aus einer Fülle erheblicher und unerheblicher Tatsachen diejenigen herauszusuchen, in denen eine Straftat gesehen werden kann. Vielmehr liegt ein Mangel des Urteils vor, der auf die Sachrüge zu dessen Aufhebung führen kann, wenn aufgrund der Darstellung der Urteilsgründe oder einer unterbliebenen rechtlichen Würdigung unklar bleibt, welchen Sachverhalt das Tatgericht seinem Schuldspruch zugrunde gelegt hat.


Entscheidung

130. BGH 2 StR 299/20 - Beschluss vom 16. Dezember 2020 (LG Köln)

Recht auf effektive und wirksame Verteidigung (Recht auf ein faires Verfahren: offenkundiger Mangel der Verteidigung, Abhilfe durch positive Maßnahmen seitens der zuständigen Behörden, Bestellung eines neuen Pflichtverteidigers).

Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK

Es liegt ein „offenkundiger Mangel“ der Verteidigung vor, wenn der Verteidiger die Revision des Angeklagten nicht form- und fristgerecht begründet und auf ein Anschreiben des Senats zur Stellungnahme zu dem Antrag des Generalbundesanwalts nicht reagiert. In dieser Situation verlangt Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte positive Maßnahmen seitens der zuständigen Behörden, um diesem Zustand abzuhelfen.


Entscheidung

111. BGH 5 StR 439/20 - Beschluss vom 24. November 2020

Wirkungslosigkeit der Urteilszustellung vor Fertigstellung des Protokolls (Beginn der Revisionsbegründungsfrist; Zeitpunkt der Fertigstellung; erforderliche Unterschriften; Urkundspersonen; Krankheiten oder Hinderungsgründe; Vermerk; Einschränkung des Dienstbetriebs wegen Corona-Pandemie).

§ 273 StPO; § 345 StPO

1. Nach § 273 Abs. 4 StPO darf das Urteil nicht zugestellt werden, bevor das Protokoll fertiggestellt ist. Ein Verstoß hiergegen macht die Zustellung wirkungslos und setzt deshalb die Revisionsbegründungsfrist nicht in Lauf. Durch diese Regelung soll sichergestellt werden, dass mit dem Protokoll schon zu Beginn der regelmäßig mit der Urteilszustellung in Lauf gesetzten Revisionsbegründungsfrist eine abgeschlossene Grundlage für die Entscheidung über die Anbringung von Verfahrensrügen vorliegt, die dem Anfechtungsberechtigten während der gesamten Revisionsbegründungsfrist zur Einsichtnahme offen steht.

2. Fertiggestellt ist ein Protokoll in dem Zeitpunkt, in dem die letzte der für die Beurkundung des gesamten Protokolls erforderlichen Unterschriften geleistet wurde, selbst wenn die Niederschrift sachlich oder formell fehlerhaft ist oder Lücken aufweist. Dies gilt aber nur, wenn

beide Urkundspersonen das Protokoll als abgeschlossen ansehen.

3. Stehen Krankheit oder sonstige Hinderungsgründe in der Person des Urkundsbeamten der Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls entgegen, so dass es bei einem Zuwarten voraussichtlich zu einer unangemessenen Verzögerung kommen würde, kann der Vorsitzende dies unter Angabe des Hinderungsgrundes vermerken und damit das Protokoll fertigstellen. Durch die Corona-Pandemie bedingte Einschränkungen des Dienstbetriebs können – anders als etwa dienstliche Überlastung – ebenfalls geeignet sein, die geregelte Abwicklung des Verfahrens wesentlich zu verzögern, und deshalb im Einzelfall die Annahme einer – freilich näher darzulegenden – Verhinderung rechtfertigen.


Entscheidung

117. BGH 5 StR 519/20 - Beschluss vom 6. Januar 2021 (LG Berlin)

Besetzungsrüge (Mitwirkung des Ergänzungsschöffen als Schöffe; Abweichung von der ursprünglichen Besetzungsmitteilung; fehlende Mitteilung; Präklusion; Protokoll; wesentliche Förmlichkeit; Beweiskraft).

