HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2016
17. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Kleine Ursache, große Wirkung – 1. FiMaNoG eliminiert Strafbarkeit nach WpHG

Von RA Dr. Manuel Lorenz, RA Johannes Zierden, Wiesbaden[*]

I. Einführung

"Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?"[1] Dieses Zitat ist grundlegend sowie charakterisierend für den sogenannten "Schmetterlingseffekt", wonach in komplexen Systemen eine große Empfindlichkeit auf kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen besteht.[2] Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass kleine Ursachen zuweilen große Auswirkungen haben können. Dass diese Grundaussage nicht nur in der Natur-, sondern auch in der Rechtswissenschaft für sich Geltung beanspruchen kann, zeigt sich derzeit am Beispiel der Novellierung des Wertpapierhandelsgesetzbuches (WpHG) sowie der Implementierung der Marktmissbrauchsverordnung (MAR)[3]

als europäische Bezugs- und Ausfüllungsmaterie der nationalen Sanktionsvorschriften des WpHG in dessen neuer Form.

Auf die risikoträchtigen Unstimmigkeiten in diesem Gesetzgebungsprozess und insbesondere deren rechtliche Auswirkungen hatte Rothenfußer bereits in seinem einseitigen Gastbeitrag in der Börsen-Zeitung vom 7. Juli 2016 hingewiesen[4]. Nach seiner Auffassung gäbe es einen kleinen, aber folgenschweren zeitlichen Lapsus in der Umsetzung beider Rechtsmaterien, welcher dazu führe, dass unter Geltung des strafrechtlichen Meistbegünstigungsgrundsatzes des § 2 Abs. 3 StGB für einen Tag, namentlich am 2. Juli 2016, eine "Ahndungslücke" für Kapitalmarkstraftaten wie beispielsweise Marktmanipulation und Insiderhandel bestanden habe, in deren rechtlicher Folge alle WpHG-relevanten, bislang noch nicht rechtskräftig abgeurteilten Taten im Tatzeitraum vor dem 3. Juli 2016, die von der Novellierung betroffen waren, als straflos anzusehen seien.

Durch diesen Beitrag wurde die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) auf den Plan gerufen. Noch am 8. Juli 2016 veröffentlichte sie einen Artikel[5], der die aufgezeigte Gesetzeslücke allerdings nicht zu schließen vermochte. Nach der Auffassung der BaFin sei das zeitliche Auseinanderfallen von MAR und 1. FiMaNoG kein gesetzgeberisches Versehen, sondern eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers. Darüber hinaus sei auch ansonsten keine Strafbarkeitslücke gegeben, da die MAR als solche schon im Jahre 2014 in Kraft getreten sei.

Die nachstehenden Ausführungen werden zeigen, dass die "Generalamnestie" im Kapitalmarktstrafrecht für Taten vor dem 3. Juli 2016 zwingend ist und der besagte Schmetterling also tatsächlich auch auf dem Gebiet des Kapitalmarktstrafrechts einen Orkan auslösen wird.

II. Gesetzgebungsgeschichte WpHG (n.F.)/ MAR

Während die europäische Marktmissbrauchsverordnung an sich schon seit dem 2. Juli 2014 in Kraft getreten ist und große Teile der Verordnung auch schon ab diesem Zeitpunkt für sich Geltung beanspruchen konnten (Art. 39 Abs. 1, 2 a. E. MAR)[6], gelten die für das Kapitalmarkstrafrecht zentralen Bestimmungen der europäischen Missbrauchsverordnung, insbesondere Art. 14 MAR, auf den beispielsweise der Tatbestand des (vorsätzlichen) Insiderhandels gemäß § 38 Abs. 3 WpHG n.F. nunmehr blankettartig verweist, erst seit dem 3. Juli 2016, vgl. Art. 39 Abs. 2 MAR. Hierdurch werden unter anderem die bisher (nur) im nationalen Recht verankerten Bestimmungen des Insider- und Marktmissbrauchsrechts[7] in EU-weit unmittelbar anwendbares[8] europäisches Recht überführt. Die Ausgestaltung der konkreten Sanktionen für Verstöße bleibt zwar weiterhin originär dem nationalen Gesetzgeber überlassen, allerdings enthalten die MAR und die begleitende EU-Richtlinie MAD[9] hierfür nähere Vorgaben, die von den Mitgliedstaaten – also auch Deutschland – bis zum 3. Juli 2016 umzusetzen waren, vgl. Art. 39 Abs. 3 MAR.

In Deutschland erfolgte die Umsetzung dieser europäischen Rechtsakte durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz (1. FiMaNoG).[10] Es hebt in den nun unmittelbar durch die MAR geregelten Bereichen des Kapitalmarktrechts die bisherigen nationalen Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes auf. Außerdem stellt es die zugehörigen Straf- und Bußgeldvorschriften, die bisher einzig an Verstöße gegen Vorschriften des nationalen Rechts angeknüpft hatten, auf die entsprechenden Vorschriften der MAR um und überführt überdies die sonstigen europäischen Vorgaben zur Neuregelung des straf- und ordnungsrechtlichen Sanktionsregimes in die Rechtswirklichkeit. Diese kapitalmarkt(straf)rechtlichen Änderungen, insbesondere §§ 3839 WpHG n.F., sind – aufgrund ausdrücklicher Anordnung im 1. FiMaNoG – bereits am 2. Juli 2016 in Kraft getreten, vgl. Art. 17 Abs. 1 FiMaNoG. Ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfes, hier insbesondere S. 93 der BT-Drs. 19/16 sowie S. 80 der BT-Drs. 18/7482 (jeweils: "treten zum 2. Juli 2016 und damit zum in diesen Rechtsakten bestimmten Anwendungszeitpunkt in Kraft"), ging der Gesetzgeber offenbar fälschlicherweise davon aus, dass die maßgeblichen Vorschriften der MAR und der zugehörigen Richtlinie bereits zum 2. Juli 2016 erstmals anzuwenden bzw. bis dahin umzusetzen seien.

Insofern verfängt auch nicht der Einwand des BaFin, wonach das zeitliche Auseinanderfallen kein Versehen des deutschen Gesetzgebers darstelle, sondern das Inkrafttreten des 1. FiMaNoG am 2. Juli 2016 vor dem Hintergrund des Bestandsschutzes in Art. 30 Abs. 1

Unterabs. 2 MAR angeblich bewusst gewählt worden sei.[11] Denn zum einen findet sich weder in dem finalen Gesetzesbeschluss noch in den vorgelagerten Gesetzentwürfen ein solcher expliziter bzw. auch nur angedeuteter Verweis auf einen etwaigen europäischen Bestandsschutz oder ein Hinweis bzw. gar eine Begründung für das angeblich bewusst gewählte zeitliche Auseinanderfallens beider Regelungsmaterien gerade vor dem Hintergrund eines solchen Bestandsschutzes. Zum anderen wäre – selbst bei Annahme eines bewussten Auseinanderfallens – immer noch objektiv eine zeitliche Divergenz zwischen MAR und 1. FiMaNoG zu verzeichnen, die nicht allein durch rein subjektive Erwägungen "geheilt" werden könnte. Überdies betrifft Art. 30 MAR, auf den die BaFin in ihrer Argumentation maßgeblich verweist, nur die Sanktions- bzw. Rechtsfolgenebene, nicht aber die hier vorliegend relevante Tatbestandsebene von Strafnormen, die mit dem nunmehrigen Verweis der nationalen WpHG-Vorschriften auf die europäische, gerade tatbestandsausfüllende MAR-Materie aber betroffen ist.

Damit ergeben sich für die MAR als tatbestandsausfüllende Rechtsmaterie drei besondere und zu trennende Stichtage: Erstens der 12. Juni 2014, an dem die MAR im Amtsblatt der europäischen Union verkündet wurde, zweitens der 2. Juli 2014, ab dem die MAR in Kraft getreten war (Art. 39 Abs. 1, 2 a.E. MAR), sowie schließlich drittens der 3. Juli 2016, an dem die vorliegend für den Bereich der Kapitalmarkstraftaten relevanten Regelungen überhaupt erst zur Anwendung gelten sollen (Art. 39 Abs. 2 MAR).

