HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2016
17. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

553. BGH 5 StR 332/15 - Urteil vom 7. April 2016 (LG Göttingen)

Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen; Beauftragtenbegriff; Verbotsirrtum bei unzutreffender Einschätzung der Arbeitnehmereigenschaft (Erkundigungspflicht; hypothetisches Ergebnis der unterlassenen Erkundigung; bedingte Unrechtseinsicht; voluntatives Element).

§ 266a StGB; § 14 StGB; § 17 StGB

1. An die Beauftragung im Sinne des § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB sind strenge Anforderungen zu stellen, da hierdurch eine persönliche Normadressatenstellung des Beauftragten begründet wird, die ihm (strafbewehrt) die Erfüllung betriebsbezogener Pflichten überbürdet. Die Beauftragung muss daher zweifelsfrei erfolgen und ausreichend konkret sein, damit für den Beauftragten das Ausmaß der von ihm zu erfüllenden Pflichten eindeutig erkennbar ist. Eine Übernahme der „kaufmännischen Abwicklung“ ist insoweit nicht eindeutig und lässt erheblichen Interpretationsspielraum offen, weshalb die Verwendung solcher Begrifflichkeiten grundsätzlich nicht geeignet ist, eine strafbewehrte Pflicht zu begründen.

2. Dass sich ein Angeklagter nicht um kompetente Beratung bemüht und mithin seiner Erkundigungspflicht nicht genügt, reicht zur Begründung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums nicht aus. Erforderlich ist vielmehr darüber hinaus, dass die Erkundigung zu einer entsprechenden Auskunft geführt hätte. Das ist bei einem Irrtum über die Arbeitnehmereigenschaft (vgl. § 266a StGB) jedenfalls dann nicht selbstverständlich, wenn die fragliche Abrechnungspraxis von den zuständigen Institutionen über nahezu 20 Jahre akzeptiert wurde und die geschädigten Sozialversicherungsträger auch acht Jahre nach Anklageerhebung noch keine Rückforderungen erhoben haben.

3. Bereits die bedingte Unrechtseinsicht schließt einen Verbotsirrtum aus. Eine solche setzt allerdings voraus, dass der Angeklagte nicht nur mit der Möglichkeit rechnete, sein Verhalten könnte verboten sein, sondern diese Möglichkeit in derselben Weise wie beim bedingten Vorsatz in seinen Willen aufnahm.


Entscheidung

604. BGH 2 StR 484/14 - Beschluss vom 26. April 2016 (LG Hanau)

Tötungsvorsatz (Anforderungen an die tatrichterliche Beweiswürdigung und die Darstellung im Urteil: Gesamtbetrachtung, Gefährlichkeit der Tathandlung als Indiz).

§ 212 Abs. 1 StGB; § 15 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Sowohl das Wissens- als auch das Willenselement des bedingten Tötungsvorsatzes müssen durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Tatumstände erfolgen (vgl. BGH NStZ 2016, 25, 26). Die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist dabei ein wesentlicher Indikator für das Vorliegen beider Elemente des bedingten Tötungsvorsatzes (vgl. BGH NStZ 2015, 216).

2. Hinsichtlich des Willenselements sind neben der konkreten Angriffsweise regelmäßig auch die Persönlichkeit des Täters, sein psychischer Zustand zum Tatzeitpunkt und seine Motivation in die erforderliche umfassende Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Täter die Gefahr des Eintritts eines tödlichen Erfolgs ausnahmsweise nicht erkannt oder jedenfalls darauf vertraut hat, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten, ist der Tatrichter verpflichtet, sich hiermit auseinander zu setzen (vgl. BGH NStZ 2016, 25, 26). Bezugspunkt der Prüfung des bedingten Tötungsvorsatzes ist dabei die konkrete Tathandlung, die nach dem Vorstellungsbild des Täters den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges herbeiführen soll.


