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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2016
17. Jahrgang
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Von Dr. Mayeul Hiéramente , Rechtsanwalt, Wessing & Partner, Düsseldorf
Der Hintergrund des zugrundeliegenden Falles ist schnell erläutert: Im Rahmen von Ermittlungen wegen eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes gerieten die Verwandten der Getöteten – im Ergebnis zu Unrecht – in den Fokus der Ermittlungsbehörden. Mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 ordnete das Amtsgericht Ellwangen neben weiteren geheimen Ermittlungsmaßnahmen die Überwachung der Telekommunikation gemäß § 100a StPO an. Die Überwachung erstreckte sich mit Zustimmung des Amtsgerichts auch auf die Überwachung der Webseitennutzung ("Surfen" im Internet) und wurde rund neun Monate aufrechterhalten. Dabei wurden nach Auskunft der Staatsanwaltschaft 129.000 Aufrufe von HTML-Seiten registriert und gespeichert. Das Landgericht Ellwangen hat die Rechtmäßigkeit der Überwachung des Surfverhaltens mit Beschluss vom 28. Mai 2013 bestätigt und festgestellt, es handele sich auch bei der Internetnutzung durch Aufrufen von Webseiten um Telekommunikation im Sinne des § 100a Abs. 1 StPO. Die Verfassungsbeschwerde der Betroffenen wurde vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 6. Juli 2016 gemäß § 93b i.V.m. § 93a BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die mangelnden Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde wie folgt begründet.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts befasst sich mit einer aktuellen Thematik, die insbesondere in den letzten Jahren in der Literatur kontrovers diskutiert wurde. Im Kern geht es um die Frage, ob die Ermittlungsbehörden unter den Voraussetzungen des § 100a
StPO jegliche Form der Datennutzung (hier: der Abruf von HTML-Seiten) über den Telefon- und Internetanschluss überwachen dürfen oder ob es angesichts der besonderen Eingriffsintensität einer derartigen Internetüberwachung einer gesonderten Rechtsgrundlage (mit höheren Eingriffsvoraussetzungen) bedarf. Dahinter steht die rechtspraktische und rechtspolitische Frage, ob die Regelungen der Strafprozessordnung mit den rasanten und keinesfalls nur graduellen Entwicklungen der modernen Technologie und den Konsequenzen einer Ökonomisierung der Datenerhebung durch Google, Facebook und Co. mitzuhalten vermögen. Die grundsätzliche Frage lautet: Unter welchen Bedingungen darf der Staat auf die enormen Datenmassen zugreifen, die bei der Nutzung von Smartphones, Tablets und Laptops tagtäglich generiert werden? Reicht dafür eine einfache richterliche Anordnung nach § 100a StPO aus? Eine umfassende Antwort haben die Karlsruher Richter vermieden.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich der konkreten Problematik angenähert, ohne eine einfachrechtliche Interpretation des Terms "Telekommunikation" im Sinne des § 100a StPO vorzunehmen und ohne die zugrundeliegende strafprozessuale Frage abschließend zu entscheiden. Auch wenn eine gewisse Tendenz für eine extensive Interpretation der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsbefugnisse zu erkennen ist, zieht sich der 2. Senat des Gerichts auf die grundlegende Feststellung zurück, dass die Entscheidung des Landgerichts Ellwangen aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht in Zweifel zu ziehen sei. Das Bundesverfassungsgericht hebt – was in strafrechtlichen Fallkonstellationen keinesfalls stets der Fall ist – den eingeschränkten verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab hervor und betont:
"Ein etwaiger Fehler der Fachgerichte muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen. Das ist in der Regel dann der Fall, wenn ein Fehler sichtbar wird, der auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruht, oder wenn eine fehlerhafte Rechtsanwendung nicht mehr verständlich ist[...]. Nach diesem Maßstab ist die angegriffene Entscheidung des Landgerichts Ellwangen von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden." (Rn. 24)