Das 1. FiMaNoG und dessen Abweichung von der Zeitschiene der MAR könnten demnach dazu führen, dass es in den ersten drei Julitagen 2016 entgegen der Auffassung der BaFin möglicherweise drei verschiedene Regelungszustände gegeben hat. Bis einschließlich zum 1. Juli 2016, 23:59:59 Uhr, galt die alte Rechtslage, das WpHG a.F. in seiner bisherigen Gestalt, wie es auch zu den Tatzeitpunkten vor diesem Tag im Sinne des § 2 Abs. 1 StGB galt. Nur am 2. Juli 2016 von 00:00 Uhr bis einschließlich 23:59:59 Uhr verwiesen die neuen §§ 38, 39 WpHG ins Leere, weil die Ausfüllungsnormen noch nicht "gelten" sollten, was zu der in Rede stehenden Straf- bzw. Ahndbarkeitslücke geführt haben könnte. Ab dem 3. Juli 2016, 00:00 Uhr, sind die Bezugsnormen in der MAR vollwertige materielle Ausfüllungsnormen für die Rahmensanktionsvorschriften des WpHG n.F. und eine Gesetzeslücke besteht unbestrittenermaßen zumindest ab diesem Zeitpunkt nicht (mehr).

Für die Beurteilung der bislang noch nicht rechtskräftig abgeurteilten Taten im Tatzeitraum vor dem 3. Juli 2016 ist mithin also entscheidend, ob die neuen §§ 3839 WpHG tatsächlich am 2. Juli 2016 ins Leere verwiesen haben, weil die entsprechenden Artikel der MAR rechtlich noch keine tauglichen bzw. brauchbaren Ausfüllungsnormen waren. Nur dann hätte es nämlich tatsächlich für einen Tag eine Gesetzeslücke gegeben, die wegen des Meistbegünstigungsgrundsatzes gemäß § 2 Abs. 3 StGB maßgeblich für die straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Beurteilung der entsprechenden Taten wäre.

III. Der Meistbegünstigungs-grundsatz des § 2 Abs. 3 StGB

Gerade vor dem Hintergrund dieser zeitlichen Divergenzen in MAR und 1. FiMaNoG ist vorliegend das entscheidungsrelevante Potenzial des § 2 Abs. 3 StGB zu sehen. Bei drei unterschiedlichen Regelungszuständen besteht die Möglichkeit, dass ein Regelungszustand milder ist als die anderen ist und damit als "mildestes Gesetz" nach § 2 Abs. 3 StGB "den Ton angibt".

Denn nach dem sogenannten "Meistbegünstigungsprinzip"[12], dem strafrechtlichen "lex mitior"-Grundsatz,[13] ist nach § 2 Abs. 3 StGB bei täterbegünstigenden materiellen Gesetzesänderungen zwischen Beendigung der Tat und der rechtskräftigen, also endgültigen Entscheidung in der Sache das jeweils mildeste Gesetz als Ganzes anzuwenden, also nicht bloß der mildere Strafrahmen,[14] das zwischen Ausführung der Tat und der Entscheidung darüber gilt oder gegolten hat, sei es auch nur vorübergehend.[15] Unter dem Begriff des Gesetzes sind hierbei sämtliche Voraussetzungen des "Ob" und des "Wie" der Strafbarkeit (einschließlich europarechtlicher Vorgaben) zu verstehen.[16] Das bedeutet u.a., dass nicht nur Strafnormen vom Begriff "Gesetz" erfasst werden, sondern auch außerstrafrechtliche Bezugsnormen; insbesondere also bei Blanketttatbeständen auch die blankettausfüllenden Normen,[17] wie dies vorliegend auf die tatbestandsausfüllenden Vorgaben der MAR für die WpHG-Sanktionsnormen zutrifft.