§ 222a StPO; § 222b StPO; § 273 StPO; § 274 S. 1 StPO; § 338 Nr. 1 StPO

Findet die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Landgericht statt, ist nach § 222a Abs. 1 S. 1 StPO spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung die Besetzung des Gerichts unter Hervorhebung des Vorsitzenden und hinzugezogener Ergänzungsrichter und Ergänzungsschöffen mitzuteilen. Erfolgt vor der Hauptverhandlung eine solche Mitteilung und ändert sich anschließend die mitgeteilte Besetzung, so muss dies nach § 222a Abs. 1 S. 3 StPO spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung mitgeteilt werden. Bei dieser Mitteilung handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit im Sinne von § 273 Abs. 1 StPO, deren Beachtung gemäß § 274 S. 1 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann.


Entscheidung

109. BGH 5 StR 403/20 - Beschluss vom 28. Oktober 2020 (LG Hamburg)

Keine Anwendbarkeit der Wahlfeststellung bei möglicher Schaffung einer eindeutigen Tatsachengrundlage nach Anwendung des Zweifelsgrundsatzes; richterliche Überzeugungsbildung bei Angaben des Angeklagten (keine Zugrundelegung von tätergünstigen Annahmen ohne konkrete Anhaltspunkte).

Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK; § 1 StGB; § 261 StPO

1. Das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung greift nur dann ein, wenn innerhalb des angeklagten Geschehens nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten der Sachverhalt nicht so weit aufgeklärt werden kann, dass die Feststellung eines bestimmten Straftatbestandes möglich ist, aber sicher feststeht, dass der Angeklagte einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Tatbeständen verwirklicht hat, und andere Möglichkeiten gewiss ausgeschlossen sind.

2. Eine Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage ist indes nicht immer schon dann zulässig, wenn das Tatgericht die Überzeugung von einem bestimmten Geschehensablauf trotz Ausschöpfung aller Beweismittel nicht gewinnen kann, wohl aber überzeugt ist, dass von zwei oder mehreren Geschehensabläufen einer mit Sicherheit vorliegt. Voraussetzung für die Anwendung der Regeln über die Wahlfeststellung ist vielmehr zunächst, dass auch nach dem Grundsatz in dubio pro reo nicht eine eindeutige Tatsachengrundlage gefunden werden kann. Kann mithin nach dem Zweifelssatz eine eindeutige Tatsachengrundlage geschaffen werden, ist von einem eindeutig gegebenen Sachverhalt auszugehen; dann scheidet eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage und deshalb eine Wahlfeststellung aus.

3. Entlastende Angaben des Angeklagten nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat.


Entscheidung

136. BGH 2 ARs 238/20 2 AR 144/20 - Beschluss vom 16. Dezember 2020

Unanfechtbarkeit von Entscheidungen des Oberlandesgerichts im Auslieferungsverfahren (Entscheidung über Entschädigungen nach dem Strafverfolgungsentschädigungsgesetz).

§ 8 Abs. 3 Satz 1 StrEG; § 13 Abs. 1 Satz 2 IRG

1. Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 IRG sind Entscheidungen des Oberlandesgerichts im Auslieferungsverfahren unanfechtbar.

2. Die Regelungen des StrEG finden – wie sich unmittelbar aus § 77 IRG ergibt – im Bereich der strafrechtlichen Rechtspflege auch keine entsprechende Anwendung.


Entscheidung

100. BGH 3 StR 564/19 - Beschluss vom 26. Januar 2021

Zulassung von Rundfunk- und Filmaufnahmen bei der Entscheidungsverkündung (Auflagen; Ermessen des Gerichts).

§ 169 Abs. 3 GVG

Nach § 169 Abs. 3 S. 1 GVG kann das Gericht für die Verkündung von Entscheidungen in besonderen Fällen Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder der Veröffentlichung ihres Inhalts zulassen. Zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der Beteiligten oder Dritter sowie eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens können die Aufnahmen oder deren Übertragung teilweise untersagt oder von der Einhaltung von Auflagen abhängig gemacht werden (§ 169 Abs. 3 S. 2 GVG). Die Entscheidung steht danach im Ermessen des Gerichts. Abzuwägen sind dabei das Informationsinteresse der Öffentlichkeit an dem gerichtlichen Verfahren und die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten.