HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2017
18. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

190. BGH 5 StR 532/16 – Beschluss vom 10. Januar 2017 (LG Hamburg)

BGHSt; keine Lücke in der Ahndbarkeit von Insiderhandel und Marktmanipulation (Anforderungen des Bestimmtheitsgebots bei Blankettverweisung auf Gemeinschaftsrecht; Einbeziehung des erweiterten Regelungszusammenhangs in die Verweisung; Wille des Gesetzgebers; Hinausschieben des Geltungszeitpunk-

tes; statische und dynamische Verweisung; Transparenz des Regelungswerks; Normadressaten mit in der Regel fachspezifischer Ausbildung).

§ 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG; § 39 Abs. 3d Nr. 2 WpHG; § 2 Abs. 3 StGB; § 4 Abs. 3 OWiG; § 354a StPO; Art. 14, 15 Marktmissbrauchsverordnung

1. Durch die Neufassung von § 38 Abs. 3 Nr. 1, § 39 Abs. 3d Nr. 2 WpHG zum 2. Juli 2016 ist es zu keiner Lücke in der Ahndbarkeit von Insiderhandel und Marktmanipulation gekommen. (BGHSt)

2. Die Abweichung des Inkrafttretens der Änderungen des Wertpapierhandelsgesetzes (2. Juli 2016) vom Beginn der unmittelbaren Anwendbarkeit der maßgeblichen Bezugsnormen der Marktmissbrauchsverordnung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (3. Juli 2016) hat nicht zur Folge, dass die Verweisungen des Gesetzes auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften am 2. Juli 2016 „ins Leere“ gegangen und Marktmanipulationen an diesem Tag nicht mit Strafe oder mit Geldbuße bedroht gewesen wären. Die Bezugnahmen in § 38 Abs. 3 Nr. 1, § 39 Abs. 3d Nr. 2 WpHG auf Art. 14 und 15 der Marktmissbrauchsverordnung führten vielmehr dazu, dass diese Vorschriften der Verordnung bereits vor ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit ab dem 2. Juli 2016 durch den Bundesgesetzgeber im Inland für (mit)anwendbar erklärt wurden. (Bearbeiter)

3. Die Auslegung der verweisenden Normen des Wertpapierhandelsgesetzes ergibt insoweit, dass ihre Gültigkeit nicht von derjenigen der Rechtsnormen abhängig ist, auf die verwiesen wird. Es ist der Wille des deutschen Normgebers ersichtlich, unionsrechtliche Vorschriften ungeachtet ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit im nationalen Recht in eine Blankettnorm aufzunehmen. Dabei ist nicht zweifelhaft, dass der Gesetzgeber eine lückenlose Ahndung von Marktmanipulation und Insiderhandel erreichen wollte. (Bearbeiter)

4. Unerheblich für die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers ist es dabei, ob die Abweichung des Inkrafttretens der Änderungen des Wertpapierhandelsgesetzes (2. Juli 2016) vom Beginn der unmittelbaren Anwendbarkeit der maßgeblichen Bezugsnormen der Marktmissbrauchsverordnung (3. Juli 2016) auf einem gesetzgeberischen Versehen oder auf einer bewussten Entscheidung beruhte. (Bearbeiter)

5. Blankettnormen im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht müssen den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots genügen; die möglichen Fälle der Strafbarkeit oder Ordnungswidrigkeit müssen sich schon aufgrund des Gesetzes voraussehen lassen. Dafür müssen die Blankettnormen hinreichend klar erkennen lassen, worauf sich die Verweisung bezieht. Auch die ein Blankettstrafgesetz ausfüllende Vorschrift muss den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG – gegebenenfalls i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG – genügen. Diese Anforderungen lassen sich sinngemäß auf den Fall übertragen, dass Blankettstrafgesetze auf das Unionsrecht verweisen. (Bearbeiter)

6. Bei den Bezugnahmen der § 38 Abs. 3 Nr. 1, § 39 Abs. 3d Nr. 2 WpHG auf Art. 14 und 15 der Marktmissbrauchsverordnung handelt es sich um statische Verweisungen in dem Sinne, dass die bei Verabschiedung der Neufassung der §§ 38, 39 WpHG bereits in Kraft getretene Fassung der in Bezug genommenen Vorschriften der Marktmissbrauchsverordnung in Geltung gesetzt wurde. Statische Verweisungen sind – in Abgrenzung zu dynamischen – verfassungsrechtlich unbedenklich, weil der zuständige Gesetzgeber weiß, welchen Inhalt das in Bezug genommene Recht hat, und prüfen kann, ob er es sich mit diesem Inhalt zu eigen machen will. (Bearbeiter)

7. Dem Bestimmtheitsgebot widerspricht es nicht, dass Art. 14 und 15 MAR, auf die § 38 Abs. 3 Nr. 1, § 39 Abs. 3d Nr. 2 WpHG verweisen, ihrerseits das verbotene Verhalten nicht tatbestandlich beschreiben, sondern lediglich die Begriffe „Insidergeschäft“ (Art. 14 Buchst. a MAR) und „Marktmanipulation“ (Art. 15 MAR) verwenden, deren Verständnis sie voraussetzen. Es versteht sich von selbst, dass ein Mitgliedstaat, der Verstöße gegen Verbotsvorschriften eines Regelungswerks der Europäischen Union mit Strafe oder Geldbuße bewehrt, diese mit all ihren Bezügen in nationales Recht umsetzt und nicht etwa durch eine punktuelle Verweisung nur auf die jeweilige Verbotsnorm eine lex imperfecta schafft. (Bearbeiter)

8. Die Verbotsregelungen der Art. 14 und 15 MAR i.V.m. Art. 7, 8 und 12 MAR sind auch noch hinreichend transparent, so dass die ihnen unterworfenen Rechtssubjekte vorhersehen können, welches Verhalten verboten und in §§ 38, 39 WpHG mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den Adressaten der Verbote aus dem Kreis der natürlichen Personen in der Regel um solche mit einer fachspezifischen Ausbildung handelt; soweit dies nicht der Fall ist, obliegt es ihnen kraft der von ihnen ausgeübten Funktion, sich fachlich fortzubilden und gegebenenfalls beraten zu lassen. (Bearbeiter)


Entscheidung

136. BGH 1 StR 177/16 – Beschluss vom 20. Dezember 2016 (OLG München)

BGHSt; Erschleichen der Einbürgerung (Machen unvollständiger Angaben zu wesentlichen Voraussetzungen der Einbürgerung: Begriff der Wesentlichkeit, gesetzlich angeordnetes Außerbetrachtbleiben von inländischen Strafverurteilungen, Orientierung der Auslegung an § 98 BVFG, nicht an § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).

§ 42 StAG; § 12 Abs. 1 StAG; § 98 BVFG; § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG

1. Eine Strafbarkeit nach § 42 StAG ist nicht gegeben, wenn im Einbürgerungsverfahren unrichtige oder unvollständige Angaben über inländische Strafverurteilungen gemacht werden, die gemäß § 12a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 StAG bei der Einbürgerung außer Betracht bleiben. (BGHSt)

2. Wesentliche Voraussetzungen der Einbürgerung im Sinne des § 42 StAG sind solche, die für die Entscheidung der Verwaltungsbehörde über die Einbürgerung von entscheidender Bedeutung, mithin entscheidungserheblich sind. Vorstrafen unterhalb der Bagatellgrenze des § 12a Abs. 1 StAG sind das aber nicht. Sie haben bei der Einbürgerungsentscheidung zwingend außer Betracht zu bleiben und sind für das Ergebnis des Verwaltungsver-

fahrens ohne Belang. Sie sind unwesentlich im Sinne des § 42 StAG und daher auch nicht geeignet, eine abstrakte Gefährdung des geschützten Rechtsguts auszulösen. (Bearbeiter)

3. Da sich der Gesetzgeber bei der Fassung des § 42 StAG ausdrücklich an § 98 BVFG und nicht an § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG orientiert hat, können die zu § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG entwickelten Grundsätze für die Auslegung von § 42 StAG nicht herangezogen werden. Mit der ausdrücklichen Orientierung an § 98 BVFG hat sich der Gesetzgeber für eine Entscheidungserheblichkeit der unrichtigen oder unvollständigen Angaben für die Einbürgerungsentscheidung und gegen eine generelle Bestrafung von Falschangaben ausgesprochen. (Bearbeiter)


Entscheidung

186. BGH 5 StR 424/15 – Beschluss vom 8. Dezember 2016 (LG Dresden)

Anforderungen an die Darstellung der Bemessungsfaktoren bei Festsetzung der Geldbuße gegen eine juristische Person (Unrechtsgehalt der Bezugstat; wirtschaftliche Situation des Unternehmens; Nettoprinzip; Abzug von Kosten und Aufwendungen; Schätzung; Darstellung der Schätzungsgrundlagen in den Urteilsgründen).

§ 17 OWiG; § 30 OWiG

1. Die Höhe der Geldbuße gegen eine juristische Person oder Personengesellschaft nach § 30 OWiG soll sich daran orientieren, wie die Tat der Leitungsperson bewertet wird. Die Geldbuße ist danach vor allem nach dem Unrechtsgehalt der Bezugstat und deren Auswirkungen auf den geschützten Ordnungsbereich zu bemessen. Mit Blick auf die wirtschaftliche Gesamtsituation des Unternehmens kommt auch dem durch die Straftat erlangten Vorteil eine entscheidende Rolle zu, weil das Bußgeld diesen nach §§ 30 Abs. 3, 17 Abs. 4 OWiG übersteigen soll.

