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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2017
18. Jahrgang
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Von RA Prof. Dr. Endrik Wilhelm, Dresden
Selbstmord ist eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland. 100.000 Menschen versuchen ihn jährlich, immerhin 10.000 von ihnen gelingt er.[1] Seit einer Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1952 lernen Jura-Studenten, dass die Anwesenheit bei einem solchen Ereignis in eine nur als paradox zu bezeichnende Situation führen kann. Damals hatte sich ein Mann in Gegenwart seiner Ehefrau erhängt. Als er das Bewusstsein verlor, unternahm diese nicht etwa Anstalten, um ihn zu retten, sondern überließ ihn seinem Schicksal. Der BGH wertete die Untätigkeit während der Strangulation als straflos, sah in der unterbliebenen Rettung nach Verlust der Tatherrschaft des Selbstmörders jedoch ein Tötungsdelikt durch Unterlassen.[2]
Die sich daraus entwickelnde Rechtsprechung hatte weitreichende Folgen für die Beihilfe zu einem Selbstmord, die heute unter bestimmten Voraussetzungen auch als Sterbehilfe bezeichnet wird. Sie folgt einer strengen Logik, der sich das OLG Hamburg verpflichtet fühlt und die sich vermutlich nur Juristen ausdenken konnten. Deren Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass niemand mit strafbefreiender Wirkung in seine eigene Tötung einwilligen könne.[3] Selbstmord sei zwar keine teilnahmefähige Haupttat. Sobald der Selbstmörder die Herrschaft über das Geschehen verloren habe, setze jedoch die Erfolgsabwendungspflicht eines Garanten ein. Zum Beleg dient § 216 StGB, denn die Norm regelt unmissverständlich, dass die Herbeiführung des Todes eines erklärtermaßen Sterbewilligen strafbar ist, wenn auch mit einer geringeren Strafdrohung. Der Logik des BGH folgend ist § 216 StGB auch durch Unterlassen begehbar.[4] In der Meiwes-Entscheidung hat der BGH das Privileg des § 216 StGB zusätzlich insoweit eingeschränkt, als dass er verlangt, dass der Sterbewillige nicht nur das ernsthafte und ausdrückliche Verlangen haben, sondern dass das für den Selbstmordhelfer auch handlungsleitend sein müsse und er nicht etwa – auch – eigennützig handeln oder unterlassen dürfe.[5]
Für geschäfts- oder gar gewerbsmäßige Sterbehelfer – und womöglich auch für den Angeschuldigten – ergeben sich aus dieser Rechtsprechung weit über die vom OLG Hamburg geschlussfolgerte Rechtslage hinaus gehende Gefahren. Denn wer die Rettung unterlässt, um etwa den Sterbehelferlohn nicht zurückzahlen zu müssen oder weil er der Erbe des Selbstmörders ist, kann auch noch zum Mörder werden, wenn diese Motive handlungsleitend werden.[6] Dieser Gefahr ist auch der von der Entscheidung des OLG Hamburg betroffene Angeschuldigte ausgesetzt. Der Senat erwähnt jedenfalls, dass der Angeschuldigte zumindest auch eigennützig motivierte politische Interessen verfolgt habe. Er zieht daraus zwar keine Konsequenzen.[7] Das ändert aber nichts daran, dass die Sache für den Angeschuldigten noch eine böse Wendung nehmen kann, wenn der Tatrichter zu dem Ergebnis kommen sollte, eigennützige Motive seien – womöglich zusammen mit vom OLG Hamburg ebenfalls erwähnten kommerziellen Interessen – handlungsleitend gewesen. Er würde sich bei Wegfall des sich aus § 216 StGB ergebenden Privilegs wohl – mindestens – wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen zu verantworten haben.
