HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2020
21. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Schluss mit der Strafzumessungslösung!

Besprechung von EGMR HRRS 2020 Nr. 1163 (Akbay u.a. gegen Deutschland)

Von Dr. Yannic Hübner, Frankfurt am Main

I. Einführung

Mit der vorliegenden Entscheidung vom 15. Oktober 2020 wurde die Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen ihrer anhaltenden Rechtsprechungspraxis in Fällen rechtsstaatswidriger Tatprovokation verurteilt. Erneut. Nach Furcht gegen Deutschland[1] aus dem Oktober 2014 könnte sich eine Besprechung des Urteils ohne Weiteres darauf beschränken, seinerzeit ergangene Anmerkungen gebetsmühlenartig zu wiederholen: Eine "fulminante Entscheidung"[2], ein "Fanal"[3], eine "deutliche Absage"[4], ja "das Ende der Strafzumessungslösung"[5], die Andeutung eines "Paradigmenwechsel[s]"[6] und eine vollumfängliche Bestätigung der in der strafprozessrechtlichen Literatur seit langem erhobenen Einwände[7]. Doch das wäre schon wegen der zwischenzeitlichen Entwicklungen in der deutschen Rechtsprechung[8] zu kurz gegriffen. Ein Blick auf die Einzelheiten des Urteils lohnt sich aus verschiedenen Gründen. Nicht zuletzt kommt die Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt, denn die Tatprovokation ist derzeit gemeinsam mit einer grundsätzlichen Debatte um eine Rechtsgrundlage für den Einsatz von Vertrauenspersonen wieder in den Fokus der Rechtspolitik gerückt.[9] Im Einzelnen:

II. Sachverhalt

Denjenigen, die sich näher mit dem Einsatz von sog. polizeilichen Lockspitzeln (auch: agents provocateurs) beschäftigen, dürfte der Sachverhalt des Urteils nicht fremd sein. Tatsächlich liegt ihm der "Bremerhavener Kokainschmuggelfall" zu Grunde, welcher am 18. Dezember 2014 bereits Gegenstand eines Nichtannahmebeschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)[10] und zuvor vom LG Berlin und (bestätigend) vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH)[11] entschieden worden war. Bedeutsam ist der Fall insbesondere deshalb, weil zwischen die Revisionsentscheidung des 5. Senats und jene des BVerfG eben die Verurteilung Deutschlands in der Sache Furcht[12] fiel. Den hohen Erwartungen zuwider hielt sich das BVerfG allerdings weitgehend bedeckt, indem es betonte, im Verfahren könne und müsse nicht entschieden werden, "ob die sog. ‚Strafzumessungslösung‘[den]Anforderungen des EGMR in jedem Einzelfall gerecht wird"[13]. Den angegriffenen Entscheidungen jedenfalls habe kein "Extremfall" tatprovozierenden Verhaltens zugrunde gelegen, sodass die Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Tatprovokation im Rahmen der Strafzumessung mit dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) in Einklang gestanden habe.[14] Unabhängig davon, dass ein klares Bekenntnis des BVerfG zu diesem Zeitpunkt gewiss förderlich gewesen wäre,[15] ist die Begründung des Beschlusses auf heftige Kritik[16] gestoßen, welche sich in

der hier abgedruckten Entscheidung des EGMR nunmehr endgültig bestätigt.

