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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2020
21. Jahrgang
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Die Beweiswürdigung hinsichtlich der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten ist lückenhaft, wenn das Tatgericht sich nicht damit auseinandersetzt, dass sowohl die Anlasstat als auch das Vor- und Nachtatverhalten eine normalpsychologische Erklärung finden können.
Die Erwägung, bei dem Angeklagten sei ein „Mangel an Respekt gegenüber den in Deutschland geltenden Werten“ festzustellen, erweist sich auch mit Rücksicht auf den eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab als rechtsfehlerhaft, wenn bei dem Angeklagten die begründete Erwartung besteht, dass er sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lasse und auch ohne die Einwirkung des weiteren Strafvollzugs in Zukunft keine Straftaten mehr begehen werde. Mehr als die auch von der Strafkammer erwartete künftige Rechtstreue kann von dem Angeklagten nicht gefordert werden.
1. Eine Strafe im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB ist nur dann verwirkt, wenn wegen der Tat eine Verurteilung bereits ergangen ist oder im Zusammenhang mit dem Verfahren, in dem die Frage der Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, ausgesprochen wird.
2. Es reicht nicht aus, dass für die Begründung der formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB noch nicht rechtskräftig geahndete Taten aus einem anderen Verfahren herangezogen werden (vgl. BGHSt 25, 44, 45 ff.). „Verwirkt“ im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB ist eine Strafe dann, wenn sie im anhängigen Verfahren verhängt wird oder es sich um eine rechtskräftige Einzelstrafe aus einem anderen Verfahren in der vom Gesetz geforderten Höhe handelt. Bei rechtskräftigen Einheitsjugendstrafen ist dabei erforderlich, dass die frühere Entscheidung erkennen lässt, dass eine dort geahndete einschlägige Katalogtat in der gesetzlich geforderten Höhe Eingang in die Einheitsjugendstrafe gefunden hat. Von § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB sind nach alledem im Falle einer getrennten Verurteilung insbesondere auch diejenigen Fälle erfasst, in denen mit einer rechtskräftigen Einzelstrafe nach § 55 StGB eine neue Gesamtstrafe zu bilden ist.
1. Nach § 63 StGB muss der Beschuldigte eine rechtswidrige Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) begangen haben. Eine rechtswidrige Tat liegt dann nicht vor, wenn sich der Täter auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann. Nach § 32 StGB ist eine Tat durch Notwehr gerechtfertigt, wenn sie erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich abzuwehren. Ob ein gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff vorliegt, bestimmt sich nach der objektiven Sachlage. Eine von Rechts wegen hinzunehmende oder ihrerseits durch Notwehr gerechtfertigte Tat ist kein ein Notwehrrecht begründender rechtswidriger Angriff. Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand. Einschränkungen der Notwehrbefugnis können sich ergeben, wenn der Täter den Angriff durch ein rechtswidriges Verhalten im Vorfeld mindestens leichtfertig provoziert hat. In einem solchen Fall ist es dem Täter zuzumuten, dem Angriff nach Möglichkeit auszuweichen.
2. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Die dazu notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist.
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat daraufhin, dass eine nochmalige Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus voraussetzt, dass von ihr Wirkungen ausgehen, die nicht bereits der erste Maßregelausspruch zeitigt. Dabei ist auch in Erwägung zu ziehen, inwieweit neu zu Tage getretenen Betreuungs- und Kontrollbedürfnissen durch eine Anpassung der bisherigen Unterbringung Genüge getan werden kann.
1294. BGH 1 StR 371/19 - Urteil vom 1. September 2020 (LG München I)
Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung).
§ 63 Satz 1 StGB
1. Eine Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 Satz 1 StGB liegt vor, wenn diese mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, sind daher nicht ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen.
2. Zu erwartende Gewalt- und Aggressionsdelikte sind, soweit es sich nicht um bloße Bagatellen handelt, regelmäßig zu den erheblichen Taten zu rechnen. Auch gemeinhin als Taten aus dem Bereich der unteren Kriminalität einzustufende Delikte können durch ihr konkretes Gepräge in den Bereich der mittleren Kriminalität rücken. Generell ist daher auf die konkreten Umstände und Besonderheiten des Einzelfalls abzustellen, wobei neben der konkreten Art der drohenden Taten und dem Gewicht der jeweils bedrohten Rechtsgüter auch die zu erwartende Häufigkeit und Rückfallfrequenz von Bedeutung sein können.
1. Bei der Strafzumessung sind etwaige Härten in den Blick zu nehmen, die durch die zusätzliche Vollstreckung von Strafen drohen, die von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, wenn diesbezüglich in zeitlicher Hinsicht die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB erfüllt wären. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass frühere in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen in gleichem Maße bei der Strafzumessung berücksichtigt werden wie nach innerstaatlichem Recht im Inland erfolgte frühere Verurteilungen. Dieser Grundsatz gilt stets und ohne weitere Bedingungen.
2. Hiernach ist bei zeitigen Freiheitsstrafen ein Härteausgleich vorzunehmen, um den sich daraus ergebenden Nachteil, dass eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB bei einer früheren Verurteilung durch ein Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats nicht erfolgen kann, auszugleichen.
3. Der Grundsatz des § 54 Abs. 2 Satz 1 StGB, wonach eine zu bildende Gesamtstrafe die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen darf, muss nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auch im Falle einer früheren Verurteilung durch ein Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats, die in zeitlicher Hinsicht dem § 55 StGB unterfällt, Beachtung finden und daher zu einem Härteausgleich bei der Bemessung der vom deutschen Gericht zu verhängenden Einzelstrafe führen. In Fällen, in denen eine Gesamtstrafe nach §§ 53 ff. StGB zu
bilden ist und das mit der ausländischen Verurteilung verbundene Strafübel bei der Bemessung der Gesamtstrafe nicht ins Gewicht fällt, kann allerdings ein Härteausgleich unterbleiben, ohne dass die Anforderungen des § 54 StGB verfehlt sind.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Vermögenswert im Rechtssinne aus der Tat erlangt, wenn er dem Täter oder Teilnehmer unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestands in irgendeiner Phase des Tatablaufs so zugeflossen ist, dass er hierüber tatsächliche Verfügungsgewalt ausüben kann. Bei mehreren Beteiligten ist ausreichend, aber auch erforderlich, dass sie zumindest eine faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsmacht über den Vermögensgegenstand haben. Dies ist der Fall, wenn sie im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehinderten Zugriff auf ihn nehmen können. Unerheblich ist bei der gebotenen gegenständlichen (tatsächlichen) Betrachtungsweise dagegen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Täter oder Teilnehmer eine unmittelbar aus der Tat gewonnene (Mit)Verfügungsmacht später aufgegeben hat und der zunächst erzielte Vermögenszuwachs durch Mittelabflüsse etwa bei Beuteteilung gemindert wurde.
2. Zum Vorliegen eines tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses bei Kurierfahrten mit erbeuteten Geldbeträge.