Es hilft – das sei der Vollständigkeit halber angemerkt – Sterbehelfern in derartigen Fällen übrigens auch nichts, sich vom Ort des Geschehens zu entfernen.[8] Die Vorstellung, dass die Erfolgsabwendung in der konkreten Situation unmöglich sei, beruhigt zwar das Gewissen und führt nach der Vorstellung vermutlich vieler Helfender zur Straflosigkeit des Verhaltens. Diese Vorstellung ist allerdings trügerisch, denn ein Garant, der weiß, dass seine Hilfe gebraucht werden wird, wird nicht dadurch von strafrechtlicher Verantwortung befreit, dass er sich vom Ort des antizipierten Geschehens entfernt. Dieses Ergebnis gibt die Rechtsfigur der omissio libera in causa vor, die den Angeschuldigten in dem vom OLG Hamburg
entschiedenen Fall auch dann vor Gericht gebracht hätte, wenn er die beiden Damen allein gelassen und ihnen keinen Beistand geleistet hätte.[9] Er hätte nur denken müssen, dass es nach Verlust der Tatherrschaft der Sterbewilligen noch eine Phase gibt, in der eine Rettung möglich ist. Der Fall wäre nicht anders zu beurteilen als die Konstellation, in der sich ein Sterbehelfer vorstellt, den Selbstmörder durch das Herbeirufen eines Notarztes retten zu können und vor Einnahme des Tranks durch den Selbstmörder sein Telefon zerstört. Das würde ihn auch nicht vor einer Verurteilung bewahren. Beides lässt sich entweder mit Hilfe der Rechtsfigur der omissio libera in causa begründen oder mit der Überlegung, dass es zum gebotenen Verhalten gehört, sich die Erfolgsabwendung nicht unmöglich zu machen.[10] Es muss verwundern, dass es – soweit ersichtlich – keinen Fall gibt, in dem ein Sterbehelfer mit Hilfe dieser Konstruktion verurteilt wurde.
Parallel zur Entwicklung der Rechtsprechung vollzog sich ein Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen, die Sterbehilfe in den unterschiedlichsten Formen immer mehr zum Thema werden ließ. Das beeinflusste zwar auch die strafrechtliche Diskussion, Entscheidungen des BGH und des Gesetzgebers. Trotzdem ist es ausgehend von der Rechtsprechung bis heute so, dass es einen halbwegs rechtssicheren Weg wirklich strafloser Beihilfe zum Selbstmord nur in einer Konstellation gibt. Sie verlangt eigenverantwortliches Handeln des Selbstmörders ohne Rettungsmöglichkeit. Denn nachdem eine Rettungspflicht nur bei Bestehen einer Erfolgsabwendungsmöglichkeit entstehen kann, bleibt es auch nach der strengsten Auffassung gänzlich straflos, wenn der Selbstmörder unmittelbar nach Verlust seiner Tatherrschaft tot umfällt.[11] Doch das ist in der Praxis alles andere als einfach. Es ist bei einem kontrolliert eingeleiteten Sterbevorgang durch Einnahme von Gift oder Erhängen sehr schwierig, die Unumkehrbarkeit sicher zu garantieren. Die Einnahme von Gift führt nur bei schwer zu beschaffenden Substanzen unabwendbar zum Tod und gewährleistet vor allem kein sanftes Einschlafen, während der Tod beim Erhängen nur – wenn überhaupt – dann sofort eintritt, wenn sich der Selbstmörder das Genick bricht – was beim Suizid durch Strangulation eine seltene Ausnahme ist. Und selbst wenn ein zeitnaher Todeseintritt gelingt, müssen die Sterbehelfer damit rechnen, dass ihnen – wie vom OLG Hamburg – gesagt wird, sie hätten eine Erfolgsabwendung noch für möglich gehalten, was in eine Strafbarkeit wegen Versuchs führt.