Das mildeste Gesetz ist dabei dasjenige, das für den konkreten Täter im konkreten Fall am günstigsten ist, wobei eine konkrete Betrachtungsweise vergleichbar der urteilsimmanenten Strafzumessung vorzunehmen ist und sich die Betrachtung nicht auf einen (bloß) abstrakten Vergleich der Tatbestände und Strafandrohungen erschöpfen darf.[18] Auch kann das mildere Gesetz darin bestehen, dass das alte Gesetz ersatzlos aufgehoben worden ist.[19] Am mildesten ist daher insbesondere ein Gesetz, nach dem die Tat – sei es auch nur zeitweilig – straflos ist.[20]

Die inhaltliche "Änderung" einer Strafnorm ist nichts anderes als die Aufhebung einer existierenden und die Einführung einer neuen Norm ("lex posterior derogat

legi priori").[21] Die "Aufhebung einer existierenden Norm" erfolgte vorliegend durch die Aufhebung der entsprechenden WpHG Vorschriften zum 2. Juli 2016, 00:00 Uhr. Entscheidend ist somit allein, wann mit Blick auf die MAR die "Einführung einer neuen Norm" stattfand, also ab wann die entsprechenden Artikel der MAR tatsächlich taugliche Ausfüllungsnormen waren.

Dies hängt maßgeblich davon ab, an welchen Zeitpunkt der Verordnungsgeber der MAR, also die Europäische Union (EU), angeknüpft hat. In Betracht kommen die Zeitpunkte der Existenz, der Geltung oder der Anwendbarkeit der MAR als den wesentlichen Stationen des Normwerdungsprozesses.

Mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens beginnt grundsätzlich die Außenwirksamkeit, d.h. die Geltung einer Rechtsregel innerhalb der Rechtsordnung.[22] Davon sind jedoch Existenz und Anwendbarkeit des Gesetzes streng zu unterscheiden. Existent ist das Gesetz schon mit seiner Verkündung in dem jeweiligen Verkündungsmedium, also auf nationaler Ebene in dem Bundesgesetzblatt (BGBl.) oder auf europäischer Ebene in dem Amtsblatt der Europäischen Union (ABl.).[23] Der Zeitpunkt, der für die konkrete Anwendbarkeit des Gesetzes festgelegt wird, kann vom Zeitpunkt des abstrakten Inkrafttretens abweichen und beschreibt die Verbindlichkeit und Relevanz der Norm im konkreten Einzelfall sowohl für den Normunterworfenen als auch für den Normanwender, der eine (u.U. sanktionierungswürdige) Verletzung dieser Norm durch den Normunterworfenen festzustellen hat.[24]

IV. Regelungszustand am 2. Juli 2016 als mildestes Gesetz

Die nachfolgende Betrachtung des Verordnungstextes wird ergeben, dass erst der Blick in die offiziellen Amtssprachen den eindeutigen Willen des Europäischen Verordnungsgebers erkennen lässt.

1. Deutscher Verordnungstext des Art. 39 Abs. 1 und 2 MAR

Der deutsche Verordnungstext verwendet in Art. 39 Abs. 1 einerseits die Begrifflichkeit "Inkrafttreten" und andererseits in Art. 39 Abs. 2 den Terminus der "Geltung".

Auf Grundlage der deutschen Übersetzung der Verordnung existierte die MAR mit ihrer Verkündung im Amtsblatt der europäischen Union seit dem 12. Juni 2014, sie trat in Kraft am 2. Juli 2014 (Art. 39 Abs. 1, 2 a.E MAR) und einzelne Regelungen der MAR, insbesondere die für den Insiderhandel und die Marktmanipulation wesensrelevanten Materien, sollten erst ab dem 3. Juli 2016 gelten.

Die in der deutschen Version des Verordnungstextes genutzten Begriffe "gelten" und "Inkrafttreten" sind jedoch rechtsdogmatisch synonym und in ihrem Bedeutungsgehalt identisch. Die getrennte Aufführung ist somit rechtlich bedeutungslos. Dementsprechend ist ein Blick in die MAR-Versionen in den offiziellen Amtssprachen der EU, also Englisch und Französisch, geboten.

2. Offizielle Amtssprachen – englische und französische Textversion der MAR

Ein Blick in die Originalfassungen der MAR in Englisch und Französisch als offiziellen Amtssprachen der Europäischen Union zeigt ein präziseres Bild.