Entscheidung

555. BGH 5 StR 498/15 - Urteil vom 19. April 2016 (LG Hamburg)

Rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung bei der Ablehnung des Tötungseventualvorsatzes (kognitives Element; voluntatives Element; tatsachenfundierte getrennte Prüfung der Vorsatzkomponenten; besonders gefährliche Gewalthandlungen; Beweisanzeichen; Vertrauenskriterium; Gleichgültigkeit).

§ 261 StPO; § 212 StGB; § 15 StGB

1. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, weiter dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet. Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen liegt es nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen und – weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt – einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt.

2. Eine hohe und zudem anschauliche konkrete Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen stellt mithin auf beiden Vorsatzebenen das wesentliche auf bedingten Tötungsvorsatz hinweisende Beweisanzeichen dar. Allerdings können im Einzelfall das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes fehlen, wenn etwa dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko der Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung etwa bei Affekt oder alkoholischer Beeinflussung nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements) oder wenn er trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut (Fehlen des Willenselements).

3. Die beiden Elemente des Eventualvorsatzes müssen tatsachenfundiert getrennt voneinander geprüft werden. Die Prüfung, ob bedingter Vorsatz vorliegt, erfordert insoweit bei Tötungsdelikten insbesondere dann, wenn das Tatgericht allein oder im Wesentlichen aus äußeren Umständen auf die innere Einstellung eines Angeklagten zur Tat schließen muss, eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, wobei schon eine Gleichgültigkeit gegenüber dem zwar nicht erstrebten, wohl aber hingenommenen Tod des Opfers die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes rechtfertigt.


Entscheidung

573. BGH 1 StR 402/15 - Beschluss vom 16. März 2016 (LG Mannheim)

(Verminderte) Schuldunfähigkeit (Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit: besondere Schwere; erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer schweren anderen seelischen Abartigkeit: normative Gesamtbetrachtung).

§ 20 StGB; § 21 StGB

1. Eine Persönlichkeitsstörung kann die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit nur dann begründen, wenn sie Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben eines Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (st. Rspr.). Da der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend für die Beurteilung der Schuldfähigkeit sind, ist die Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit, etwa hinsichtlich der Wahrnehmung der eigenen und dritter Personen, der emotionalen Reaktionen, der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und der Impulskontrolle, durch die festgestellten pathologischen Verhaltensmuster im Vergleich mit jenen krankhaft seelischer Störungen zu untersuchen. Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Deliktes zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens, das gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter in Erscheinung tritt, sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als viertes Merkmal des § 20 StGB, der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ angesehen werden (vgl. BGHSt 49, 45, 52 f.).

2. Ob die Steuerungsfähigkeit wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten hat. Hierbei fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt (vgl. BGH NJW 2014, 3382, 3384). Dazu hat der Tatrichter in einer Gesamtbetrachtung die Persönlichkeit des Angeklagten und dessen Entwicklung zu bewerten, wobei auch Vorgeschichte, unmittelbarer Anlass und Ausführung der Tat sowie das Verhalten danach von Bedeutung sind (st. Rspr.).


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

534. BGH 3 StR 404/15 - Beschluss vom 10. März 2016 (OLG Oldenburg)

BGHSt; Einsteigen beim Wohnungseinbruchdiebstahl (Auslegung; Eindringen durch zum ordnungsgemäßen Zugang bestimmte Tür; geöffnete Terrassentür; Überwindung von Schwierigkeiten oder Hindernissen aus der Eigenart des Gebäudes oder der Umfriedung des umschlossenen Raumes; Schwierigkeiten beim Schaffen der Zugangsmöglichkeit).

§ 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB; § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB

1. Wer eine Räumlichkeit durch eine zum ordnungsgemäßen Zugang bestimmte Tür betritt, steigt nicht im Sinne von § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB ein, unabhängig davon, auf welche Weise er die Tür geöffnet hat. (BGHSt)

2. Ein Einsteigen im Sinne von § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfordert prinzipiell die Überwindung von Hindernissen, die sich aus der Eigenart des Gebäudes oder der Umfriedung des umschlossenen Raumes ergeben. Schwierigkeiten allein beim Schaffen der Zugangsmöglichkeit genügen nicht. (Bearbeiter)