Die Befürworter einer Lockerung oder gar Aufhebung des Verbots der Sterbehilfe haben in den zurückliegenden Jahren auf verschiedene Weise versucht, einen Ausweg aus dieser Zwickmühle zu finden. So wird aus dem Willen des Sterbewilligen bisweilen eine eingeschränkte Garanten- und daraus eine fehlende Erfolgsabwendungspflicht gefolgert. Neuerdings werden daneben vor allem § 1901a BGB und das in der Verfassung verankerte Recht auf Selbstbestimmung herangezogen, um die mutmaßliche Einwilligung des Sterbenden trotz der sich aus § 216 StGB ergebenden Grundaussage zum Rechtfertigungsgrund zu machen.[12] Sie rücken das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen auch bei den Strafverfolgungsbehörden zunehmend in den Mittelpunkt.[13]
Im vorliegenden Fall könnte darüber hinaus eine gänzlich fehlende Garantenstellung ein Ansatz sein. Das soll hier aber – ebenso wie die Problematik des möglichen Verstoßes gegen das BtMG – nicht weiter vertieft werden. Das OLG Hamburg hat die Garantenstellung des Angeschuldigten zwar nicht in der gebotenen Tiefe untersucht, was Miebach zu Recht kritisiert.[14] Der BGH hat zuletzt insbesondere auch offen gelassen, ob die Förderung einer Selbstgefährdung für sich gesehen eine Garantenstellung aus Ingerenz begründen kann, wenn nicht nur eine Gefährdung, sondern die Realisierung der Gefahr vom Betroffenen angestrebt wird.[15] Es lassen sich beim Angeschuldigten jedoch eine Reihe von anderen Gründen für die Entstehung einer Garantenstellung denken, die derzeit nicht ausgeschlossen werden können.[16] Und sollte sie entstanden sein, nähme der Sterbewille der Selbstmörderinnen darauf grundsätzlich keinen Einfluss, wie der BGH in der Wittig-Entscheidung deutlich gemacht hat.[17] Er wollte damals bei Hinzutreten besonderer Umstände lediglich Einschränkungen der Pflichten eines Garanten gelten lassen und eine aufgrund einer besonderen Situation getroffene "ärztliche Gewissensentscheidung" des damals Angeklagten respektieren. Dafür verlangte er, dass der für die Rettung Verantwortliche davon überzeugt ist, dass entweder die vitalen Funktionen des Organismus zu schwer beeinträchtigt seien, um den fortschreitenden Sterbeprozess noch aufhalten zu können, oder dass der Tod zwar nicht in naher Zukunft unabwendbar bevorstünde, dafür aber irreversible Dauerschäden zu erwarten seien.[18] Das OLG Hamburg hat diese Rechtssätze übrigens nicht beachtet, denn es ist der Frage nicht nachgegangen, ob der Angeschuldigte von irreversiblen Schäden der beiden Damen in diesem Sinne ausgegangen ist. Und nicht nur das hat das OLG Hamburg übersehen. Es wäre ausgehend vom mitgeteilten Sachverhalt im Rahmen der Prüfung des Verstreichenlassens einer für möglich gehaltenen Rettungsmöglichkeit weiter in Betracht zu ziehen gewesen, dass der Angeschuldigte die beiden sterbewilligen alten Damen in Würde sterben lassen und lediglich unsinnige Rettungsversuche vermeiden wollte. Stattdessen nimmt die Entscheidung allein die objektiv noch mögliche Rettung des Lebens in den Blick und entnimmt dem bloßen Zuwarten des Angeschuldigten, dass er eine Rettung des Lebens für möglich gehalten habe. Der Senat stellt dabei auch nicht darauf ab, dass der Angeschuldigte den Tod aus seiner subjektiven Sicht nicht als sicher eingestuft habe, sondern führt aus, die Erfolglosigkeit einer möglichen Hilfsmaßnahme sei – objektiv – nicht sicher voraussehbar gewesen. Das reicht für die angenommene Versuchsstrafbarkeit nicht einmal aus. Das OLG München ist in einem vergleichbaren
Fall deshalb auch zu einem anderen Ergebnis gekommen.[19]
Eine besondere Ausprägung hat die das Selbstbestimmungsrecht zunehmend respektierende Rechtsprechung des BGH vor einigen Jahren durch eine Entscheidung des 2. Strafsenats erfahren, die nicht ausschließbar auch auf die vom OLG Hamburg entschiedene Sache noch Einfluss nehmen wird. Sie beruft sich auf § 1901a BGB als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts, der dem Willen eines Betreuten unabhängig von Art und Schwere seiner Erkrankung (§ 1901a Abs. 3 BGB) maßgebliche Bedeutung beimesse.[20] Danach soll der Wille eines entscheidungsunfähigen und mutmaßlich sterbewilligen Patienten sehr wohl bestimmend sein können und sogar eine Tötung durch aktives Tun (Abschalten von Maschinen oder Durchtrennung von Schläuchen) rechtfertigen.[21] Das ist eine deutliche Erweiterung des Respekts vor dem Willen eines Selbstmörders, auch wenn der 2. Senat und § 1901a BGB eine andere Situation vor Augen haben als Selbstmörderinnen, die nicht gerettet werden wollen. Denn deren nur wenige Minuten vor Verlust der Tatherrschaft zum Ausdruck gekommener Wille kann nicht weniger wert sein als der in einer Patientenverfügung womöglich vor Jahren niedergelegte Wille eines im Koma liegenden Erkrankten, von dem ein Betreuer denkt, er sei noch aktuell.