In der englischen Sprache werden in Art. 39 Abs. 1 MAR die Begriffe "enter" bzw. "entry into force" verwandt, was nach unserem deutschen Rechtsverständnis dem Inkrafttreten und damit synonym der Geltung der Regelung entspricht.[25] Demgegenüber wird in Absatz 2 des Art. 39 MAR bezüglich der abweichenden Invollzugsetzung einzelner Regelungen der MAR der Begriff des "apply" bzw. "application" verwendet, der im Deutschen mit "anwenden" bzw. "Anwendung" zu übersetzen ist.[26] Selbige Bedeutungsunterschiede ergeben sich auch in der französischen Version durch die Begrifflichkeiten "entre en vigueur" bzw. "entrée en vigueur" einerseits und "applique" bzw. "application" andererseits. Diese sprachlichen Nuancen, welche die deutsche MAR-Version übergeht, werden also durch die beiden Originalsprachen herausgearbeitet.

Damit hat der nationale Gesetzgeber seiner Gesetzgebung eine technisch unpräzise Übersetzung der Begrifflichkeiten zugrunde gelegt, was einer der Ursprünge des Übels war.

Die Einfügung dieser technisch korrekten Begrifflichkeiten in das deutsche Wortverständnis hinsichtlich einer Gesetzesänderung kommt demgegenüber zu dem Ergebnis, dass die MAR zwar auch bereits schon mit ihrem Inkrafttreten am 2. Juli 2014 galt. Die nicht einzeln und abschließend in Art. 39 Abs. 2 MAR aufgezählten Artikel und Absätze und damit die für den Insiderhandel und die Marktmanipulation maßgeblichen Artikel sollten aber erst ab dem 3. Juli 2016 Anwendung finden.

Auf Grundlage der offiziellen Amtssprachen stehen sich also nicht die Begriffe "Inkrafttreten" und "Geltung" gegenüber, die synonym verwandt werden und denen demnach keine unterschiedlichen rechtlichen Bedeutungen zukommen. Vielmehr wurden der Begriff "Inkrafttreten" und damit dessen Synonym "Geltung" einerseits und der Begriff der "Anwendung" andererseits verwandt. Diesen Begrifflichkeiten kommt mit Blick auf die bekannte Thematik gerade vor dem Hintergrund des Anwendungs- und Geltungsvorranges des Unionsrechts auch

eine genau definierte Bedeutung innerhalb der nationalen und europäischen Rechtsordnung zu.

3. Der Anwendungs- und Geltungsvorrang von Gesetzen

Nachdem die offiziellen Amtssprachen der Europäischen Union die Begriffe der "Geltung" und der "Anwendung" als Rechtsfolge für die jeweiligen Zeitpunkte zutage gefördert haben, die sich so in der deutschen Übersetzung nicht wiederfinden, gilt es nun, diese – eigentlich gewollten, aber objektiv falsch bezeichneten – technischen Begriffe in das bekannte Regelungsgefüge des Europäischen Strafrechts einzuordnen.

a) Der unionsrechtliche Anwendungs-, nicht Geltungsvorrang

Kommt es zwischen Unionsrecht und nationalem Recht zu einer Kollision, weil sowohl unmittelbar anwendbares Unionsrecht und nationales Recht denselben Lebenssachverhalt unterschiedlich regeln, genießt das Unionsrecht gegenüber dem nationalen Recht nach der Rechtsprechung des EuGH[27] sowie der deutschen Rechtsprechung[28] keinen Geltungs-, sondern lediglich einen Anwendungsvorrang. Das kollidierende nationale Recht bleibt mithin weiter wirksam; es ist lediglich unanwendbar.[29] Aufgrund dieser anerkannten Kollisionsregelung sind dem Regelungsgefüge von europäischem und nationalem Recht die Begrifflichkeiten von "Geltung" und "Anwendung" sehr wohl bekannt und mit einer klar definierten Bedeutung besetzt.

b) Hier: "Umgekehrter" Anwendungsvorrang

Dieses Verständnis der Begriffe von "Anwendung" und "Geltung" wird der Europäische Verordnungsgeber in Kenntnis deren Anerkennung auch der MAR zugrunde gelegt haben; ganz im Gegenteil zum nationalen Gesetzgeber im Rahmen des 1. FiMaNoG.

