HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2017
18. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

143. BGH 2 StR 9/15 – Urteil vom 7. November 2016 (LG Darmstadt)

BGHSt; Recht auf den gesetzlichen Richter (Mitwirkung einer Richterin im nachgeburtlichen Mutterschutz: keine Dispositionsfreiheit der Richterin, Vereinbarkeit mit der richterlichen Unabhängigkeit).

Art. 101 Abs. 1 Satz GG; Art. 97 Abs. 1 GG; § 338 Nr. StPO; § 6 Abs. 1 Satz 1 MuSchG i.V.m. § 2 HRiG; § 95 Nr. 1 HBG; § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HMuSchEltZVO

1. Der nachgeburtliche Mutterschutz einer Richterin führt zu einem Dienstleistungsverbot, das ihrer Mitwirkung in der Hauptverhandlung entgegensteht. Deren Fortsetzung ohne Beachtung der Mutterschutzfrist führt zur gesetzwidrigen Besetzung des erkennenden Gerichts. (BGHSt)

2. Nach dem Gesetzlichkeitsprinzip aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darf es, soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 MuSchG gegeben sind, angesichts der zwingenden gesetzlichen Regelung nicht vom Willen der Richterin abhängig sein, ob sie weiter an der Hauptverhandlung mitwirkt oder das Dienstleistungsverbot befolgt. (Bearbeiter)

3. Der Schutzzweck des Mutterschutzgesetzes, der die Gesundheit von Mutter und Kind im Auge hat, ändert nichts an diesen prozessualen Folgen des Dienstleistungsverbots. (Bearbeiter)

4. Aus der sachlichen Unabhängigkeit der Richterin gemäß Art. 97 Abs. 1 GG ergibt sich nichts anderes. Die Schutzbereiche des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und des Art. 97 Abs. 1 GG sind voneinander zu unterscheiden (vgl. BVerfG NJW 2012, 2334, 2335). Kein Richter hat aufgrund von Art. 97 Abs. 1 GG einen Anspruch darauf, an einer Sachentscheidung durch Strafurteil mitzuwirken, wenn er – obwohl durch gesetzliche Vorausbestimmung zur Mitwirkung berufen – durch zwingende gesetzliche Vorschriften an der Mitwirkung verhindert ist. Durch Art. 97 Abs. 1 GG wird allein die sachliche Unabhängigkeit des Richters im Fall der Begründung seiner Entscheidungszuständigkeit gewährleistet, nicht aber eine Unabhängigkeit dahin, über die Entscheidungszuständigkeit selbst zu disponieren (vgl. BVerfGE 139, 145, 174). (Bearbeiter)


Entscheidung

140. BGH 1 StR 487/16 – Beschluss vom 7. Dezember 2016 (LG Ravensburg)

Ausschluss der Öffentlichkeit während der Schlussanträge (letztes Wort des Angeklagten).

§ 169 GVG; § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG; § 258 Abs. 3 StPO

Der zwingende Ausschluss der Öffentlichkeit bei den Schlussanträgen nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG erstreckt sich auch auf das letzte Wort des Angeklagten.


Entscheidung

174. BGH 2 StR 556/15 – Urteil vom 2. November 2016 (LG Aachen)

Ablehnung von Beweisanträgen (Unerreichbarkeit eines Zeugen; hinreichende Individualisierung).

§ 244 Abs. 3 StPO

1. Unerreichbar ist ein Zeuge, wenn alle Bemühungen des Gerichts, die der Bedeutung und dem Wert des Beweismittels entsprechen, zu dessen Beibringung erfolglos geblieben sind und keine begründete Aussicht besteht, es in absehbarer Zeit herbeizuschaffen.

2. Eine als Zeuge benannte Person ist, auch bei unbekanntem Nachnamen, hinreichend individualisiert, wenn eine genaue ladungsfähige Anschrift, unter der nur eine Person mit deren Vornamen gemeldet ist, angegeben wird.