In tatsächlicher Hinsicht liefert der Fall bedenkliche Einblicke in die Praxis verdeckter Ermittlungsarbeit, welche ansonsten nur selten publik werden. Über eine Vertrauensperson führte das LKA Berlin den Tatprovozierten A. an einen vorgeblichen Hafenmitarbeiter aus Bremerhaven heran, der einen scheinbar sicheren Import von Drogen an der Zollkontrolle vorbei ermöglichen sollte. Etwa eineinhalb Jahre wurde insgesamt auf die Zielperson eingewirkt, Druck ausgeübt, Bedenken zerstreut und selbst eine "Bunkerwohnung" organisiert, bis die "Falle im Rechtsstaat"[17] schließlich zuschlagen und die Zielperson, ein Gehilfe und ein weiterer Kurier festgenommen wurden. Die Menge der sichergestellten Betäubungsmittel (97,17 kg Kokain) lag dabei weit über jener Sphäre, derer die Zielperson ursprünglich verdächtig war. Angesichts der mengenabhängigen Erfolgsprämie für die eingesetzte Vertrauensperson überraschte dies jedoch nicht. Vor diesem Hintergrund bejahte bereits das LG Berlin das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation im Hinblick auf den Provozierten A. und dessen (mittelbar provozierten) Gehilfen, beließ es unter Anwendung der in Deutschland seit 1984[18] praktizierten Strafzumessungslösung jedoch jeweils bei einem Strafabschlag, hinsichtlich des Kuriers lehnte es einen Konventionsverstoß ab und berücksichtigte die staatliche Tatprovokation allgemein strafmildernd. Der BGH verwarf alle drei Revisionen, die Verfassungsbeschwerden wurden wie erwähnt nicht zur Entscheidung angenommen.

III. Prozessuale Besonderheit des Beschwerdeverfahrens

Das nun ergangene Urteil des EGMR ist bereits in prozessualer Hinsicht äußerst bemerkenswert. Denn der unmittelbar Tatprovozierte A. selbst war bereits am 3. Juni 2015 verstorben, mithin etwa vier Monate nach der Nichtannahmeentscheidung des BVerfG und noch bevor die Beschwerde zum EGMR (am 11. August 2015) überhaupt erhoben wurde. Von Anfang an war es die verwitwete Ehefrau des Verurteilten A., die als Beschwerdeführerin das Verfahren führte.

Der Gerichtshof legt bei Fragen der Beschwerdebefugnis gem. Art. 34 EMRK gerade in solchen Konstellationen, wenn das eigentliche Opfer noch vor Beschwerdeeinlegung stirbt, einen grundsätzlich restriktiven Maßstab an, indem er im Wesentlichen eine unmittelbare Auswirkung auf die eigene Rechtsstellung des Beschwerdeführers oder das Vorliegen einer Frage von allgemeinem Interesse verlangt.[19] Im vorliegenden Fall bejahte die Kammer gleich Beides. Als Ehefrau des wegen eines schweren Drogendelikts Verurteilten und somit nahe Verwandte könne sie zum einen ein eigenes moralisches Interesse (im Sinne eines Rehabilitationsinteresses) an der Feststellung einer Konventionsverletzung geltend machen, zum anderen beschränke sich ihr Interesse nach der Verurteilung Deutschlands in der Sache Furcht auch nicht auf eine subjektive Ebene, sondern reiche darüber hinaus bis zum rechtlichen System und zur rechtlichen Umsetzungspraxis des beklagten Staates.[20]

Das leuchtet ein und zeigt in seiner Klarheit dennoch, dass dem Gerichtshof hier einiges daran gelegen haben muss, in der Sache eine Entscheidung zu treffen. Verletzungen des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK) oder des Folterverbots (Art. 3 EMRK), bei welchen die Anforderungen an eine Beschwer Dritter nicht gleichermaßen hoch sind,[21] standen nicht zum Diskurs. Es wäre also durchaus denkbar gewesen, etwa auf das nicht hinreichend substantiierte finanzielle Interesse der Beschwerdeführerin,[22] auf die Vermeidung von Popularklagen und die bei Individualbeschwerden nach Art. 34 EMRK ausgeschlossene Beschwerdeerhebung im Allgemeininteresse[23] Bezug zu nehmen und die Beschwerde als unzulässig zurückzuweisen. Offenkundig war gerade dies indes nicht gewollt.

IV. "Substantive" und "Procedural test of incitement" als Schranke der Konventionswidrigkeit

Bei der Frage, ob die der Beschwerde zugrunde liegenden Verurteilungen eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) darstellen, geht der Gerichtshof in zwei Schritten vor.