Insoweit hat der europäische Verordnungsgeber in Art. 39 MAR einen "umgekehrten" Anwendungsvorrang angeordnet. Umgekehrt ist der Anwendungsvorrang deshalb, weil eigentlich dem Unionsrecht gegenüber dem nationalen Recht ein Anwendungsvorrang zukommt und nicht – wie hier – das nationale Recht der europäischen Rechtsmaterie normhierarchisch vorgehen soll. Anders als in den sonstigen Fällen, in denen die nationalen Vorschriften im Kollisionsfalle – trotz fortdauernder Geltung – nicht zur Anwendung gelangen, hat im Fall der MAR-Einführung der Europäische Verordnungsgeber dieses Mal das Europäische Recht bewusst zurückgenommen und die MAR – trotz ebenso schon bestehender Geltung – teilweise ausdrücklich erst ab dem 3. Juli 2016 zur Anwendung kommen lassen. Auch das 1. FiMaNoG war zu diesem Zeitpunkt schon anwendbar und verwies auf die MAR.

Mit Blick auf den englischen und französischen Verordnungstext hat der Europäische Verordnungsgeber damit bestimmt, dass die MAR am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft tritt, ihr also technisch Geltung zukommt, Art. 39 Abs. 1 MAR. In Art. 39 Abs. 2 hingegen hat er festgelegt, dass die für das Kapitalmarkstrafrecht maßgeblichen Normen der MAR erst ab dem 3. Juli 2016 anwendbar sein soll (im Deutschen technisch unpräzise übersetzt mit "gilt ab dem 3. Juli 2016"). Nur die abschließend aufgezählten Artikel bzw. Absätze sollen bereits ab dem 2. Juli 2014 anwendbar sein (im Deutschen ebenfalls technisch unpräzise übersetzt mit "die ab dem 2. Juli 2014 gelten").

Damit wollte der europäische Gesetzgeber die Anwendbarkeit der strafrechtsrelevanten Normen seiner MAR explizit erst ab dem 3. Juli 2016. Dies hat er expressis verbis auch so in Art. 39 Abs. 2 MAR zum Ausdruck gebracht.

Würde man nun aber sämtliche Artikel der MAR – wie mit der Argumentation der BaFin zur Verhinderung einer Strafbarkeitslücke bezweckt – schon ab dem 2. Juli 2016 anwenden, würde dies dem ausdrücklichen Willen des Verordnungsgebers widersprechen. Denn der Zeitpunkt des 3. Juli 2016 ist nicht nur für die Anwendbarkeit der MAR, sondern zugleich auch für die Umsetzung der sie begleitenden Richtlinie Marktmissbrauchsrichtlinie (MAD)[30] von herausragender Bedeutung. Gemäß Art. 13 MAD waren die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften bis spätestens dem 3. Juli 2016 zu erlassen und zu veröffentlichen, um den Vorgaben der MAD nachzukommen. Folglich sind (spätestmöglicher) Umsetzungszeitpunkt der MAD und Zeitpunkt der universalen Anwendbarkeit der MAR zum 3. Juli 2016 bewusst durch den europäischen Gesetzgeber aneinander gekoppelt. Während die MAR die nationalen Tatbestände ausfüllen soll, enthält die MAD Vorgaben für die rechtsfolgenrelevante Sanktionsausgestaltung, so dass sich beide Regelungsmaterien erst zusammen inhaltlich ergänzen und komplettieren. Mit der Argumentation der BaFin jedoch, wonach die MAR aber schon zum 2. Juli 2016 tatbestandsausfüllend galt und somit einer Straflosigkeit unter dem Gesichtspunkt des § 2 Abs. 3 StGB angeblich entgegenstand, hätte man jedoch einen weiteren zeitlichen Lapsus, diesmal zwischen MAR und MAD, geschaffen. Denn die Mitgliedsstaaten hatten einen explizit von europäischer Seite zugestandenen Umsetzungsspielraum der Richtlinie bis zum 3. Juli 2016, also bis zum Auflauf der benannten Umsetzungsfrist. Dieser war auch durch die Mitgliedstaaten auszufüllen, da Richtlinien – als maßgebliches Unterscheidungskriterium zu einer Verordnung – gerade grundsätzlich keine unmittelbare Bindungswir-

kung zukommt, sondern zu ihrer Wirksamkeit nationale Umsetzungsakte notwendig sind.[31]