2. Der Begriff des Vorteils im Sinne der Vorschrift des § 17 Abs. 4 OWiG eine Saldierung, in deren Rahmen von den durch die Tat erlangten wirtschaftlichen Zuwächsen die Kosten und sonstigen Aufwendungen der Betroffenen abzuziehen sind; es gilt das Nettoprinzip. Eine Schätzung des Gewinns ist zulässig. Die Grundlagen, auf denen die Schätzung basiert, müssen in der gerichtlichen Entscheidung dargelegt werden, um die Nachprüfung der Bußgeldbemessung zu ermöglichen.


Entscheidung

148. BGH 4 StR 246/16 – Urteil vom 8. Dezember 2016 (LG Konstanz)

Bewaffnetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Begriff des Mitsichführens: gleichzeitig möglicher Zugriff auf Betäubungsmittel und Waffe während eines Einzelakts des Handeltreibens).

§ 30 Abs. 2 Nr. 2 BtMG

1. Das für die Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG notwendige Mitsichführen von Gegenständen, die zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt sind, liegt dann vor, wenn der Täter gefährliche Gegenstände bewusst gebrauchsbereit in der Weise bei sich hat, dass er sich ihrer jederzeit bedienen kann. Hierfür genügt, dass die gefährlichen Gegenstände dem Täter in irgendeinem Stadium des Tathergangs zur Verfügung stehen, d.h. sich so in seiner räumlichen Nähe befinden, dass er sich ihrer jederzeit, also ohne nennenswerten Zeitaufwand, und ohne besondere Schwierigkeiten bedienen kann.

2. Setzt sich die Tat aus mehreren Einzelakten zusammen, so reicht es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Tatbestandserfüllung aus, wenn der qualifizierende Umstand des Mitsichführens eines gefährlichen Gegenstands nur bei einem Einzelakt verwirklicht ist (st. Rspr.).

3. Zwar stellt der bloße Aufenthalt in einer Wohnung selbst noch keinen Teilakt des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln dar (vgl. BGH NStZ 2016, 123, 124). Es reicht aber aus, dass der Täter zugleich Betäubungsmittel und Waffe bzw. gefährlichen Gegenstand dergestalt in Verwahrung hält, dass ihm der gleichzeitige Zugriff hierauf möglich ist (vgl. BGH StV 2015, 641).


Entscheidung

151. BGH 4 StR 360/16 – Urteil vom 22. Dezember 2016 (LG Magdeburg)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Bestimmung der Betäubungsmittelmenge bei auf späterer Veräußerung zielendem Anbau; Strafzumessung: Berücksichtigung der angestrebten Wirkstoffmenge).

§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG; § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 46 StGB

1. Bei einem auf spätere Veräußerung zielenden Anbau von Cannabispflanzen ist für die Abgrenzung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln vom Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge die Menge maßgeblich, die mit der bereits begonnenen Aufzucht der Pflanzen letztlich erzielt und gewinnbringend veräußert werden soll (vgl. BGHSt 58, 99).

2. Entsprechend ist auch für den Schuldumfang bei der Strafzumessung die Menge an Wirkstoff maßgeblich, die mit dem Anbau letztlich erzielt und gewinnbringend veräußert werden soll. Fehlen Referenzwerte aus einem früheren Anbau, muss die zu erwartende Ertragsmenge – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe – geschätzt werden.


Entscheidung

144. BGH 2 StR 316/16 – Beschluss vom 16. November 2016 (LG Stralsund)

Bildung einer Einheitsjugendstrafe (erforderliche von der früheren Beurteilung unabhängige einheitliche Rechtsfolgenbemessung auch für die früher abgeurteilten Taten); Strafzumessung (Doppelverwertungsverbot).

§ 31 Abs. 2 JGG; § 46 Abs. 1, Abs. 3 StGB

Bei Anwendung von § 31 Abs. 2 JGG wird nicht lediglich die Strafe, sondern das Urteil in die Bildung der Einheitsjugendstrafe übernommen. Dabei hat der Tatrichter eine neue, selbständige, von der früheren Beurteilung unabhängige einheitliche Rechtsfolgenbemessung für die früher und jetzt abgeurteilten Taten vorzunehmen. Ist in der einzubeziehenden Entscheidung bereits eine frühere Entscheidung einbezogen worden, sind sämtliche Entscheidungen unter Neubewertung zur Grundlage einer einheitlichen Sanktion zu machen.