Die Bemühungen des BGH, den Willen des Betroffenen zu respektieren, leiden freilich darunter, dass sie die Quadratur des Kreises nicht herzustellen vermögen. Nachdem der BGH ursprünglich noch vermied, die Untätigkeit des Sterbehelfers als gerechtfertigt zu bezeichnen und lieber von einer ärztlichen Gewissensentscheidung sprach,[22] ist aus dem Willen des Betroffenen inzwischen unter den geschilderten Bedingungen zwar ein anerkannter Rechtfertigungsgrund geworden.[23] Allerdings führt es geradewegs in das nächste Paradoxon, eine trotz eines entsprechenden Verlangens strafbare Tötung auf Verlangen mit Blick auf eben dieses Verlangen als gerechtfertigt anzusehen.[24] Der Versuch, das dadurch zu umgehen, unter den beschriebenen Voraussetzungen die objektive Zurechenbarkeit des zum Tode führenden Geschehens zu verneinen,[25] ist dabei ebenso ungeeignet wie Bemühungen, aktives Tun in Unterlassen umzudeuten oder beides zu kombinieren.[26] Selbst wenn man die Rechtsfigur der objektiven Zurechnung als solche anerkennt,[27] kann keinem Zweifel unterliegen, dass eine Lebensverkürzung durch das Zerschneiden eines Versorgungsschlauchs dem Handelnden objektiv zurechenbar ist. Ebenso wenig lässt sich leugnen, dass das eine ein Begehungsdelikt verwirklichende Handlung ist.[28] Die Ausgangslage drängt vielmehr dazu, andere Instrumente in den Blick zu nehmen, um die spätestens mit Einführung des § 1901a BGB entstandene Konkurrenz zwischen der Grundaussage in § 216 StGB einerseits und dem gebotenen Respekt vor dem verfassungsrechtlich und mit § 1901a BGB nunmehr auch einfach-gesetzlich verankerten Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen andererseits zu lösen.