V. Ergebnis

Das vorliegende Dilemma aus Sicht des Staates gründet sich einzig auf Fehler des nationalen Gesetzgebungsverfahrens und ist erneut ein Indiz dafür, dass der deutsche Gesetzeber durch Schnellschüsse oder unausgereiftes Handeln mehr Probleme verursacht als er durch dieses Wirken behebt. Wenngleich auch dieses Ergebnis den staatlichen Strafverfolgungsbehörden als praktisch unbillig erscheinen mag, ist dieses doch die rechtlich zwingende Konsequenz aus dem dargebotenen Gesetzgebungsvorgang.

Diese zeitliche Inkoinzidenz von MAR und 1. FiMaNoG hat zur Folge, dass es am 2. Juli 2016 in Deutschland für einen Tag unter anderem kein Verbot der Marktmanipulation und des Insiderhandels gab. Denn die entsprechenden Vorschriften des (alten) WpHG waren hier bereits durch das 1. FiMaNoG aufgehoben und die (neuen) Vorschriften der MAR noch nicht anwendbar. Gleiches galt für die zugehörigen Straf- und Bußgeldvorschriften des WpHG, die an diesem Tag auf noch nicht anwendbare Vorschriften der MAR und damit ins Leere verwiesen. Auch wenn diese "Strafbarkeits- bzw. Ahndungslücke" nur für einen Tag bestand, hat diese unter Beachtung des § 2 Abs. 3 StGB weitreichende rechtliche Folgen. Denn gerade in solchen Fällen wie dem vorliegenden, in denen das maßgebliche Gesetz nach der Tat geändert wird, ist einer Entscheidung im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht das jeweils mildeste Gesetz zugrunde zu legen (§ 2 Abs. 3 StGB bzw. § 4 Abs. 3 OWiG). Ist zu einem Zeitpunkt zwischen Tat und letzter Entscheidung die Strafandrohung gänzlich entfallen, so ist dies das mildeste Gesetz. Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auch dann, wenn die "Strafbarkeits- bzw. Ahndungslücke" – wie hier – auf einem gesetzgeberischen Versehen beruht.[32]


[*] Die Autoren sind Rechtsanwälte in der auf das Wirtschaftsstrafrecht spezialisierten Kanzlei DIERLAMM Rechtsanwälte in Wiesbaden.

[1] Edward N. Lorenz, Predictability: Does the flap of a butterfly´s wings in Brazil set off a tornado in Texas?, Titel des Vortrags im Jahr 1972 während der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Sciene, laut Science 320 (2008), S. 431.

[2] Vgl. https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/fachbereich_physik/didaktik_physik/publikationen/falter_chaosphysik.pdf.

[3] Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission, ABl. L 173 vom 12. Juni 2014, S. 1.

[4] Rothenfußer , Generalamnestie im Kapitalmarkrecht?, Börsen-Zeitung 2016, Ausgabe 128, S. 13; im Internet frei abrufbar unter: https://www.dirk.org/dirk_webseite/static/uploads/160707_B%C3%B6rsen-Zeitung_Generalamnestie%20im%20Kapitalmarktrecht.pd f; nach Abgabe des Manuskripts erschienen: Rothenfußer/Jäger, Generalamnestie im Kapitalmarktrecht durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz, NJW 2016, 2689.

[5] http://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Pressemitteilung/2016/pm_160708_bz_keine_ahndungsluecke.html (letzter Abruf 23. August 2016).