1. "Substantive test of incitement"

In einem ersten Schritt widmet er sich dem in ständiger Rechtsprechung gefestigten "substantive test of incitement", um festzustellen, ob überhaupt eine konventionswidrige Tatprovokation ("police encitement, or entrapment") stattfand oder es sich um rechtmäßige verdeckte Ermittlungstechniken ("legitimate undercover techniques") handelte.[24] Eine konventionswidrige Tatprovokation hält der EGMR grundsätzlich dann für gegeben, "wenn sich die beteiligten Polizeibeamten nicht auf eine weitgehend passive Strafermittlung beschränken, sondern die betroffene Person derart beeinflussen, dass diese zur Begehung einer Straftat verleitet wird, die sie andernfalls nicht begangen hätte, und zwar mit dem Zweck – durch Beweiserbringung und Einleitung einer Strafverfolgung –

die Feststellung einer Straftat zu ermöglichen".[25] Zur Abgrenzung werden sowohl die Gründe für die verdeckte Maßnahme, insbesondere ob es objektive Anhaltspunkte für einen Tatverdacht oder eine Tatgeneigtheit des Betroffenen gab, als auch das Verhalten der tätigen Beamten – hier sind die Merkmale der Druckausübung und der Initiative zur Kontaktaufnahme hervorzuheben – herangezogen.[26] Im Fall bejaht der Gerichtshof eindeutig – und übereinstimmend mit den nationalen Gerichten – eine Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzende Tatprovokation sowohl beim Tatprovozierten A. als auch dessen mittelbar provozierten Gehilfen (dem zweiten Bf.), welcher zwar keinen direkten Kontakt zu den Ermittlungspersonen hatte, dessen Involvierung für diese aber vorhersehbar und gerade wegen der vorgetäuschten sicheren Importmöglichkeit erfolgt war.[27] Im Ergebnis ist es zynisch, in der Begründung aber gleichwohl nachvollziehbar, dass beim dritten Bf., der als Kurier das importierte Kokain lediglich von der Bremerhavener Wohnung nach Berlin transportieren sollte, eine Fairnessverletzung abgelehnt wurde.[28] Ausschlaggebend war hier, dass das polizeilich konstruierte Geschehen für ihn nur von marginaler Bedeutung war, er vielmehr anschließend einsteigen und bloß eine Gelegenheit nutzen wollte, die sich auch anderweitig hätte ergeben können.

2. "Procedural test of incitement"

Den zweiten Schritt der Straßburger Kammer bildet sodann der "procedural test of incitement".[29] Dabei nimmt sie die Entscheidungen der nationalen Gerichte in den Blick, und zwar dahingehend, ob diese nach der erfolgten Feststellung eines konventionswidrigen Einsatzes auch die gebotenen Schlüsse gezogen haben. Der "procedural test of incitement" wird damit zugleich zum Brennglas für die vonseiten des BVerfG bis dato gebilligte Strafzumessungslösung der deutschen Rechtsprechung. Im Einzelnen nimmt der Gerichtshof Rekurs auf seine in Furcht gegen Deutschland dargelegten Grundsätze und zeigt auf, dass es im Wesentlichen keinen Grund gibt, den vorliegenden Fall hiervon zu unterscheiden. Auch im vorliegenden Fall seien Beweismittel genutzt worden – Zeugenangaben der verdeckten Ermittlungsperson und des VP-Führers, Ausschnitte des Berichts der Vertrauensperson und Geständnisse der Betroffenen –, die unmittelbar als Ergebnis der polizeilichen Provokation gewonnen wurden. Aufgrund dieses unmittelbaren Zusammenhangs zur Tatprovokation hätten diese nach den klaren Vorgaben des EGMR indes nicht verwertet werden dürfen. Der letztlich vorgenommene Abschlag auf Strafzumessungsebene wurde den Anforderungen des Gerichtshofs nicht gerecht. Die nationalen Gerichte hatten es somit versäumt, die nötigen Schlüsse zu ziehen. Die Bfin A. und der zweite Bf. – der mittelbar provozierte Gehilfe – wurden somit Opfer einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die deutschen Gerichte.