Entscheidung

163. BGH 1 StR 617/16 – Beschluss vom 20. Dezember 2016 (LG Nürnberg-Fürth)

Kompensationsentscheidung (aufgrund einer Verfahrensverzögerung nach Beginn des Revisionsverfahrens).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 349 Abs. 4 StPO; 354 Abs. 1a Satz 2 StPO

1. Zur Kompensation einer nach Erlass des angefochtenen Urteils eingetretenen, der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung ist ein angemessener Teil der gegen den Angeklagten verhängten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt zu erklären.

2. Eine Missachtung des Gebots zügiger Verfahrenserledigung (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) durch die Justizbehörden nach Beginn des Revisionsverfahrens ist auf die Sachrüge hin von Amts wegen zu berücksichtigen.

3. Die Kompensation einer solchen Verfahrensverzögerung kann der erkennende Senat des Bundesgerichtshofs in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO selbst aussprechen.


Entscheidung

171. BGH 2 StR 9/15 – Beschluss vom 7. November 2016 (OLG Frankfurt am Main)

Beschwerde gegen Anordnung des dinglichen Arrests (Zuständigkeit; keine Analogie mangels Regelungslücke).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 111i StPO; § 121 Abs. 1 Nr. 2 GVG

1. Nach § 121 Abs. 1 Nr. 2 GVG sind die Oberlandesgerichte für die Entscheidung über das Rechtsmittel der Beschwerde gegen strafgerichtliche Entscheidungen zuständig, soweit keine anderweitige Zuständigkeit begründet ist. Eine abweichende Regelung der Zuständigkeit über die Beschwerde ist gegen die Anordnung der Fortdauer der Arrestanordnung nach Urteilsverkündung in § 111i StPO nicht vorgesehen.

2. Für eine entsprechende Anwendung anderer Bestimmungen, wie § 305a Abs. 2, § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO oder § 6 Abs. 3 Satz 2 StrEG, bleibt kein Raum. Es fehlt an einer Regelungslücke im Gesetz, auch wenn das Beschwerdegericht an Feststellungen des erkennenden Gerichts im Urteil bis zu deren Aufhebung durch das Revisionsgericht gebunden ist, da diese nur im Revisionsverfahren auf Rechtsfehler überprüfbar sind. Die Differenzierung bei den Formen der Entscheidungen über die Aufrechterhaltung der Arrestanordnung durch Beschluss und den Ausspruch gemäß § 111i Abs. 2 StPO im Urteil des erkennenden Gerichts entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Gleiches gilt für die sich hieraus ergebenden Zuständigkeiten der Rechtsmittelgerichte. Zweckmäßigkeitserwägungen gestatten es nicht, von der sich aus dem Gesetz ergebenden Zuständigkeitsverteilung abzuweichen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).


Entscheidung

161. BGH 1 StR 590/16 – Beschluss vom 20. Dezember 2016 (LG Landshut)

Eigene Entscheidung in der Sache (unzulässige Urteilsberichtigung; Schuldspruchberichtigung); Strafrahmenwahl (besondere gesetzliche Milderungsgründe; Einbeziehung der Umstände des Einzelfalls).

§ 354 Abs. 1 StPO; § 27 Abs. 2 Satz 2 StGB; § 49 Abs. 1 StGB

1. Ist eine Urteilsberichtigung unzulässig, weil der Tenor so verkündet wurde, wie er in den schriftlichen Urteilsgründen niedergelegt ist und kein offensichtliches Schreibversehen oder eine sonstige offensichtliche Unrichtigkeit vorliegt, kann der Senat in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO die dem Tatgericht verwehrte Schuldspruchberichtigung vornehmen, wenn die vollständigen und tragfähigen Urteilsfeststellungen den Schuldspruch belegen.