3. Daher wird das Merkmal des Einsteigens nicht erfüllt, wenn der Täter durch die Terrassentür das Haus betritt, die er öffnen konnte, nachdem er ein auf Kipp stehendes

Fenster (weiter) entriegeln und so auf die danebenliegende Terrassentür zugreifen konnte. Dass möglicherweise Sinn und Zweck der gesteigerten Strafdrohung auch die Erfassung dieser Konstellation nahelegen, rechtfertigt es nicht, das anhand der historischen, systematischen und grammatikalischen Auslegung gefundene, eindeutige Ergebnis zu revidieren. Die teleologischen Erwägungen könnten - bei tatsächlich vergleichbarer Gewichtigkeit der Fälle - allenfalls zu der Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles des § 243 Abs. 1 Satz 1 StGB führen. (Bearbeiter)


Entscheidung

571. BGH 1 StR 398/15 - Urteil vom 20. Januar 2016 (LG München II)

BGHSt; Raub (Finalzusammenhang zwischen Einsatz des qualifizierten Nötigungsmittels und der Wegnahme: Unbeachtlichkeit geringfügiger Abweichungen vom vorgestellten Finalverlauf; räumlich-zeitlicher Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und Wegnahme: nötigungsbedingte Einschränkung der Dispositionsfreiheit des Gewahrsamsinhabers über das Tatobjekt)

§ 249 Abs. 1 StGB

1. Notwendige Voraussetzung für eine Strafbarkeit wegen Raubes ist eine finale Verknüpfung zwischen dem Einsatz der qualifizierten Nötigungsmittel und der Wegnahme sowie eines räumlich-zeitlichen Zusammenhangs dergestalt, dass es zu einer nötigungsbedingten Einschränkung der Dispositionsfreiheit des Gewahrsamsinhabers über das Tatobjekt gekommen ist. (BGHSt)

2. Nach ständiger Rechtsprechung muss zwischen der Drohung mit oder dem Einsatz von Gewalt und der Wegnahme beim Raub eine finale Verknüpfung bestehen; Gewalt oder Drohung müssen das Mittel zur Ermöglichung der Wegnahme sein. An einer solchen Verknüpfung fehlt es, wenn eine Nötigungshandlung nicht zum Zwecke der Wegnahme vorgenommen wird, sondern der Täter den Entschluss zur Wegnahme erst nach Abschluss dieser Handlung fasst (vgl. BGHSt 32, 88, 92). (Bearbeiter)

3. Deshalb genügt der Umstand, dass die Wirkungen eines ohne Wegnahmevorsatz eingesetzten Nötigungsmittels noch andauern und der Täter dies ausnutzt, für die Annahme eines Raubes nicht (vgl. BGH NStZ 2006, 508). Auch das bloße Ausnutzen der Angst eines der Einwirkung des Täters schutzlos ausgelieferten Opfers vor Fortführung bislang nicht auf die Ermöglichung der Wegnahme von Sachen gerichteter Gewalthandlungen reicht – ohne aktuelle Drohung erneuter Gewaltanwendung – nicht aus (vgl. BGH NStZ 2013, 648). (Bearbeiter)

4. Der Tatbestand verlangt allerdings nicht, dass der Einsatz des Nötigungsmittels objektiv erforderlich ist oder die Wegnahme zumindest kausal fördert (vgl. BGHSt 4, 210, 211). Es genügt, dass aus Sicht des Täters der Einsatz des Nötigungsmittels notwendig ist (Finalzusammenhang). Allein seine Vorstellung und sein Wille sind für den Finalzusammenhang maßgebend (vgl. BGHSt 18, 329, 331). Dieser maßgebliche Finalzusammenhang als solcher ist deshalb grundsätzlich unabhängig von der räumlichen und zeitlichen Einordnung der Wegnahmehandlung in das zweiaktige Tatgeschehen eines Raubes. (Bearbeiter)

5. Der Gedanke der unbeachtlichen Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf gilt auch für Abweichungen des vorgestellten Finalzusammenhangs von der tatsächlichen Verknüpfung von Nötigungshandlung und Wegnahme. Abweichungen des tatsächlichen vom vorgestellten Finalverlauf sind für die rechtliche Bewertung bedeutungslos, wenn sie sich innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen. (Bearbeiter)

