HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2016
17. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

950. BGH 1 ARs 5/16 - Beschluss vom 10. Mai 2016 (BGH)

Anfrageverfahren; Berücksichtigung des zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung beim sexuellen Missbrauch eines Kindes.

§ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG; § 46 StGB; § 176 StGB; § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB

1. Mit welchem Gewicht sich der Zeitablauf bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern strafmildernd auswirkt, kann nicht allgemein, sondern nur nach Lage des Einzelfalls beurteilt werden. Der Senat hält daran fest, dass das Tatgericht dabei die gesetzgeberische Wertung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB berücksichtigen darf.

2. Der Senat ist der Ansicht, dass die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs bei hiervon unbeeinflusster Tatschuld auf einem allgemein abnehmenden Strafbedürfnis bzw. einer geminderten Notwendigkeit von Sühne beruht. Daneben wird ein langer Zeitablauf aber auch besondere Prüfungspflichten im Hinblick auf spezialpräventiv wirksame Umstände für die Strafzumessung auslösen. Dies führt aber zu der Notwendigkeit der individuellen Gewichtung dieses Faktors in Bezug auf die Bemessung der schuldangemessenen Strafe.

3. Der Senat hält es nach diesen Maßgaben für rechtsfehlerfrei, wenn das Tatgericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls für die Bewertung der Abnahme des Strafbedürfnisses und der Minderung des Sühneanspruchs auf die gesetzgeberischen Wertungen zurückgreift, die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommen sind. Zwar haben die Verjährungsvorschriften zum Teil eine andere Zielrichtung, letztlich aber

kommt in ihnen auch zum Ausdruck, dass die Rechtsordnung ein Strafbedürfnis gegenüber dem Täter infolge Zeitablaufs verneint.


Entscheidung

934. BGH 1 StR 226/16 - Beschluss vom 10. August 2016 (LG Stuttgart)

Absehen von der Anordnung des Verfalls, weil das Erlangte nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist (Ermessensentscheidung des Tatrichters; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit auf Ermessensfehler).

§ 73 StGB; § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB

Die Entscheidung des Tatrichters über das Absehen von der Anordnung des Verfalls erweist sich als ermessens- und damit rechtsfehlerhaft, wenn der Ermessensausübung anhand eines von ihm gewählten Kriteriums nicht ausreichend belegte Anknüpfungstatsachen zugrunde gelegt werden (Ermessensdefizit). Auf Rechtsfehler, zu denen Ermessensfehler gehören, ist die dem Tatrichter obliegende Auslegung und Anwendung (bzw. Nichtanwendung) von § 73c Abs. 1 StGB durch das Revisionsgericht zu prüfen (st.Rspr.).


Entscheidung

981. BGH 4 StR 230/16 - Beschluss vom 4. August 2016 (LG Bochum)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Voraussetzungen: symptomatischer Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Tat); wirksamer Eröffnungsbeschluss (Voraussetzungen; Rechtsfolge der Unwirksamkeit: Verfahrenshindernis).

§ 63 StGB; § 203 StPO

Die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis führt für sich genommen noch nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr).


Entscheidung

987. BGH 4 StR 305/16 - Beschluss vom 3. August 2016 (LG Bielefeld)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (kein Beruhen des Urteils auf fälschlicher Anwendung der alten Rechtslage).

§ 63 StGB

Die Neufassung der Anordnungsvoraussetzungen von § 63 StGB greift im Wesentlichen die Konkretisierungen auf, die vom Bundesverfassungsgericht und von der höchstrichterlichen Rechtsprechung in den vergangenen Jahren vorgenommen worden sind. Es handelt sich damit vorrangig um bestätigende Kodifizierungen.


Entscheidung

971. BGH 4 StR 1/16 - Beschluss vom 21. Juni 2016 (LG Gießen)

Entziehung der Fahrerlaubnis (erforderliche Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit); gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (verkehrsfremder Inneneingriff durch Bereiten eines Hindernisses: Voraussetzungen; konkrete Gefahr für Leib oder Leben).

§ 69 StGB; § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB

Sofern für die rechtswidrige Tat nicht die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB gilt, erfordert die Prüfung der charakterlichen Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig eine dem Tatrichter vorbehaltene Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit, soweit sie in der Tat zum Ausdruck gekommen ist (vgl. BGHSt 50, 93, 97).


Entscheidung

945. BGH 1 StR 315/15 - Beschluss vom 18. Juli 2016 (LG Nürnberg-Fürth)

Strafzumessung bei mehreren Angeklagten.

§ 46 Abs. 1 StGB

Wenn mehrere Angeklagte in einem Verfahren abgeurteilt werden, muss für jeden von ihnen die Strafe ´aus der Sache´ selbst gefunden werden, wobei der Gesichtspunkt, dass die verhängten Strafen auch in einem gerechten Verhältnis zueinanderstehen sollten, nicht völlig außer Betracht bleiben darf (vgl. BGH NStZ 2011, 689).


Entscheidung

892. BGH 3 StR 243/16 - Beschluss vom 12. Juli 2016 (LG Duisburg)

Rechtsfehlerhafte Unterlassung der Prüfung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Voraussetzungen des Hangs; chronischen, auf körperlicher Sucht beruhenden Abhängigkeit; intensive Neigung zum übermäßigen Konsum; Beeinträchtigung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit; Grenze der physischen Abhängigkeit).

§ 64 StGB

Ausreichend für die Annahme eines Hanges zum übermäßigen Genuss von Rauschmitteln i.S.v. § 64 StGB ist, dass der Betroffene aufgrund seiner Konsumgewohnheiten sozial gefährdet oder gefährlich erscheint, wobei noch keine physische Abhängigkeit bestehen muss. Insoweit kann auch dem Umstand, dass durch den Rauschmittelgenuss bereits die Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sind, indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hanges zukommen; das Fehlen dieser Beeinträchtigungen schließt indes nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hanges aus.


Entscheidung

956. BGH 2 StR 195/16 - Beschluss vom 2. August 2016 (LG Limburg)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose)

§ 63 StGB

Ein allgemein erhöhtes Risiko von Gewaltdelikten durch Personen, die unter einer Wahnerkrankung leiden, ist für sich genommen nicht ausreichend, im Einzelfall die Gefährlichkeitsprognose nach § 63 StGB zu begründen.