2. Sieht das Gesetz einen minder schweren Fall vor und ist auch ein gesetzlich vertypter Milderungsgrund gegeben, muss bei der Strafrahmenwahl im Rahmen einer Gesamtwürdigung zunächst geprüft werden, ob die allgemeinen Milderungsgründe die Annahme eines minder schweren Falles tragen. Ist nach einer Abwägung aller allgemeinen Strafzumessungsumstände das Vorliegen eines minder schweren Falles abzulehnen, sind in einem nächsten Schritt die den gesetzlich vertypten Strafmilderungsgrund verwirklichenden Umstände einzubeziehen. Erst wenn der Tatrichter danach weiterhin keinen minder schweren Fall für gerechtfertigt hält, darf er seiner konkreten Strafzumessung den (allein) wegen des gegebenen gesetzlich vertypten Milderungsgrundes gemilderten Regelstrafrahmen zugrunde legen.


Entscheidung

173. BGH 2 StR 480/16 – Beschluss vom 8. Dezember 2016 (LG Erfurt)

Beweiswürdigung (Beweisqualität des Wiedererkennens; fehlerhafte Lichtbildvorlage).

§ 261 StPO

1. Konnte ein Zeuge eine ihm vorher unbekannte Person nur kurze Zeit beobachten, darf sich der Tatrichter nicht ohne weiteres auf die subjektive Gewissheit des Zeugen beim Wiedererkennen verlassen, sondern muss aufgrund objektiver Kriterien nachprüfen, welche Beweisqualität dieses Wiedererkennen hat, und dies in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegen.

2. Die Beweiswürdigung ist lückenhaft, wenn das Urteil nicht erkennen lässt, ob das Instanzgericht sich mit dem eingeschränkten Beweiswert eines wiederholten Wiedererkennens – nach fehlerhafter Lichtbildvorlage – durch einen Zeugen in der Hauptverhandlung auseinandergesetzt hat.


Entscheidung

145. BGH 2 StR 472/16 – Beschluss vom 29. November 2016 (LG Aachen)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an die Darstellung der Identifizierung des Angeklagten als Täter durch einen Zeugen; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 2 Satz 1 StPO

1. Besondere Darlegungsanforderungen an die Beweiswürdigung des Tatrichters bestehen in schwierigen Beweislagen, zu denen auch Konstellationen zählen, in denen der Tatnachweis im Wesentlichen auf einem Wiedererkennen des Angeklagten durch einen Tatzeugen beruht.

2. Aufgrund der Komplexität und Fehlerträchtigkeit bei der Überführung eines Angeklagten aufgrund der Aussage und des Wiedererkennens einer einzelnen Beweisperson ist der Tatrichter grundsätzlich verpflichtet, die Bekundungen des Zeugen wiederzugeben, auf denen dessen Wertung beruht, dass er den Angeklagten als den Täter wiedererkenne. Der Tatrichter ist aus sachlichrechtlichen Gründen regelmäßig verpflichtet, die Angaben des Zeugen zur Täterbeschreibung zumindest in gedrängter Form wiederzugeben und diese Täterbeschreibung des Zeugen zum Äußeren und zum Erscheinungsbild des Angeklagten in der Hauptverhandlung in Beziehung zu setzen (vgl. BGH StraFo 2016, 154, 155). Darüber hinaus sind in den Urteilsgründen auch diejenigen Gesichtspunkte darzulegen, auf denen die Folgerung des Tatrichters beruht, dass insoweit tatsächlich Übereinstimmung besteht.

3. Darüber hinaus ist der Tatrichter zur Wiedergabe der Umstände verpflichtet, die zur Identifizierung des Angeklagten durch den Zeugen geführt haben. Hierzu gehören auch Ausführungen dazu, ob das – erste – Wiedererkennen auf einer Einzellichtbildvorlage oder einer Wahllichtbildvorlage beruht; wegen der damit verbundenen erheblichen suggestiven Wirkung kommt dem Wiedererkennen aufgrund einer Einzellichtbildvorlage ein deutlich geringerer Beweiswert zu (vgl. BGH NStZ-RR 2016, 223). Bei einer – erneuten – Identifizierung des Angeklagten durch den Zeugen in einer Hauptverhandlung ist außerdem zu beachten, dass insoweit eine verstärkte

Suggestibilität der Identifizierungssituation besteht (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 381, 382).