Zunächst stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass sich das Landgericht Ellwangen bei der Interpretation des Merkmals "Telekommunikation" im Einklang mit in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansichten[1] befindet (Rn. 25 f., 28) und eine extensive Interpretation auch beim Bundesgerichtshof Anerkennung gefunden habe (Rn. 29). Anschließend nimmt das Bundesverfassungsgericht den Wortlaut des § 100a StPO in den Blick. Der dort verwendete Term "Telekommunikation" finde auch in den Kompetenzregelungen des Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG und Art. 80 Abs. 2 GG Verwendung. Eine verfassungsrechtlich gebotene Einschränkung folge daraus jedoch nicht (Rn. 30 f.). Zudem betonen die Karlsruher Richter, dass sich die Auslegung des Begriffs der "Telekommunikation" im Rahmen des § 100a StPO auch am grundrechtlichen Schutz des Art. 10 GG orientieren müsse (Rn. 32). Das Grundrecht sei insgesamt "entwicklungsoffen" (Rn. 34) und diene der Ermöglichung einer vertraulichen Nutzung von Kommunikationsmedien:
"Mit der grundrechtlichen Verbürgung der Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses soll vermieden werden, dass der Meinungs- und Informationsaustausch mittels Telekommunikationsanlagen deswegen unterbleibt oder nach Form und Inhalt verändert verläuft, weil die Beteiligten damit rechnen müssen, dass staatliche Stellen sich in die Kommunikation einschalten und Kenntnisse über die Kommunikationsbeziehungen oder Kommunikationsinhalte gewinnen[...]." (Rn. 36)[2]
Da auch bei der Nutzung des Internets eine derartig, technikbedingtes Gefährdungspotential bestehe, so das Bundesverfassungsgericht weiter, erstrecke sich der Schutzbereich des Art. 10 GG auch auf das "Surfen" bzw. Abrufen von Web-Seiten.[3] Der Bedeutungsinhalt des Grundrechts stehe der Interpretation des Landgerichts Ellwangen mithin nicht entgegen (Rn. 38). Mit diesen Feststellungen schließt das Bundesverfassungsgericht die Prüfung ab, ob aus verfassungsterminologischen Gründen eine einschränkende Auslegung des Begriffs Telekommunikation im Sinne des § 100a StPO geboten ist.
Das Bundesverfassungsgericht greift die Frage der Vereinbarkeit des § 100a StPO mit dem Grundgesetz jedoch in den Randnummer 42 ff. im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung erneut auf. Es bekräftigt zunächst, dass das abgestufte Regelungskonzept des Gesetzgebers für die strafprozessuale Datenerhebung und die im Gesetz festgeschriebene, auf den konkreten Tatvorwurf maßgeschneiderte Verhältnismäßigkeitsprüfung (Rn. 44), grundsätzlich verfassungskonform sind. Zudem verweist das Gericht auf die Regelung des § 100a Abs. 4 StPO, die den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung schützen solle (Rn. 45 f.). Diese, aus vorherigen Entscheidungen bekannten Ausführungen liefern den Grundstein für die Feststellung, dass auch bei Einbeziehung der Überwachung des Surfverhaltens in den Anwendungsbereich des § 100a StPO die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs grundsätzlich gewahrt sei. Dazu trifft der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts drei zentrale Aussagen:
Erstens, sieht es in der Überwachung des Surfverhaltens ein "quantitatives" Mehr zur klassischen Telekommunikationsüberwachung. Die dabei bestehende Gefahr einer Kenntnisnahme von höchstpersönlichen Informationen sei, anders als die Überwachung des Rückzugsbereichs der Wohnung, nicht "typusprägend" (Rn. 47). Das Bundesverfassungsgericht verweist, zweitens, darauf, dass die Löschungspflicht bei Erkenntnissen aus dem höchstpersönlichen Bereich, "der Erstellung eines umfassenden ‚Kommunikationsprofils’ vorbeugen kann" (Rn. 48). Drittens, sei die Ausgestaltung der Telekommunikationsüberwachung im konkreten Fall zu überprüfen und eine Beschränkung auf die klassische Telekommunikation in
Erwägung zu ziehen (Rn. 49). Aus verfassungsrechtlicher Perspektive sei eine Überwachung des Surfverhaltens über § 100a StPO daher im Grundsatz nicht zu beanstanden. Im konkreten Fall sei die Anordnung des Amtsgerichts Ellwangen verfassungsrechtlich nicht in Zweifel zu ziehen.