6. Demnach ist es unerheblich, ob sich das Opfer nach Abschluss der vom Täter zum Zweck der Duldung der Wegnahme verübten Tathandlung entschließt, die Wegnahme wegen des zuvor angewendeten Nötigungsmittels zu dulden oder infolge des Einsatzes des Nötigungsmittels nicht mehr in der Lage ist, einen entsprechenden Willen zu bilden und umzusetzen wie dies bei Bewusstlosigkeit, schweren Verletzungen oder Fesselung der Fall ist. Ergreift das Opfer vor der Wegnahme die Flucht, liegt in diesem Verhalten die konkludente Preisgabe seines Eigentums. Aus Sicht des Opfers ist es gleichgültig, ob das Dulden der Wegnahme oder die Unmöglichkeit Widerstand zu leisten auf Fesselung, Bewusstlosigkeit oder verletzungsbedingter Wehrlosigkeit beruht. Die je nach Konstitution und Persönlichkeit des Opfers unterschiedlichen Reaktionen auf die Gewalthandlung des Täters sind für das Fortbestehen eines Finalzusammenhangs ohne Relevanz. (Bearbeiter)

7. Über den Finalzusammenhang hinaus müssen Nötigung und Wegnahme im Hinblick auf den spezifischen Unrechtsgehalt des Raubes auch in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Verhältnis zueinanderstehen. Sie dürfen nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern müssen das typische Tatbild eines Raubes ergeben. Eine solche raubspezifische Einheit von qualifizierter Nötigung und Wegnahme liegt regelmäßig lediglich dann vor, wenn es zu einer – in der Vorstellung des Täters nachvollzogenen – nötigungsbedingten Einschränkung der Dispositionsfreiheit des Gewahrsamsinhabers über das Tatobjekt gekommen ist. (Bearbeiter)

8. Nicht gefordert für den raubspezifischen Zusammenhang ist, dass der Ort der Nötigungshandlung und der Wegnahmehandlung identisch sind oder ein bestimmtes Maß an zeitlicher oder örtlicher Differenz zwischen Nötigung und Wegnahme nicht überschritten werden darf (vgl. BGH NStZ 2006, 38). Es entscheiden jeweils die Umstände des Einzelfalls. (Bearbeiter)


Entscheidung

536. BGH 3 StR 437/15 - Urteil vom 10. März 2016 (LG Osnabrück)

BGHSt; Erheblichkeit sexueller Handlungen (sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung; Gesamtbetrachtung; Erkennen des Sexualbezugs beim Opfer nicht erforderlich; objektiver Sexualbezug; äußeres Erscheinungsbild; ambivalente Tätigkeiten; sexuelle Absichten); Vornahme gegen Entgelt (Motivation des Minderjährigen durch die Entgeltvereinbarung; Erfas-

sen des sexuellen Charakters im Tatzeitpunkt durch das Opfer nicht erforderlich).

§ 184h Nr. 1 StGB; § 182 Abs. 2 StGB

1. Das Merkmal der Erheblichkeit im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB setzt nicht voraus, dass das Opfer den sexuellen Charakter der zu bewertenden Handlung erkennt (Bestätigung und Fortführung von BGH, Urteil vom 24. September 1980 - 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336). (BGHSt)

2. Sexuelle Handlungen werden im Sinne von § 182 Abs. 2 StGB gegen Entgelt vor-genommen, wenn Täter und Opfer spätestens während des sexuellen Kontakts darüber einig sind, dass der Minderjährige durch die Entgeltvereinbarung zu seinem Sexualverhalten wenigstens mitmotiviert wird. Über diese Verknüpfung hinaus ist nicht erforderlich, dass er im Tatzeitpunkt den sexuellen Charakter der von oder an ihm vorgenommenen Handlungen erfasst. (BGHSt)