Entscheidung

185. BGH 5 StR 179/16 – Urteil vom 6. Dezember 2016 (LG Saarbrücken)

Sachlich-rechtlich fehlerhafte Beweiswürdigung (Lücken bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der minderjährigen Belastungszeugin; übertrieben Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit; Gedächtnisunsicherheiten als mögliche Ursache von Aussageninkonstanz).

§ 261 StPO

1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an der Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsrechtliche Prüfung beschränkt sich nach ständiger Rechtsprechung darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind.

2. Nicht jede Inkonstanz einer belastenden Zeugenaussage begründet einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit insgesamt. Vielmehr können Gedächtnisunsicherheiten eine hinreichende Erklärung für festgestellte Abweichungen darstellen Dies gilt umso mehr bei einem langen Zeitraum zwischen der Tat und den einzelnen Befragungen und einer zur Tatzeit sehr jungen (hier: sieben Jahre alten) Zeugin. Schließt das Tatgericht unter Berücksichtigung dieses Maßstabs zu voreilig von einer Aussageinkonstanz auf eine fehlende Glaubhaftigkeit, kann dies einen revisiblen sachlich-rechtlichen Fehler bei der Beweiswürdigung begründen.


Entscheidung

182. BGH 4 StR 527/16 – Beschluss vom 21. Dezember 2016 (LG Stendal)

Revisionsverfahren (Verhandlungsfähigkeit; paranoid-halluzinatorische Psychose).

§ 302 StPO

1. Für die Verhandlungsfähigkeit im Revisionsverfahren reicht es aus, dass der Beschwerdeführer mindestens zeitweilig zu einer Grundübereinkunft mit seinen Verteidigern über die Fortführung oder Rücknahme des Rechtsmittels in der Lage ist und diese Voraussetzungen zum Zeitpunkt der in Rede stehenden Entscheidung vorlagen.

2. Eine Beeinträchtigung der Geschäfts- oder Schuldfähigkeit eines Erklärenden hat nicht zwangsläufig dessen prozessuale Handlungsunfähigkeit zur Folge. Hiervon ist erst dann auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Beteiligter nicht in der Lage ist, die Bedeutung von ihm abgegebener Erklärungen zu erkennen, wobei Zweifel an der prozessualen Handlungsfähigkeit zu seinen Lasten gehen.


Entscheidung

168. BGH 2 StR 432/16 – Beschluss vom 20. Dezember 2016 (LG Gera)

Rechtsmittelverzicht (Unwiderruflichkeit bei Anwendung von Jugendstrafrecht; Ausnahme bei vorheriger informeller Verständigung).

§ 55 JGG; § 257c StPO; § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO

1. Der in Anwesenheit der Verteidigung erklärte, ausdrückliche, eindeutige und vorbehaltlose Rechtsmittelverzicht eines Angeklagten nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung ist auch in Fällen, in denen Jugendstrafrecht auf einen Heranwachsenden angewendet wird, grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar.

2. Die Verzichtserklärung kann – in entsprechender Anwendung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO – unter anderem dann unwirksam sein, wenn dem Urteil unter Umgehung des § 257c StPO eine informelle Verständigung vorausgegangen ist.


Entscheidung

165. BGH 2 StR 165/15 – Beschluss vom 16. November 2016

Ablehnung des Antrags auf Bewilligung einer Pauschgebühr.

§ 51 Abs. 1 Satz 1 und 3 RVG

Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 und 3 RVG ist eine Pauschgebühr festzusetzen, die über die gesetzlichen Gebühren hinausgeht, wenn dies wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache oder des betroffenen Verfahrensabschnitts geboten erscheint. Die Bewilligung einer Pauschgebühr ist ein Ausnahmefall, der nur vorliegt, wenn objektiv eine überdurchschnittliche anwaltliche Leistung erforderlich wird. Entscheidend ist, ob die konkrete Strafsache selbst umfangreich war und infolge dieses Umfangs, gegebenenfalls auch infolge komplizierter Rechtsfragen, eine zeitaufwändigere, gegenüber anderen Verfahren erhöhte Tätigkeit des Verteidigers erforderlich geworden ist.