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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2020
21. Jahrgang
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1. (Weiterer) Einzelfall der mit einem Strafzumessungsabschlag nicht ausgeräumten Verletzung des Rechts auf ein faires Strafverfahren durch eine staatliche Tatprovokation.
2. Es ist Aufgabe der Polizei, Straftaten vorzubeugen und nicht, zu ihnen anzustiften. Das öffentliche Interesse an der Straftataufklärung rechtfertigt nicht den Rückgriff auf Beweise, die aus einer staatlichen Tatanstiftung herrühren. Alle aus einer polizeilichen Tatanstiftung entstammenden Beweise müssen aus dem Strafverfahren ausgeschlossen werden bzw. müssen vergleichbare Konsequenzen zum Beispiel durch die Annahme eines Verfahrenshindernisses gezogen werden. Niemand darf für eine Straftat bestraft werden, die durch eine staatliche Tatanstiftung bestimmt wurde. Dies gilt auch dann, wenn eine erhebliche Strafmilderung vorgesehen wird und der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hat.
3. Eine gegen Art. 6 EMRK verstoßende mittelbare Tatprovokation kann auch vorliegen, wenn zwischen den provozierenden staatlichen Stellen und dem Provozierten zwar kein direkter Kontakt bestand, seine Tatbegehung jedoch auf der Provokation beruht und seine Einbeziehung für den Staat absehbar war. Erforderlich ist jedoch, dass die Tatmitwirkung als durch die Provokation bestimmt erscheint. Daran kann es fehlen, wenn der von einer Person übernommene Tatbeitrag nicht mehr unmittelbar Teil des von den Behörden selbst näher angestoßenen und als scheinbar sicher dargestellten Tatgeschehens war und es den Anschein hat, als habe der Betreffende schlicht eine sich bietende günstige Gelegenheit genutzt. Die Aburteilung einer kausal infolge einer unzulässigen Tatprovokation entstandenen Tatmitwirkung ist nicht stets ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK.
4. Die Individualbeschwerde mit der Rüge einer unzulässigen Tatprovokation kann vor dem Hintergrund der konventionsrechtlich gebotenen Rechtsfolgen auch dann zulässig sein, wenn sie von einem nahen Angehörigen (hier: die Ehefrau) erhoben wird.
Die in § 131 Abs. 1 StPO geregelte Befugnis zur Ausschreibung eines Beschuldigten zur Festnahme auf der Grundlage eines bestehenden Haft- oder Unterbringungsbefehls stellt eine ausreichende Rechtsgrundlage für die internationale Ausschreibung mittels eines Europäischen Haftbefehls dar. Eine entsprechende Heranziehung der Norm in europarechtskonformer Auslegung als Grundlage für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls durch einen Richter verstößt weder gegen das Analogieverbot, noch ist sie willkürlich.
1. Die gerichtliche Bestätigung einer stichprobenartigen, mit einer Entkleidung verbundenen Durchsuchung eines Strafgefangenen nach einem Familienbesuch in der Anstalts-Cafeteria verletzt den Gefangenen in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, wenn die Strafvollstreckungskammer der Anstalt eine fehlerfreie Ermessensausübung bescheinigt, obwohl die Vollzugsbediensteten die Gefahr eines Missbrauchs des Besuchs zum Einschmuggeln unerlaubter Gegenstände lediglich per Formblatt und ohne Dokumentation konkreter Erwägungen für nicht fernliegend erklärt haben.
2. Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts des Gefangenen werden im Einzelfall auch verkannt, wenn nicht erwogen worden ist, ob als milderes Mittel zur Durchsuchung etwa die Verwendung spezieller Anstaltskleidung mit verschlossenen Nähten in Betracht gekommen wäre und ob angesichts der Anwesenheit eines weiteren Bediensteten zu Ausbildungszwecken bei der Durchsuchung stattdessen auf den zweiten der regulär beteiligten Bediensteten hätte verzichtet werden können.
3. Durchsuchungen von Strafgefangenen, die mit einer vollständigen Entkleidung verbunden sind und insbesondere solche, bei denen eine Inspektion von normalerweise verdeckten Körperöffnungen vorgenommen wird, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Sie dürfen daher nur in schonender Weise und nicht routinemäßig und unabhängig von Verdachtsgründen durchgeführt werden.
4. Zwar dürfen auf der Grundlage des Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG, wonach die mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung von Gefangenen auf Anordnung des Anstaltsleiters im Einzelfall zulässig ist, Durchsuchungen der genannten Art von Verfassungs wegen auch für persönlich unverdächtige Gefangene – etwa im Wege einer Stichprobe – angeordnet werden, sofern Anhaltspunkte dafür bestehen, dass andere Häftlinge ansonsten Kontrollen mittels unter Druck gesetzter Mithäftlinge umgehen könnten.
5. Jedoch dürfen derartige Maßnahmen den Charakter von Einzelfallanordnungen nicht verlieren, indem sie zur Durchsuchung aller oder fast aller Gefangenen vor jedem Besuchskontakt und damit zu einer Durchsuchungspraxis führen, die das Gesetz aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich nur in den Konstellationen des Art. 91 Abs. 3 BayStVollzG – bei Aufnahme des Gefangenen, nach Kontakten mit Besuchern und nach Abwesenheit von der Anstalt – erlaubt.
6. Ermächtigt das Gesetz den Anstaltsleiter, Durchsuchungen von Gefangenen mit Entkleidung vorzuschreiben, so muss die generelle Anordnung, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu genügen, erkennen lassen, dass von ihr im Einzelfall abgewichen werden kann, wenn die Gefahr eines Missbrauchs fernliegt oder ihr mit gleich geeigneten, milderen Mitteln begegnet werden kann.
1. Die Heranziehung einer vom Gesetzgeber explizit für subsidiär erklärten Generalklausel zur Anordnung von Sicherungsmaßnahmen als Ermächtigungsnorm für eine gesetzlich nicht vorgesehene Disziplinarmaßnahme („Freizeit- und Umschlusssperre“) begegnet unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Handlungsfreiheit verfassungsrechtlichen Bedenken.
2. Eine offensichtlich aussichtslose Anhörungsrüge, mit der keine Gehörsverletzung gerügt, sondern ausschließlich eine fehlerhafte Rechtsanwendung geltend gemacht wird, gehört nicht zu dem vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg und ist daher nicht geeignet, die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG offen zu halten.
1. Eine Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn das Vollstreckungsgericht lediglich eine Gefahr „schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten“ feststellt, ohne mit Blick auf die Vielzahl in Betracht kommender Delikte mit sehr unterschiedlichen Strafdrohungen eine nähere Eingrenzung vorzunehmen und ohne den Grad der Wahrscheinlichkeit solcher Taten hinreichend darzulegen.
2. Bei der Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung die von dem Verurteilten ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Falles hinreichend zu konkretisieren; Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten sind zu bestimmen. Abzustellen ist dabei auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten und die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind.
3. Die Verfassungsbeschwerde eines Sicherungsverwahrten gegen eine Fortdauerentscheidung, mit der die unterbliebene Einholung eines Sachverständigengutachtens gerügt wird, ist nicht hinreichend substantiiert, wenn ihr die aktuellen Stellungnahmen der Vollzugsanstalt nicht beigefügt sind; denn ohne diese kann nicht hinreichend beurteilt werden, ob aufgrund neuerer Entwicklungen von Veränderungen in der Persönlichkeit des Beschwerdeführers auszugehen ist, deren Bewertung die Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderte. Die Beanstandung kann indes als – zulässig erhobene – Rüge einer Verletzung der verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen an die Gefahrenprognose auszulegen sein.
4. Das Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn die angegriffene Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage der Unterbringung bildet, weil zwischenzeitlich eine erneute Fortdauerentscheidung ergangen ist.
1. Die gerichtliche Bestätigung einer Disziplinarmaßnahme gegenüber einem Strafgefangenen wegen schuldhafter Verweigerung der Arbeitsaufnahme begegnet unter dem Aspekt des Rechts auf effektiven Rechtsschutz verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Strafvollstreckungskammer trotz substantiierten Vortrags des Gefangenen zu einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit den Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt und weder die Krankenakte des Gefangenen beigezogen noch eine Stellungnahme der von ihm namentlich benannten behandelnden Ärzte eingeholt hat.
2. Bei Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug handelt es sich um strafähnliche Sanktionen, für die der Schuldgrundsatz gilt. Dieser verbietet es, eine Tat ohne Schuld des Täters auf der Grundlage eines bloßen Verdachts strafend oder strafähnlich zu ahnden. Disziplinarmaßnahmen dürfen daher nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass dem Gefangenen ein schuldhafter Pflichtenverstoß zur Last liegt.
1. Die Anordnung der Fortdauer einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verletzt das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung, wenn die Strafvollstreckungskammer auf der Grundlage eines Gutachtens desselben externen Sachverständigen entscheidet, der in den letzten sechs Jahren bereits in vier von fünf Fällen mit der Begutachtung des langjährig Untergebrachten beauftragt worden war und der sein Gutachten mangels Mitwirkungsbereitschaft des Untergebrachten lediglich nach Aktenlage erstellt hat, so dass die Gefahr einer repetitiven Routinebeurteilung auf der Hand liegt.
2. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, die auch im Verfahrensrecht Beachtung erfordert, ergeben sich Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen.
3. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die prognostische Begutachtung von im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten gelten auch für den Vollzug der Sicherungsverwahrung. Danach ist es bei einer langjährigen Unterbringung in der Regel geboten, von Zeit zu Zeit einen anstaltsfremden Sachverständigen hinzuzuziehen, um der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen vorzubeugen und um auszuschließen, dass Belange der Anstalt oder der Beziehung zwischen Untergebrachtem und Therapeuten das Gutachten beeinflussen. Aus denselben Gründen kann es angezeigt sein, den Untergebrachten von einem Sachverständigen begutachten zu lassen, der im Vollstreckungsverfahren noch überhaupt nicht mit dem Untergebrachten befasst war.
4. Auch wenn ein neuer Sachverständiger sein Gutachten mangels Mitwirkungsbereitschaft des Untergebrachten ohne dessen Exploration allein auf der Grundlage der Akten, der Vorgutachten sowie der Unterbringungsunterlagen erstellt hat, erhöht dies regelmäßig die Prognosesicherheit des Gerichts, weil der Gutachter die Feststellungen und Stellungnahmen der Unterbringungseinrichtung einer eigenständigen Bewertung zuführen wird, bei der sich seine gesteigerte Unvoreingenommenheit und kritische Distanz entfalten können.
5. Das Recht auf den gesetzlichen Richter steht einer Mitwirkung von Richtern auf Probe an gerichtlichen Entscheidungen nicht entgegen, soweit beachtet wird, dass die Gerichte grundsätzlich mit hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richtern zu besetzen sind und die Verwendung von Richtern ohne diese Garantie der persönlichen Unabhängigkeit die Ausnahme bleiben muss, für die es zwingender Gründe bedarf. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich nichts Gegenteiliges.
6. Das Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn die angegriffene Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage der Unterbringung bildet, weil zwischenzeitlich erneut über die Fortdauer der Unterbringung entschieden worden ist.