3. Sexuelle Handlungen im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB sind zunächst Handlungen, die bereits objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild die Sexualbezogenheit erkennen lassen. Daneben können auch sog. ambivalente Tätigkeiten, die für sich betrachtet nicht ohne Weiteres einen sexuellen Charakter aufweisen, tatbestandsmäßig sein; insoweit ist auf das Urteil eines objektiven Betrachters abzustellen, der alle Umstände des Einzelfalles kennt. Hierbei ist auch einzustellen, ob der Angeklagte von sexuellen Absichten geleitet war. (Bearbeiter)

4. Erheblich im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen. Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus. (Bearbeiter)


Entscheidung

627. BGH 4 StR 563/15 - Urteil vom 28. April 2016 (LG Siegen)

Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (Ausnützen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs: objektive und subjektive Voraussetzungen); Voraussetzungen der sukzessiven Mittäterschaft.

§ 316 Abs. 1 StGB; § 25 Abs. 2 StGB

1. Für ein Ausnützen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs im Sinne des § 316 Abs. 1 StGB ist erforderlich, dass der tatbestandsmäßige Angriff gegen das Tatopfer als Kraftfahrzeugführer unter Ausnutzung der spezifischen Bedingungen des Straßenverkehrs begangen wird.

2. In objektiver Hinsicht ist dies der Fall, wenn der Führer eines Kraftfahrzeugs im Zeitpunkt des Angriffs in einer Weise mit der Beherrschung seines Kraftfahrzeugs und/oder mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen beschäftigt ist, dass er gerade deswegen leichter zum Angriffsobjekt eines Überfalls werden kann (st. Rspr). Befindet sich das Fahrzeug beim Verüben des Angriffs in Bewegung, liegt diese Voraussetzung regelmäßig vor, weil dem Führer eines sich fortbewegenden Kraftfahrzeugs die Gegenwehr gegen den Angriff infolge der Beanspruchung durch das Lenken des Fahrzeugs wegen der damit verbundenen Konzentration auf die Verkehrslage und die Fahrzeugbedienung erschwert ist (vgl. BGH NStZ 2013, 43).

3. Dass sich die Tat an einem einsamen Ort ohne weiteres Verkehrsaufkommen ereignet, ist für das Ausnützen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs in objektiver Hinsicht unerheblich.

4. Subjektiv ist ausreichend, dass sich der Täter – entsprechend dem Ausnutzungsbewusstsein bei der Heimtücke nach § 211 Abs. 2 StGB – in tatsächlicher Hinsicht der die Abwehrmöglichkeiten des Tatopfers einschränkenden besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs bewusst ist. Nicht erforderlich ist hingegen, dass er eine solche Erleichterung seines Angriffs zur ursächlichen Bedingung seines Handelns macht. Ebenso ist für die subjektive Erfüllung des Tatbestandsmerkmals nicht erforderlich ist, dass der Täter sich durch die verkehrsspezifischen Umstände zielgerichtet einen Vorteil für sein Angriffsvorhaben verschaffen will. Es reicht vielmehr aus, dass er die sich aus den besonderen Verhältnissen des Straßenverkehrs ergebenden tatsächlichen Umstände in der Weise erkennt, dass er sich bewusst ist, ein hierdurch in seinen Abwehrmöglichkeiten beeinträchtigtes Tatopfer anzugreifen.


Entscheidung

546. BGH 3 StR 550/15 - Beschluss vom 5. April 2016 (LG Düsseldorf)

Funktionaler und zeitlicher Zusammenhang zwischen Bemächtigungslage und beabsichtigter Erpressung beim erpresserischen Menschenraub.

§ 239a StGB

Zwischen der Bemächtigungslage und der beabsichtigten Erpressung muss ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang in der Weise bestehen, dass der Täter das Opfer (oder einen Dritten) während der Dauer der Zwangslage erpressen will. § 239a StGB stellt das Entführen oder Sichbemächtigen deshalb besonders unter Strafe, weil der Täter seine Drohung während der Dauer der Zwangslage jederzeit realisieren kann und das Opfer aus Sorge um sein Wohl die erstrebte Vermögensverfügung noch während des Bestehens der Bemächtigungslage vornehmen wird. An diesen Voraussetzungen fehlt es daher regelmäßig, wenn die Vornahme der Vermögensverfügung noch langwierige Maßnahmen – hier: Verkauf eines Hauses – erfordert und die Bemächtigungslage nicht bis zu deren Abschluss aufrechterhalten werden soll.