Zur Einordnung der Entscheidung: Die Schwiegermutter des Beschwerdeführers wurde entführt und anschließend tot in einem Waldstück aufgefunden. Die Strafprozessordnung eröffnet den Ermittlern bei Sachverhaltsaufklärungen zu §§ 211, 212 StGB stets das gesamte Repertoire der strafprozessualen Ermittlungsbefugnisse. Kaum einer würde daher bezweifeln, dass zur Überführung eines Mörders auch besonders eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahmen zulässig sind und selbst eine mehrmonatige Überwachung des Surfverhaltens als verhältnismäßig angesehen werden kann. Doch genau darin liegt die Krux. Hard cases make bad law. Es mag müßig sein, darüber zu spekulieren, wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hätte, wenn Hintergrund der Entscheidung "nur" Ermittlungen im Bereich der gewerbsmäßigen Urkundenfälschung oder ein Fall des Raubes (z.B. "Abziehen") gewesen wären; Straftaten bei denen der Gesetzgeber anders als bei Mord und Totschlag eine andere Abstufung der Ermittlungsbefugnisse vorgenommen hat und z.B. eine akustische Wohnraumüberwachung nach § 100c StPO stets für unzulässig erachtet. Der Blick auf eben diese Delikte muss zum Zwecke der Selbstkontrolle indes Ausgangspunkt jedweder Betrachtung sein, verstellt der Fokus auf die schwerwiegendsten Delikte doch den Blick auf die gesetzlich normierte Ausdifferenzierung der Ermittlungsbefugnisse in den §§ 100a ff. StPO. Betrachtet man das Regelungssystem der strafprozessualen Überwachungsmaßnahme, sprechen gute Gründe dafür, auch für die Überwachung des Surfverhaltens eine eigenständige Ermittlungsgrundlage zu verlangen und den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit der extensiven Auslegung des § 100a StPO mit Skepsis zu begegnen. Dazu im Einzelnen:
Dem Bundesverfassungsgericht ist beizupflichten, dass das Grundgesetz keine etymologischen Anhaltspunkte für eine einschränkende Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 100a StPO und des Merkmals "Telekommunikation" liefert. Es ist sowohl mit den Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes als auch mit Art. 10 GG vereinbar, den Begriff der "Telekommunikation" in einem technischen und nicht nur einem sozialen Sinn zu interpretieren. Für den Rechtsanwender ist jedoch entscheidend, dass das Grundgesetz vice versa auch nicht gegen eine einschränkende Auslegung des strafprozessualen Begriffs streitet. Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht – zur Verdeutlichung des hohen Schutzniveaus – als Prüfungsmaßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme das in Art. 10 GG normierte Fernmeldegeheimnis heranzieht, ist für die Bestimmung des Begriffs der "Telekommunikation" in § 100a StPO nicht maßgeblich. Aus der grundgesetzlichen Schutzbedürftigkeit folgt nicht die Notwendigkeit der extensiven Interpretation der Eingriffsmaßnahme.[4] Das Bundesverfassungsgericht enthält sich daher insoweit zu Recht jeder Aussage. Die Wortlautinterpretation ist nicht verfassungsrechtlich vorgeprägt. Die Bedenken gegenüber einer Ausweitung des § 100a StPO auf eine umfassende Datenerhebung via Mobilfunk- oder Internetanschluss sind dementsprechend nicht sprachlicher Natur.
Die Quintessenz der Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts ist der Hinweis auf das (nur) "quantitative" Mehr der Datenerhebung bei der Überwachung des Surfverhaltens und die damit einhergehende Negierung eines verfassungsrechtlichen Erfordernisses einer eigenständigen Rechtsgrundlage. Sieht man die Erhebung von Telefon- oder Internetdaten außerhalb des sozial-kommunikativen Kontextes als ein rein "quantitatives" Mehr an, so ist der bundesverfassungsgerichtliche Verweis auf die Notwendigkeit gerichtlicher Kontrolle und die dadurch ermöglichte Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall konsequent. Auch im Bereich der "klassischen" Telekommunikation kann der Rechtsanwender (Staatsanwaltschaft, Amtsgericht) den Umfang der Überwachung (z.B. Festnetz, Handy, Emails, Facebook-Kommunikation) in quantitativer Hinsicht steuern und situationsangemessen anpassen.