V. Das Ende der Strafzumessungslösung

Freilich gewährt auch die vorliegende Entscheidung den nationalen Gerichten einen Umsetzungsspielraum. Deutlich wird dies in der Formulierung, dass "alle als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnenen Beweismittel ausgeschlossen werden[müssen]oder aber ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen[…]greifen[muss]"[30]. Dieser Umsetzungsspielraum kann gleichwohl nicht zu einem Festhalten an der Strafzumessungslösung – und sei es auch in einer abgeänderten Form – führen (dazu sogleich unter 1.). Hierüber kann es nun keine zwei Meinungen mehr geben. Als treffende Konsequenz sollte fortan jener Weg beschritten werden, den der 2. Senat des BGH in seinem Urteil[31] vom 10. Juni 2015 bereits eingeschlagen hat: In einem Strafprozess, der sich der Fairness verbürgt, sollte die Annahme eines Verfahrenshindernisses die einzig richtige Lösung bilden, wenn sich eine Verurteilung lediglich auf die rechtsstaatswidrige Provokation des Täters stützen ließe (dazu sogleich unter 2.).

1. Das Urteil als endgültige Absage an die Strafzumessungslösung

Zur präzisen Einordnung der Entscheidung sollte man zunächst einen genauen Blick auf den derzeitigen Stand der deutschen Rechtsprechung werfen. Festzuhalten ist, dass eine reine Strafzumessungslösung – wie sie ursprünglich vom 1. Senat des BGH[32] 1984 statuiert wurde – heute nicht mehr gefordert wird. Alle Strafsenate des BGH, das BVerfG und der EGMR sind sich seit Furcht einig, dass es einen Bereich rechtsstaatswidriger Tatprovokation gibt, in dem eine Reduzierung der Strafe für den Provozierten dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren nicht mehr gerecht wird. Unstimmigkeit herrschte bis dato jedoch in der Frage, welchen Raum dieser Bereich einnimmt, wo also die Grenze zwischen einer möglichen Berücksichtigung auf Strafzumessungsebene und einer härteren Konsequenz – insbesondere einem Verfahrenshindernis – verläuft. Die Sicht des EGMR dazu sollte spätestens jetzt deutlich geworden sein: Der Gerichtshof stellt erneut klar, dass ab dem Punkt, in dem das polizeiliche Vorgehen gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstößt, selbst eine erhebliche Strafmilderung keine angemessene Wiedergutmachung für die Rechtsverletzung mehr leisten kann. In den Worten der Kammer: "there is no room for the Government’s argument that the domestic courts had excluded all evidence obtained as a result of the incitement or had applied a procedure with similar consequences."[33] Demnach muss eine Kompensation auf Ebene der Strafzumessung für den gesamten Bereich rechtsstaatswidriger Tatprovokation ausscheiden. Der

sog. Strafzumessungslösung, sei es in der vormals reinen oder nach der Entscheidung des BVerfG im vorliegenden Fall modifizierten Version, ist damit eine endgültige Absage erteilt.

Es ist unter Berücksichtigung des dogmatischen Prüfungsansatzes des EGMR[34] richtig, dass der Gerichtshof sich dem nationalstaatlichen Lösungsmodell nicht als solchem widmet, sondern lediglich prüft, ob das vorgelegte Verfahren in seiner Gesamtheit fair war.[35] Der Gerichtshof schreibt den Mitgliedsstaaten nicht vor, welche Reaktion auf einen Konventionsverstoß konkret zu folgen hat,[36] ihnen steht bei der Umsetzung von Vorgaben des EGMR dementsprechend ein Spielraum zu. Diese Flexibilität gibt ihnen jedoch keinen Freibrief für minimalistische Anpassungen und eine Verschleifung der Konventionsumsetzung, bis der Gerichtshof durch erneute Entscheidungen den gewährten Spielraum immer weiter einengt.[37] Das vorliegende Urteil verdeutlicht, dass spätestens seit der Entscheidung Furcht hätte klar gewesen sein müssen, dass ein Ausgleich rechtsstaatswidriger Tatprovokation durch Strafmilderung den Anforderungen von Art. 6 EMRK nicht gerecht wird. Dass der Gerichtshof nunmehr erneut einschreiten musste, bedeutet somit zugleich eine schallende Ohrfeige für die minimalistische Umsetzungspraxis in Teilen der deutschen Rechtsprechung.