Entscheidung

554. BGH 5 StR 487/15 - Beschluss vom 17. Februar 2016 (OLG Dresden)

Falschbeurkundung im Amt durch Beurkundung eines unzutreffenden Wohnortes eines Beteiligten anlässlich einer Vertragsbeurkundung (Notar; Beweiskraft; öffentlicher Glaube der Urkunde; keine Erstreckung auf inhaltliche Richtigkeit).

§ 348 Abs. 1 StGB

Die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde bezieht sich ausschließlich auf die Abgabe der beurkundeten Erklärung selbst, nicht jedoch auf deren inhaltliche Richtigkeit. Wegen Falschbeurkundung im Amt kann sich daher nur strafbar machen, wer eine Erklärung – hier: die Angabe des Wohnortes eines Vertragsbeteiligten bei einer Vertragsbeurkundung – beurkundet, obwohl sie gar nicht abgegeben wurde. Die inhaltliche Unrichtigkeit der Erklärung genügt nicht.


Entscheidung

590. BGH 2 StR 200/15 - Beschluss vom 8. Dezember 2015 (LG Aachen)

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (Begriff des Anvertrautseins: Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der Unter- und Überordnung).

§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB

1. Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Das Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft genügt hierfür nicht (vgl. BGH NStZ-RR 1999, 321). Erforderlich ist vielmehr ein Verhältnis, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten.

2. Entscheidend ist insoweit nicht, von wem und auf welche Weise der Betreuer bestellt worden ist (vgl. BGHSt 21, 196,). Es kann genügen, dass ein Jugendlicher selbst sich einem Erwachsenen zur Betreuung in der Lebensführung gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB anvertraut (vgl. BGHSt 41, 137, 139). Erforderlich ist jedoch stets ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst. Ob ein solches Obhutsverhältnis besteht und welchen Umfang es hat, ist nach den tatsächlichen Verhältnissen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (vgl. BGHSt 33, 340, 344).


Entscheidung

606. BGH 2 StR 512/15 - Beschluss vom 11. Februar 2016 (LG Aachen)

Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (Blankettvorschrift: Bestimmtheitsgebot, Rechtsfehlerfreiheit der Weisung als Voraussetzung für Strafbarkeit; Darstellung im Urteil: Wiedergabe des Beschluss über die Führungsaufsicht); Schuldunfähigkeit (tatrichterliche Beweiswürdigung: erforderliche Auseinandersetzung mit einem Sachverständigengutachten).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 145a StGB; § 68b Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 20 StGB, § 261 StPO

1. § 145a StGB gleicht einer Blankettvorschrift, deren Tatbestand erst durch genaue Bestimmung der Führungsaufsichtsweisung ausgefüllt wird; erst hierdurch wird die Vereinbarkeit der Norm mit Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet. Voraussetzung für eine Bestrafung nach § 145a StGB ist deshalb, dass die Weisung rechtsfehlerfrei ist (vgl. BGHSt 58, 136, 138). Verstöße gegen unbestimmte, unzulässige oder unzumutbare Weisungen können die Strafbarkeit nach § 145a StGB nicht begründen. Dabei handelt es sich um ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, dessen Vorliegen der Tatrichter in den Urteilsgründen darzutun hat.

2. In Anbetracht des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG und der Tatsache, dass § 68b Abs. 2 StGB auch nicht strafbewehrte Weisungen ermöglicht, muss auch der Beschluss über die Führungsaufsicht jedenfalls auszugsweise wiedergegeben werden, damit geprüft werden kann, ob im Führungsaufsichtsbeschluss unmissverständlich klargestellt ist, dass es sich bei den in Rede stehenden Weisungen um gemäß § 68b Abs. 1 StGB strafbewehrte Weisungen handelt (vgl. BGH StraFo 2015, 471, 472).