Die Annahme des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts, der Unterschied zwischen der Nutzung eines Telefon- oder Internetanschlusses zum Zwecke der "klassischen" Kommunikation (Telefonate, Voice-over-IP, Emails, Chats, Facebook-Nachrichten, etc.) und der Internetnutzung zum Zwecke des Surfens bzw. Aufrufens von Webseiten sei nur gradueller, quantitativer Natur, ist indes im höchsten Maße bedenklich.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts setzt sich konkret mit der Frage auseinander, ob Polizei und Staatsanwaltschaft über § 100a StPO den Abruf von HTML-Seiten (z.B. die Nutzung gängiger Internetbrowser) mitverfolgen und auswerten können. Die in der strafprozessualen Literatur diskutierte Unterscheidung zwischen sozial-kommunikativer Anschlussnutzung und einem technikorientierten Verständnis der "Telekommunikation" betrifft indes auch weitere Sachverhaltskonstellationen. Verfolgte man bei der Interpretation des § 100a StPO einen technischen Ansatz, würde dies die Einbeziehung des gesamten Datenaustauschs über den überwachten Anschluss zur Folge haben. Erfasst wären neben der Browsernutzung z.B. auch die Nutzung von Geolokalisierungsdiensten, internetbasierte Speichersysteme (Cloud) oder die mannigfaltigen Nutzungsdaten von Applikationen (Apps), die zum größten Teil die Internetverbindung verwenden, um auf die jeweiligen Benutzerdaten zurück-
zugreifen.[5] Mit der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung finden Speicherung und Datenverarbeitung oft nicht mehr lokal auf dem Endgerät statt sondern werden in einer ständigen Interaktion zwischen Endgerät und Servern outgesourct. Die Masse der auf diese Weise, bewusst oder unbewusst, ausgetauschten Daten könnte daher über § 100a StPO den Ermittlungsbehörden zugänglich gemacht werden. Diese Implikationen sind zwingend zu berücksichtigen, bevor die Tür zu einer extensiven Interpretation des Begriffs "Telekommunikation" geöffnet wird.
Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts stuft die Nutzung des Internets zum Zwecke des "Surfens" – implizit – als qualitativ gleichwertig ein. Dabei erkennen die Karlsruher Richter durchaus an, dass die Überwachung des Surfverhaltens logisch von der "klassischen" Kommunikation trennbar ist und daher zur Wahrung der Verhältnismäßigkeitsabwägung durch das zuständige Gericht von der Überwachungsanordnung ausgenommen werden kann und oftmals sogar sollte (Rn. 49). Der Senat sieht es trotz dieser Unterschiede nicht für erforderlich an, eine gesetzliche Ausdifferenzierung zu fordern. Dabei sprechen gewichtige Gründe dafür, die Erhebung von Daten, die nicht sozial-kommunikativer Natur sind, als eigenständigen, typusprägenden Grundrechtseingriff anzusehen.