2. Das Verfahrenshindernis als Mittel der Wahl

Zu der Frage, welche Konsequenz der rechtsstaatswidrige Einsatz eines agent provocateur für das Verfahren konkret nach sich zieht, wurden in der Vergangenheit zahlreiche Lösungsmodelle entwickelt. Auf diese im Einzelnen einzugehen, würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen.[38] Mit Nachdruck möchte ich mich jedoch für die Annahme eines Verfahrenshindernisses, wie sie der 2. Strafsenat[39] treffend herausgestellt hat, als rechtliche Folge aussprechen. In dessen Urteil wird insbesondere deutlich, dass das Verfahrenshindernis an die provozierte Tat als unmittelbare Folge des rechtsstaatswidrigen Ermittlungshandelns anknüpft und somit der Relevanz der Tatprovokation für das gesamte Verfahren am besten gerecht wird. Mit der rechtsstaatswidrigen Provokation als Ursprung erlangen die Tat und ebenso ihre Verfolgung den "Charakter einer Farce"[40]. Ein solches Verfahren darf nicht weiter geführt werden.

Dem mag man entgegenhalten, im Sinne eines "Alles oder Nichts"-Prinzips Differenzierungen im Einzelfall zu unterlaufen,[41] doch bietet das Verfahrenshindernis nun mal den einzig stimmigen Weg, die Verfahrensfairness für den Betroffenen wiederherzustellen. Ohnehin vermag die Kritik an der Ausschließlichkeit in Anbetracht des bejahten Fairnessverstoßes nicht wirklich zu überzeugen:[42] In sämtlichen Fällen rechtsstaatswidriger Tatprovokation dürfte mit der Annahme eines Verfahrenshindernisses Einzelfallgerechtigkeit gewährleistet sein. Als alternative Lösung käme in direkter Umsetzung der EGMR-Vorgaben noch die Annahme eines umfassenden Beweisverwertungsverbotes in Betracht. Allerdings hat der 2. Senat insoweit mit Recht darauf hingewiesen, dass dies wegen der Frage seiner Reichweite nur schwerlich mit dem deutschen Strafrechtssystem zu vereinbaren wäre und eine Beweiserhebung zunächst geboten ist, um die tatsächlichen Umstände einer Tatprovokation überhaupt klären zu können.[43] Darüber hinaus bietet das Verfahrenshindernis in der Rechtsmittelinstanz den Vorteil, dass weiteren Betroffenen, die keine Verfahrensrüge erhoben oder gar nicht revidiert haben (§ 357 StPO), ebenfalls ein faires Verfahren zuteilwerden kann.[44] Nicht zuletzt verdeutlicht die Annahme eines Verfahrenshindernisses, dass der Tatprovozierte durch seine Entscheidung eine Straftat zu begehen, materiell strafbar bleibt und es Gründe der Verfahrensfairness sind, die einer Fortsetzung des Verfahrens entgegenstehen.

VI. Ausblick

Eine vom BMJV eingesetzte StPO-Expertenkommission hat bereits 2015 in ihrem Abschlussbericht unterstrichen, dass es sich "bei der Problematik der Tatprovokation um eine Kernfrage des Rechtsstaats" handelt, die eine Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers erfordere.[45] In die gleiche Kerbe schlugen im unmittelbaren Anschluss an die vorliegende Entscheidung auch die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), der Deutsche Anwaltverein (DAV) und der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV).[46] Dem ist mit Nachdruck zuzustimmen. Die Schaffung einer Gesetzesgrundlage bedeutete nicht nur einen Gewinn in puncto Rechtssicherheit und Transparenz. Vielmehr ist eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage aus Gründen des Gesetzesvorbehalts und der sog. Wesentlichkeitstheorie verfassungsrechtlich notwendig.[47] Dabei sollte sich die Regelung nicht auf die Voraussetzungen und Grenzen des agent

provocateur-Einsatzes beschränken, sondern ebenso seine rechtlichen Folgen explizieren.[48] Nach dem hier vorliegenden Urteil steht fest, dass die Rechtsfolge rechtsstaatswidriger Tatprovokation nicht in einer irgendwie gearteten Strafzumessungslösung liegen kann. Bricht ein agent provocateur aus den Grenzen der Zulässigkeit heraus und bestimmt er die Zielperson rechtsstaatswidrig zur Vornahme einer Straftat, sollte daraus vielmehr ein Verfahrenshindernis zugunsten des Tatprovozierten folgen. Damit wäre die Chance ergriffen, eine seit Jahrzehnten in Schrifttum und Rechtsprechung schwelende Streitfrage zu lösen, somit Rechtssicherheit Vorschub zu leisten und allem voran den Betroffenen das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren zu gewährleisten.