Eine sämtliche Fälle erfassende und die Grundregeln strafrechtlicher Dogmatik beachtende Lösung wäre die von Walter vorgeschlagene teleologische Reduktion der Tötungsdelikte.[29] Folgt man dem nicht, ergibt sich eine Straflosigkeit zumindest für die vom OLG Hamburg entschiedene Konstellation aus gesetzessystematischen Überlegungen. Die sind im Kern nicht neu und bauen darauf auf, dass die Pönalisierung unterbleibender Rettungsmaßnahmen im Widerspruch stünde zur Straffreiheit der Beihilfe zum Selbstmord.[30] Bislang fand das zwar nur wenig Beachtung in der Rechtsprechung und führte zu keiner grundsätzlichen Klärung im Sinne einer Straffreiheit. Vermutlich ohne es zu merken, hat der Gesetzgeber gleich einem Zauberlehrling diesem Argument mit der Einführung des § 217 StGB jedoch eine neue Dimension verliehen. Denn die Vorschrift regelt nunmehr die Strafbarkeit der Sterbehilfe, soweit sie darin besteht, dem Selbstmörder die Gelegenheit zum Suizid zu gewähren, zu verschaffen oder zu vermitteln. Das hat Konsequenzen zunächst für den sich danach strafbar machenden geschäftsmäßigen Sterbehelfer. Der soll gemäß § 217 Abs. 1 StGB mit maximal drei Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden. Der Gesetzgeber hat das untersagte Verhalten für eine strafbare Teilnahme an einem Suizid damit positiv bestimmt. Es verstieße gegen die sich aus dem Gesetzlichkeitsprinzip ergebende Berechenbarkeitsfunktion der Strafgesetze (Art. 103 Abs. 2 und 20 Abs. 3 GG), die Strafbarkeit geschäftsmäßiger Sterbehilfeüber über ein unechtes Unterlassungsdelikt nach der Verwirklichung des Tatbestands wieder auszudehnen.[31] § 217 StGB hat insoweit privilegierende Wirkung. Genau die würde konterkariert, wenn die Rechtsprechung aus dem geschäftsmäßigen Sterbehelfer weiterhin einen erfolgsabwendungspflichtigen Garanten machen würde, der – in Abhängigkeit von seinen Motiven – noch dazu leicht zum Mörder werden kann.
Es ergeben sich unmittelbar aus § 217 StGB weiterhin Konsequenzen für die Angehörigen des Selbstmörders und diesem nahestehende Personen. Denn § 217 StGB enthält auch für sie eine Regelung. Sie steht in § 217 Abs. 2 StGB. Danach bleiben Teilnehmer des geschäftsmäßigen Sterbehelfers gänzlich straffrei, wenn sie selbst nicht geschäftsmäßig handeln und entweder Angehörige des Sterbewilligen sind oder diesem nahestehen. Das ist ebenfalls ausdrücklich gesetzlich geregelt und kann nicht ausgehebelt werden durch eine einsetzende Erfolgsabwendungspflicht, wenn die explizit straflose Vermittlung eines geschäftsmäßigen Sterbehelfers vollzogen wurde. Auch das würde gegen Art. 103 Abs. 2 und 20 Abs. 3 GG verstoßen.
Alle anderen Sterbehelfer können sich danach zwar wegen Teilnahme oder Mittäterschaft zu § 217 StGB strafbar machen. Ansonsten stellen sie bei einem Blick ins Gesetz jedoch fest, dass nur die geschäftsmäßigen Sterbehelfer Normadressaten der verbotenen Beihilfe zum Selbstmord sind, während sogar ohne Wenn und Aber als Garanten anzusehende Verwandte sich nicht einmal dann strafbar machen, wenn sie einen geschäftsmäßigen Sterbehelfer vermitteln. Niemand muss danach noch damit rechnen, dass es rechtstechnisch möglich ist, die in § 217 StGB enthaltenen und leicht verständlichen Aussagen mit Hilfe einer sich nur Juristen erschließenden Logik für nicht geschäftsmäßig agierende Sterbehelfer auszuhebeln und zur Makulatur zu machen. Das ist im Gegenteil nicht vorhersehbar für den nicht mit der notwendigen – und nicht unerheblichen – juristischen Fantasie ausgestatteten gewöhnlichen Normadressaten.[32] Es ist danach nicht einmal mehr möglich, den geschäftsmäßig handelnden Sterbehelfer wegen des Verstreichenlassens von Rettungsmöglichkeiten nach der suizidalen Handlung und dem Verlust der Tatherrschaft zu belangen. Noch weniger können Angehörige oder nicht geschäftsmäßig tätige Sterbehelfer dafür bestraft werden.