Die Überwachung des Surfverhaltens – und ebenso die allgemeine "Internetüberwachung" – ist von der "klassischen" Telekommunikation wesensverschieden. Der Betroffene offenbart im Rahmen eines Telefonats, einer Email oder im Chat bewusst und freiwillig Wissen gegenüber einem Dritten. Er begibt sich damit freiwillig, wenn auch graduell des Schutzes der Privatsphäre. Die Nutzung des Internets zum Zwecke der reinen Informationsgewinnung ("Googlen", "Surfen", Nutzung von Navigationssystemen, etc.) beziehungsweise Unterhaltung (Fernsehen, Spiele, Apps) erfordert hingegen keine Interaktion mit Dritten und ist seiner Natur nach, wenn auch nicht immer dem Inhalt nach, privater. Sie ist dem Selbstgespräch und Tagebucheintrag näher als der sozialen Interaktion mit Freunden und Bekannten.[6]
Die Maßnahme unterscheidet sich auch in der Zielrichtung der Behörden. Während das Abhören des Telefons und der Emailkommunikation primär dem Einblick in den Meinungs- und Wissensaustausch zwischen Beschuldigten dient,[7] dient eine Internetüberwachung regelmäßig der Ermittlung der persönlichen Hintergründe und Vorlieben des Beschuldigten. Die Nutzung des Internet zu nicht sozial-kommunikativen Zwecken stellt mithin ein, von Art. 10 GG geschütztes, menschliches Verhalten eigener Art dar. Dieses lässt sich zwar nicht unmittelbar dem Schutzbereich eines der im Grundgesetz genannten Grundrechte zuordnen. Das hohe Schutzbedürfnis resultiert vielmehr aus dem Gefährdungspotential der Nutzung des von Dritten zur Verfügung gestellten Mediums "Internet", der Notwendigkeit des Schutzes des Persönlichkeitsrechts des auf Privatheit bedachten Nutzers sowie, beim automatisierten Datenaustausch zwischen Computer und Cloud, aus dem Erfordernis der Wahrung der Integrität eines über das Internet verbundenen, quasi als Einheit operierenden informationstechnischen Systems.[8] Trotz der vielfältigen grundrechtlichen Facetten stellt die nicht-kommunikative Telefon- oder Internetnutzung eine logisch abgrenzbare und verfassungsrechtlich besonders schützenswerte Persönlichkeitsentfaltung dar; sie ist typusprägend.
Das "Surfen" im Internet sowie weitere Formen der nicht sozial-kommunikativen Datennutzung über den Telefon- oder Internetanschluss unterscheiden sich nicht nur ihrer Natur nach von der "klassischen" Telekommunikation. Bei der (regelmäßig komplementären) Internetüberwachung werden massenhaft Daten generiert, die bei einer längeren Überwachung die Erstellung eines umfassenden Persönlichkeitsprofils erlaubt. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts führt insoweit aus:
"Denn der Masse der aufgerufenen Web-Seiten und eingegeben Suchbegriffen steht fragmentarischer Inhalt des einzelnen Abrufs beziehungsweise der einzelnen Informationsrecherche gegenüber. Es werden lediglich Einzelakte einer häufig nur sehr kurzen beziehungsweise wie gerade beim "Surfen" lediglich oberflächlichen Kommunikation zur Kenntnis genommen." (Rn. 47).
Diese faktische Einschätzung der Karlsruher Richter erscheint angesichts der Nutzungsgewohnheiten der modernen Gesellschaft – vor allem bei jungen Erwachsenen – in dieser Pauschalität jedoch fraglich. Dies gilt insbesondere, wenn man die für die Verfassungsgerichtsentscheidung nicht maßgebliche, gesamte Datennutzung über den Telefon- und Internetanschluss in den Blick nimmt, die bei einer technischen Interpretation durch eine Überwachungsanordnung nach § 100a StPO erfasst wäre. Zur Veranschaulichung: Nach der ARD/ZDF-Onlinestudie 2015 verbringen die Nutzer mobiler Endgeräte, wie z.B. Smartphones, im Durchschnitt täglich 158 Minuten im Internet. Davon wird (nur) rund ein Drittel zum Zwecke der Kommunikation genutzt.[9] Davon nicht
erfasst ist der automatisierte Datenaustausch zwischen Endgerät und Providern, der vielen Nutzern nicht einmal bewusst wird. Hinzukommt: Die inhaltliche Bandbreite der Nutzung ist vielfältig und keinesfalls stets "oberflächlich". Sie beinhaltet Gesundheit, Politik, Religion ebenso wie einfache Unterhaltung. Da die Internetnutzung – anders als die "klassische" Kommunikation – fast sämtliche Bereiche des sozialen Lebens betrifft, eignet sich die Überwachung des Internets besonders zur Erstellung umfassender Persönlichkeitsprofile.[10] Selbst aus für sich genommen fragmentarischen Informationen kann ein Mosaik konstruiert werden, dass Aufschluss über Gewohnheiten und Vorlieben aus allen Lebenslagen zu geben vermag.