[1] EGMR Urt. v. 23.10.2014 ­ 54648/09 (Furcht v. Germany) = HRRS 2014 Nr. 1066.

[2] Jäger JA 2015, 473, 475.

[3] Meyer/Wohlers JZ 2015, 761, 762.

[4] Sommer StraFo 2014, 508, 510; Petzsche JR 2015, 88, 88; vgl. auch Mitsch NStZ 2016, 57, 57; Sinn/Maly NStZ 2015, 379, 382 ("[…]nun klar, dass sie konventionswidrig ist").

[5] Lochmann StraFo 2015, 492, 495 ("Die Entscheidung läutet damit das Ende der Strafzumessungslösung ein").

[6] Meyer-Lohkamp StraFo 2017, 45, 46.

[7] Pauly StV 2015, 411, 412 m.w. V.

[8] Im Einzelnen hat sich mit der Befürwortung eines Verfahrenshindernisses durch BGH 2 StR 97/14 v. 10.6.2015 = HRRS 2015, Nr. 1104 und dem nahezu zeitgleichen Festhalten an einer Strafzumessungslösung durch BGH 1 StR 128/15 v. 19.05.2015 = HRRS 2015 Nr. 743 innerhalb der deutschen Rechtsprechung ein Zwiespalt gebildet, vgl. Jahn/Kudlich JR 2016, 54 ff.; Hübner Rechtsstaatswidrig, aber straflos?, 2020, S. 167 ff.

[9] Vgl. die Kleinen Anfragen der Bundestagsfraktion DIE LINKE (BT-Drs. 19/15914 v. 12.12.2019; 19/17910 v. 13.03.2020) und entsprechende Antworten der Bundesregierung (BT-Drs. 19/16593 v. 20.01.2020; 19/21725 v. 18.08.2020) sowie den jüngsten Antrag der Bundestagsfraktion der FDP (BT-Drs. 19/21725 v. 18.08.2020).

[10] BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 18.12.2014 – 2 BvR 209/14, 2 BvR 240/14, 2 BvR 262/14 = HRRS 2015 Nr. 85.

[11] BGH, Urt. v. 11.12.2013 - 5 StR 240/13 (LG Berlin) = HRRS 2014 Nr. 163.

[12] EGMR Urt. v. 23.10.2014 ­ 54648/09 (Furcht v. Germany) = HRRS 2014 Nr. 1066.

[13] BVerfG HRRS 2015 Nr. 85, Rn. 44.

[14] BVerfG HRRS 2015 Nr. 85, Rn. 33 ff.

[15] So auch Jäger JA 2015, 473, 475: "Rechtsstaat[wäre]durch ein solch klares Bekenntnis gestärkt aus dem Verfahren hervorgegangen".

[16] Näher Hübner Rechtsstaatswidrig, aber straflos?, S. 165 ff.; vgl. zudem Jahn JuS 2015, 659, 660 f.; Jahn/Kudlich JR 2016, 54, 58 f.; Jäger JA 2015, 473, 475; Meyer/Wohlers JZ 2015, 761, 762, 768 f.; I. Roxin FS Neumann, 1359, 1366.

[17] So der Untertitel des 1985 von Lüderssen veröffentlichen Sammelbandes V-Leute. Die Falle im Rechtsstaat, 1985.

[18] Als "Geburtsstunde" der Strafzumessungslösung lässt sich das Urteil des 1. Senats v 23.05.1984 – 1 StR 148784 = BGHSt 32, 345 begreifen. I.E. zu Entwicklungslinien der Rspr. Hübner, Rechtsstaatswidrig, aber straflos?, S. 159 ff.

[19] Rn. 69; vgl. auch NK-EMRK/Meyer-Ladewig/Kulick, Art. 34, Rn. 23.

[20] Vgl. insoweit Rn. 82, 87.

[21] Rn. 70; vgl. EGMR Urt. v. 03.10.2006 ­ 47826/99 (Direk çi v. Turkey ); EGMR Urt. v. 27.06.2000 ­ 21986/93 (Salman v. Turkey); NK-EMRK/Meyer-Ladewig/Kulick, Art. 34, Rn. 23.