[6] Der in Art. 39 Abs. 1 MAR bezeichnete Zeitpunkt des Inkraftretens, wonach die Verordnung am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft treten sollte, stimmt insoweit mit schon in Art. 39 Abs. 2 a.E. MAR vorgenommenen Datierung des Gesetzgebers auf den 02. Juli 2014 überein, da die Verordnung schon unter dem 12.06.2014 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, vgl. ABl. L 173/1 vom 12. Juni 2014.

[7] Vgl. die Tatbestände des Insiderhandels gemäß §§ 14, 38 WpHG a.F. sowie der Marktmanipulation gemäß § 38 Abs. 2 WpHG a.F., die in ihrer konkreten bisherigen Gestalt durch das 1. FiMaNoG aufgehoben wurden.

[8] Zur Wirkungsweise von Verordnungen, auch und gerade im Gegensatz zu Richtlinien vergleiche Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Auflage (2015), Kap. 4 Rn. 51.

[9] Richtlinie 2014/57/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie), ABl. L 173 vom 12. Juni 2014 S. 179 ff.

[10] Erstes Gesetz zur Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund europäischer Rechtsakte (Erstes Finanzmarktnovellierungsgesetz – 1. FiMaNoG), BT-Drs. 180/16; verkündet in BGBl. I (2016) Nr. 31/1514.

[11] Vgl.http://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Pressemitteilung/2016/pm_160708_bz_keine_ahndungsluecke.html.

[12] Schroeder , FS Bockelmann (1979), S. 785, 790.

[13] Vgl. Schönke/Schröder/Eser/Hecker, 29. Auflage (2014), § 2 Rn. 2.

[14] BGHSt 37, 320, 322; BGH, HRRS 2008 Nr. 1024 = NStZ-RR 2008, 342 mwN.

[15] Zu sog. "Zwischengesetzen" vgl. BGHSt 39, 320, 322, NJW 1994, 267; BGH, NStZ 1992, 535, 536; OLG Bremen, NStZ 2010, 174.

[16] MüKo-StGB/Schmitz, 2. Auflage (2011), § 2 Rn. 14.

[17] MüKo-StGB/Schmitz (Fn. 16), § 2 Rn. 14.

[18] BGHSt 20, 22, 29 f.; BGH, NStZ 1983, 80.

[19] Vgl. BeckOK-StGB/von Heinschel-Heinegg, § 2 Rn. 7, 31. Edition, Stand: 1. Juni 2016.

[20] Vgl. BGHSt 20, 119; BGH NJW 1961, 688.

[21] Vgl. nur C. Schröder ZStW 112 (2000), 44, 49 f.; MüKo-StGB/Schmitz (Fn. 16), § 2 Rn. 2 mwN.

[22] BMJ, Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 3. Auflage (2008), Rn. 438.

[23] BMJ, Handbuch der Rechtsförmlichkeit, Rn. 438; zum Meinungsstand, wann genau die Gesetzesgeltung im Zusammenhang mit der Verkündung beginnt, vgl. MüKo-StGB/Schmitz (Fn. 16), § 2 Rn. 16 mwN.

[24] BMJ, Handbuch der Rechtsförmlichkeit (Fn. 22), Rn. 438.

[25] Vgl. https://www.dict.cc/?s=entry+into+force.

[26] Vgl. http://www.dict.cc/englisch-deutsch/to+apply.html.

[27] EuGHE 1978, 629 ff.; 1984, 483; 1991, 297, 321; NJW 1999, 2355; NJW 2007, 1515.

[28] BVerfGE 75, 223, 244; 85, 191, 204; NJW 2009, 2267, 2284 f.; BGHSt 37, 168, 175; 46, 380 ff.; BVerwGE 87, 15; OLG München, NJW 2006, 3588, 3591; 2008, 3151 ff.

[29] Dazu im Einzelnen sehr ausführlich Hecker (Fn. 8), Kap. 9.

[30] Richtlinie 2014/57/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie), ABl. L 173/179 vom 12. Juni 2014.

[31] Vgl. Hecker (Fn. 8), Kap. 4 Rn. 52 sowie zu den entsprechenden Ausnahmen Kap. 4 Rn. 53.

[32] Vgl. BGH, NStZ 1992, 535.