Daraus folgt, dass die Auffassung des OLG Hamburg in der gegebenen Konstellation de lege lata nicht mehr vertretbar ist. Selbst wenn man daher den Willen der Selbstmörderinnen trotz der mit Blick auf § 1901a BGB geänderten Rechtslage und der dazu bereits vorliegenden Rechtsprechung des BGH hinter den Schutz des Rechtsgutes zurücktreten lässt und der Angeschuldigte Garant gewesen und einen hinreichenden Tatentschluss gehabt haben sollte, käme es gemäß § 2 Abs. 3 StGB allein noch darauf an, ob er geschäftsmäßig handelte und sein Verhalten unter den neuen § 217 StGB subsumierbar wäre. Sollte das der Fall sein, wäre er in Abhängigkeit von der konkreten Strafrahmenwahl bei der versuchten Tötung durch Unterlassen entweder wegen geschäftsmäßiger Sterbehilfe (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren) oder wegen versuchter Tötung durch Unterlassen, der bei doppelter Milderung zu Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis 2 Jahren, 9 Monaten und ohne Milderung zu Freiheitsstrafe zwischen drei Monaten und fünf Jahren führt, zu verurteilen.[33] Sollte er nicht geschäftsmäßig gehandelt haben, wäre er auch unter Zugrundelegung der Rechtsansicht des OLG Hamburg freizusprechen, die dem Selbstbestimmungsrecht der bewusstlosen Selbstmörderinnen keine Bedeutung zukommen lässt, wenn ihr Leben– ganz gleich um welchen Preis – noch gerettet werden kann.
[1] https://de.statista.com/themen/40/selbstmord/.
[2] BGH St 2, 150.
[3] BGH St 6, 147, 153.
[4] BGH St 13, 162; a.A. in Fällen der Beihilfe zum Selbstmord u.a. MüKoStGB/Schneider, 2. Aufl., 2012, § 216, Rn. 65 ff. m.w.N.
[5] BGH St 50, 80 = HRRS 2005 Nr. 458; a.A. zuletzt Zehetgruber, HRRS 2017, 31.
[6] Vgl. dazu Wilhelm NStZ 2005, 177 ff.
[7] Näher zu den Hintergründen des Falles: http://www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2015-12/roger-kusch-sterbehilfe-verfahren-hamburg.
[8] So aber MüKoStGB/Schneider, 2. Aufl., 2012, § 216, Rn. 68.
[9] Vgl. dazu Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 211.
[10] Struensee , FS Stree/Wessels, S. 146 ff.
[11] Plakativ Roxin, StV 2016, 428.
[12] Miebach, NStZ 2016, 536.
[13] StA München, NStZ 2011, 345.
[14] Fn. 12.
[15] BGH StV 2016, 426 = HRRS 2016 Nr. 39.
[16] Miebach, NStZ 2016, 536.
[17] BGH St 32, 367, 377.
[18] Im Ergebnis so auch BGHSt 40, 257.
[19] Hackethal -Entscheidung, OLG München, NJW 1987, 2940 ff.
[20] Zutr. Gaede NJW 2010, 2925.
[21] BGH St 55, 191 = HRRS 2010 Nr. 704.
[22] BGH St 32, 367.
[23] BGH St 40, 257; 55, 191 = HRRS 2010 Nr. 704; Gaede NJW 2010, 2925.
[24] Treffend Walter ZIS 2011, 76, 78.
[25] So Rissing van-Saan ZIS 2011, 544, 548.
[26] Gaede NJW 2010, 2925.
[27] Krit. Struensee JZ 1987, 53 ff.
[28] Dölling ZIS 2011, 345, 346.
[29] Fn. 24.
[30] Roxin StV 2016, 428; MüKoStGB/Schneider, § 216, Rn. 65, 66 m.w.N.
[31] Vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 23.06.2010 – 2 BvR 2559/08, BVerfGE 126, 170 = HRRS 2010 Nr. 656.
[32] Vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 21.09.2016 – 2 BvL 1/15 = HRRS 2016 Nr. 1112.
[33] Vgl. dazu Fischer, StGB, 64. Aufl., 2017, § 2, Rn. 10.