[22] Vgl. Rn. 84.

[23] NK-EMRK/Meyer-Ladewig/Kulick, Art. 34, Rn. 22.

[24] Rn. 111–119; vgl. auch EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 (Furcht v. Germany), Rn. 49 m.w.V. = HRRS 2014 Nr. 1066.

[25] Rn. 112; ebenso EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 (Furcht v. Germany), Rn. 48 = HRRS 2014 Nr. 1066. Deutsche Formulierungen sind der nichtamtlichen Übersetzung des BMJV in StV 2015, 405 ff. (m. Anm. Pauly) entnommen.

[26] Vgl. Rn. 114, 116. Krit. zum "substantive test of incitement" Schmitt-Leonardy EuCLR 2017, 304, 318 f.

[27] Rn. 125–131.

[28] Rn. 143–148.

[29] Rn. 120–124, 132–139.

[30] Rn. 123, 136 m.V.a. EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 (Furcht v. Germany) = HRRS 2014 Nr. 1066, nicht-amtliche Übersetzung des BMJV in StV 2015, 405, 409 f.

[31] BGH, Urt. v. 10.06.2015 – 2 StR 97/14 = HRRS 2015 Nr. 1104.

[32] BGH, Urt. v. 23.5.1984 – 1 StR 148/84 = BGHSt 32, 345.

[33] Rn. 139.

[34] Vgl. dazu BVerfG HRRS 2015 Nr. 85, Rn. 42; krit. Jahn/Kudlich JR 2016, 54, 58 f.

[35] Vgl. EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 44/1997/828/1034 (Teixeira de Castro v. Portugal), Rn. 34.

[36] Vgl. Sinn/Maly NStZ 2015, 379, 382.

[37] Schmitt-Leonardy EuCLR 2017, 303, 315 f. m.V.a. Ashworth, Human Rights, Serious Crimes and Criminal Procedure, 2002, S. 4 f., 94 ff. ("It does, however, not give them carte blanche for a ‘spirit of minimalism’”); Gaede/Buermeyer HRRS 2008, 279, 283 ("Gesamtbetrachtung wird so zum Schlupfloch”).

[38] Vgl. im Einzelnen Hübner, Rechtsstaatswidrig, aber straflos?, S. 175 ff.

[39] BGH HRRS 2015 Nr. 1104.

[40] Gaede/Buermeyer HRRS 2008, 279, 285; Eidam StV 2016, 129, 131; Schmitt-Leonardy EuCLR 2017, 303, 316.

[41] Vgl. BGHSt 45, 321, 334; Dölp StraFo 2017, 265, 265.

[42] Schmitt-Leonardy EuCLR 2017, 303, 316.

[43] BGH HRRS 2015 Nr. 1104, Rn. 52 ff.

[44] Eschelbach GA 2015, 545, 562; Jäger JA 2015, 308, 310.

[45] BMJV (Hrsg.), Bericht der StPO-Expertenkommission (2015), S. 86.

[46] Vgl. LTO v. 19.10.2020, Rechtsstaatswidrige Tatprovokation durch V-Leute: Anwaltsverbände pochen auf Klarstellung im Gesetz, https://www.lto.de/persistent/a_id/43145/ (abgerufen am: 08.11.2020).

[47] Näher zu Notwendigkeit und Ausgestaltung einer gesetzlichen Regelung der Tatprovokation Jahn/Hübner StV 2020, 207 ff.; Hübner, Rechtsstaatswidrig, aber straflos?, S. 122 ff. Vgl. auch Jahn/Kudlich JR 2016, 54, 63 f.; Tyszkiewicz, Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme, 2014, S. 85 f.; Dencker FS Dünnebier (1982), 447, 457.

[48] Vgl. auch BMJV (Hrsg.), Bericht der StPO-Expertenkommission (2015), S. 85. ("[…]auf einer ersten Stufe definiert werden, wann eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vorliegt. Auf einer zweiten Stufe sollten die Konsequenzen einer verbotenen rechtsstaatswidrigen Tatprovokation geregelt werden".).