Gerade wegen der (vermeintlich) geringen Aussagekraft einzelner Informationen greifen die Löschungspflichten des § 100a Abs. 4 StPO nur im Ausnahmefall.[11] Ein umfassendes Persönlichkeitsprofil kann auch erstellt werden, ohne dass die jeweils dafür verwendeten Einzeldaten dem Kernbereich privater Lebensgestaltung unterfallen. Hinzukommt, dass die in § 100a Abs. 4 StPO postulierte Löschungspflicht den Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen nur abmildert und nicht verhindert. In der Wahrnehmung der kernbereichsrelevanten Daten liegt ein eigenständiger Grundrechtseingriff. Derartige Grundrechtsbeeinträchtigungen sind bei der Überwachung der, aus der Sicht des Betroffenen anonymen Internetnutzung deutlich wahrscheinlicher (z.B. Selbstdiagnose von Krankheiten[12], Pornographie[13]). Die drohenden Grundrechtsbeeinträchtigungen im Rahmen der Internetüberwachung sind mithin regelmäßig schwerwiegender und über die Löschungspflicht des § 100a Abs. 4 StPO nur teilweise abgemildert.
Das Bundesverfassungsgericht verdient besonderes Lob für die Aufforderung an die Fachgerichte, im Rahmen der Einzelfallabwägung eine Abstufung der Eingriffstiefe vorzunehmen und den Umfang eines § 100a-Beschlusses genau festzulegen. Die Erfahrungen aus der Praxis lehren indes, dass Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte die technische Umsetzung von Ermittlungsmaßnahmen im Allgemeinen nur unzureichend vorgeben und damit Unklarheit über die konkrete Ausgestaltung schaffen. Dies erschwert den Rechtsschutz des Betroffenen und führt nicht selten zu Verzögerungen durch gerichtliche Nachprüfungsverfahren (Anträge auf gerichtliche Entscheidung gem. § 98 Abs. 2 S. 2 analog, Beschwerden)[14] im Ermittlungsverfahren. Die Fülle an Jurisprudenz des Bundesverfassungsgerichts zu strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen zeigt zudem ebenfalls, dass der fachgerichtliche Rechtsschutz, u.a. bedingt durch mangelnde Ressourcen für die deutsche Justiz, keine Gewähr für einen effektiven Grundrechtsschutz durch Verfahren bietet. Die stetig wachsende Zahl der Telekommunikationsüberwachungsanordnungen und die Praxis des Richtervorbehalts lassen eine Einhegung der Überwachung durch die beteiligten Gerichte nur bedingt erwarten.[15]
Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die sich durch das Verfahren des Landgerichts Ellwangen bietende Chance nicht genutzt, Praktikern und Legislative die Notwendigkeit einer Gesetzesnovellierung deutlich vor Augen zu führen. Zustimmung verdienen die Richter zu der Feststellung, dass die Verfassung aus terminologischer Sicht keine Interpretation des Begriffs "Telekommunikation" im Sinne des § 100a StPO vorschreibt. Ebenso verdient der Aufruf an die Fachgerichte zur Ausdifferenzierung von Überwachungsanordnungen Zuspruch. Es ist zu hoffen, dass diese Mahnung der Karlsruher Richter in der Praxis Gehör findet. Bedauerlich ist indes, dass der Senat die von ihm konstatierte Unterschiedlichkeit von Kommunikation im sozialen Sinne und der Internetnutzung zum Zwecke des "Surfens" nicht mit dem verfassungsrechtlichen Auftrag zur Schaffung einer eigenständigen Eingriffsgrundlage verbunden hat. Die Überwachung der Internetnutzung ist ein Grundrechtseingriff eigener Art und erfordert insbesondere aufgrund der gesteigerten Eingriffsintensität eine eigenständige strafprozessuale Grundlage.[16] Nur mittels Normierung restriktiver Anwendungsvoraussetzungen kann gewährleistet werden, dass umfassende Überwachungsanordnungen – die mit der Entstehungsidee des § 100a StPO und dem vergleichsweise umfassenden Straftatenkatalog des Abs. 2 nicht in Einklang zu bringen sind[17] – auch unter dem Zeit- und Kostendruck der Praxis nur in Ausnahmefällen erfolgen. Rechtsprechung und Gesetzgeber sind dringend aufgefordert, der extensiven Interpretation des § 100a StPO effektive Grenzen zu setzen.
[1] Zum aktuellen Meinungsstand in der Literatur siehe Hiéramente/Fenina StraFo 2015, 365, 370, Fn. 56. Siehe ferner Günther, in: MüKo, StPO (2014), § 100a Rn. 26 ff.
[2] Vgl. auch die allgemeinen Ausführungen in Rn. 40 des Beschlusses.
[3] Zum Verhältnis zwischen Art. 10 GG und § 100a StPO vgl. auch Günther, in: MüKo, StPO (2014), § 100a Rn. 33 ff. m.w.N.
[4] Siehe dazu bereits Hiéramente/Fenina StraFo 2015, 365, 371.
[5] Die Thematik möglicher Verschlüsselungen sowie Schwierigkeiten der Datenrekonstruktion sollen hier ausgeklammert werden.
[6] Eine rechtliche Gleichsetzung mit Selbstgespräch oder Tagebucheintrag ist wegen der oft fehlenden Bezügen zum Kernbereich der privaten Lebensgestaltung nicht per se geboten. Es bestehen im Rahmen der Abwägung indes Überschneidungen, weil seitens des Internetnutzenden keine Kenntnisnahme durch Dritte erwartet wird. Zu den verschiedenen Vorschlägen hinsichtlich der notwendigen Abwägungsvorgaben siehe Wolter/Greco, in: SK-StPO, 5. Aufl. (2016), § 100a Rn. 31a m.w.N.; Meinicke DSRITB 2013, 967, 971 ff.
[7] Dazu ausführlich Hiéramente/Fenina StraFo 2015, 365, 369 f.
[8] Insbesondere wegen der umfassenden Externalisierung der Datenverarbeitung über die überwachte Datenschnittstelle sind die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur (präventiven) Online-Durchsuchung instruktiv, vgl. BVerfG NJW 2006, 822.
[9] Abrufbar unter: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/.
[10] Braun jurisPR-ITR 18/2013 Anm. 5.
[11] Zu den Anforderungen an die Löschungspflicht vgl. Günther, in: MüKo, StPO (2014), § 100a Rn. 110 ff.
[12] Vgl. zur praktischen Relevanz den Bericht der Ärzte Zeitung Online v. 13. Juni 2016, abrufbar unter: http://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/special-arzt-patient/article/913353/umfrage-zeigt-dr-google-setzt-aerzte-druck.html.
[13] Zur Bedeutung der Internetpornografie im deutschen Alltag vgl. den Bericht des Stern, Deutsche lieben Porno-Seiten, v. 31. Juli 2014, abrufbar unter: http://www.stern.de/digital/online/internetnutzung-deutsche-lieben-porno-seiten-3365814.html.
[14] Zum Rechtsschutz gegen Telekommunikationsüberwachung siehe Meyer-Mews StraFo 2016, 133, 140 f.
[15] Dazu ausführlich Gercke StraFo 2014, 94; Meyer-Mews StraFo 2016, 133, 136.
[16] Ebenso die wohl hM, vgl. u.a. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 56. Aufl. (2016), § 100a Rn. 7d; Wolter/Greco, in: SK-StPO, 5. Aufl. (2016), § 100a Rn. 31a; Albrecht/Braun HRRS 2013, 500, 502; Meinicke DSRITB 2013, 967, 970 f.; Braun jurisPR-ITR 18/2013 Anm. 5; Albrecht, jurisPR-ITR 14/2013 Anm. 4; Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet (2012), C 107; Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. (2015), S. 358. Kritisch insbesondere Bär, in: KMR-StPO, 70. EL (2012), § 100a Rn. 11a.
[17] Siehe auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 56. Aufl. (2016), § 100a Rn. 7d; Albrecht/Braun HRRS 2013, 500, 506.