HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2016
17. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

324. BGH 1 StR 79/15 - Beschluss vom 25. November 2015 (LG Mannheim)

BGHSt; Verständigung (zulässiger Gegenstand einer Verständigung: Höhe der Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer).

Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO

1. Die Höhe der Kompensation für eine hinsichtlich Art, Ausmaß und ihrer Ursachen prozessordnungsgemäß festgestellte überlange Verfahrensdauer ist ein zulässiger Verständigungsgegenstand. (BGHSt)

2. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers können Verständigungsgegenstand u.a. grundsätzlich die Maßnahmen sein, über die das erkennende Gericht verfügen kann, somit Maßnahmen, die es im Erkenntnis treffen kann. Grundsätze der richterlichen Sachverhaltsaufklärung und Überzeugungsbildung sollten hingegen nicht angetastet werden (vgl. hierzu BVerfGE 133, 168 Rn. 67). (Bearbeiter)

3. Die Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer dient dem Ausgleich eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts; sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (vgl. BGHSt 52, 124, 137). Die im Wege des sog. Vollstreckungsmodells vorzunehmende Kompensation als Erfüllung einer Art Staatshaftungsanspruch koppelt den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von Fragen des Tatunrechts, der Schuld und der Strafhöhe ab. Der Ausgleich für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung stellt eine rein am Entschädigungsgedanken orientierte eigene Rechtsfolge neben der Strafzumessung dar. Sie richtet sich nicht nach der Höhe der Strafe. Auch das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld spielen weder für die Frage, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist, noch für Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle (vgl. BGHSt 52, 124, 138). (Bearbeiter)

4. Eine nach diesen Maßstäben zu bestimmende Kompensation berührt nicht die Grundsätze der richterlichen Sachverhaltsaufklärung und Überzeugungsbildung; eine Verständigung insoweit, also die Erzielung eines Einvernehmens stellt weder Gegenstand noch Umfang der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Pflicht zur Aufklärung des mit der Anklage vorgeworfenen Geschehens zur Disposition der an der Verständigung Beteiligten. (Bearbeiter)


Entscheidung

362. BGH 4 StR 24/15 - Beschluss vom 10. September 2015 (LG Bochum)

Ausnahmsweise Aufhebbarkeit von Beschlüssen des Revisionsgerichts (Entscheidung auf unvollständiger oder unzutreffender tatsächlicher Grundlage; hier: Entscheidung über einen bloßen Urteilsentwurf).

§ 349 Abs. 2, Abs. 4 StPO

1. Zu den Wirkungen einer im Beschlusswege erfolgten, irrtümlichen Entscheidung des Revisionsgerichts über einen bloßen Urteilsentwurf des Tatrichters. (BGH)

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Entscheidungen des Revisionsgerichts

grundsätzlich weder aufgehoben noch abgeändert werden. Das gilt nicht nur für nach § 349 Abs. 2 StPO ergangene Beschlüsse über die Verwerfung der Revision, durch die das Verfahren wie durch ein Verwerfungsurteil rechtskräftig abgeschlossen wird (vgl. BGHSt 17, 94, 95). Auch ein allein nach § 349 Abs. 4 StPO gefasster Beschluss, mit dem die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Tatrichter zurückverwiesen wird und der deshalb lediglich formelle Rechtskraft erlangt, ist regelmäßig nicht abänderbar und kann nicht aufgehoben werden. (Bearbeiter)

3. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat indes von jeher in Fällen, in denen eine Entscheidung über das Rechtsmittel der Revision lediglich infolge Unregelmäßigkeiten bzw. Versehen oder wegen der Gegebenheiten des gerichtlichen Geschäftsgangs auf unvollständiger oder unzutreffender tatsächlicher Grundlage getroffen wurde und sich dies erst nachträglich herausstellt, das Bedürfnis nach einer Korrektur der getroffenen, formell bzw. materiell rechtskräftigen Entscheidung anerkannt. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gebieten es in einem solchen Fall, den Widerspruch zwischen der auf einer unzutreffenden Grundlage ergangenen Entscheidung und der abweichenden Tatsachenlage zu beseitigen; der damit verbundene Eingriff in die Rechtskraft wiegt hier weniger schwer. (Bearbeiter)

4. Dementsprechend ist ein Beschluss aufzuheben, mit dem das Revisionsgericht über das Rechtsmittel des Beschwerdeführers auf der Grundlage eines bloßen Urteilsentwurfs des Landgerichts und damit aus unzutreffendem tatsächlichem Grund entschieden hat und von diesem Umstand erst nach Erlass seiner Entscheidung Kenntnis erlangt. (Bearbeiter)


Entscheidung

343. BGH 2 StR 202/15 - Urteil vom 7. Januar 2016 (LG Aachen)

Verwertung von Audio- oder Videoaufnahmen der Tat (Überwiegen des Aufklärungsinteresses gegenüber dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Angeklagten bei Taten, deren Aufklärung im besonderen öffentlichen Interesse liegt; Handyaufnahmen); Raub (finale Verknüpfung von Gewalt und Wegnahme).

Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG; § 244 Abs. 2 StPO; § 249 Abs. 1 StGB

1. Ungeachtet der Frage der Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung bestehen an der Zulässigkeit der Beweisverwertung keine Bedenken, wenn Audio- oder Videodateien unmittelbar die dem Angeklagten zur Last liegende Tat dokumentieren, deren vollständige Aufklärung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Der absolut geschützte Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) ist durch eine solche Verwertung nicht berührt, weil das öffentliche Interesse an einer umfassenden Aufklärung der Straftat überwiegt (vgl. BGHSt 57, 71).

2. Für die Strafbarkeit nach § 249 Abs. 1 StGB müssen Gewalt oder Drohung vom Täter als Mittel zur Ermöglichung der Wegnahme eingesetzt werden (vgl. BGHSt 48, 365, 366). Zwar genügt es zur Erfüllung des Tatbestands, dass die zunächst zu anderen Zwecken begonnene Gewaltanwendung fortgesetzt wird, nachdem der Wegnahmevorsatz gefasst ist. Dies gilt jedoch nur, wenn eine finale Verknüpfung zwischen Gewaltanwendung und Wegnahme besteht. Folgt die Wegnahme der Anwendung von Gewalt zu anderen Zwecken nur zeitlich nach, ohne dass eine solche finale Verknüpfung besteht, so scheidet ein Schuldspruch wegen Raubes aus (vgl. BGHSt 41, 123, 124).


Entscheidung

355. BGH 2 StR 457/14 - Urteil vom 23. Dezember 2015 (LG Aachen)

Recht des Beschuldigten, in einer ihm verständlichen Sprache über die Anklage informiert zu werden (schriftliche Übersetzung der Anklageschrift erforderlich; Recht auf Verfahrensaussetzung); unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln (Begriff des Besitzes: Besitzwillen).

Art. 6 Abs. 3 lit. a) EMRK; § 201 Abs. 1 StPO; § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG

1. Ein Angeklagter kann auf die das Strafverfahren abschließende Entscheidung nur dann hinreichend Einfluss nehmen, wenn ihm der Verfahrensgegenstand in vollem Umfang bekannt ist. Dies setzt auch die Kenntnis der Anklageschrift voraus. Deshalb hat ein Angeklagter nach Art. 6 Abs. 3 lit. a) MRK das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden. Dieses Recht beinhaltet für den der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten grundsätzlich die Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache; dies hat in aller Regel schon vor der Hauptverhandlung zu geschehen. Die mündliche Übersetzung allein des Anklagesatzes in der Hauptverhandlung genügt nur in Ausnahmefällen, namentlich dann, wenn der Verfahrensgegenstand tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauen ist.

2. Ein Angeklagter, dem die Anklageschrift nicht ordnungsgemäß mitgeteilt wurde, kann grundsätzlich die Aussetzung der Hauptverhandlung verlangen, um seine Verteidigung genügend vorbereiten zu können. Dem Tatrichter steht bei der Entscheidung über einen solchen Aussetzungsantrag entsprechend § 265 Abs. 4 StPO ein Ermessensspielraum zu. Ob dieser Ermessensspielraum wegen der Funktion der (übersetzten) Anklageschrift für die Vorbereitung einer sachgerechten Verteidigung auf Null reduziert ist und dem Gericht ein Ermessen deshalb nur im Rahmen der Entscheidung darüber zusteht, wie lange es den Zeitraum bemisst, den es dem Angeklagten für die Vorbereitung der (Fortsetzung der) Hauptverhandlung zur Verfügung stellt, oder ob (bereits) eine angemessene Unterbrechung der Hauptverhandlung genügt, kann der Senat hier offen lassen.

3. Besitzen im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes setzt ein bewusstes tatsächliches Innehaben, ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis sowie Besitzwillen und Besitzbewusstsein voraus, die darauf gerichtet sind, sich die Möglichkeit ungehinderter Einwirkung auf das Betäubungsmittel zu erhalten. Eine kurze Hilfstätigkeit ohne Herrschaftswillen genügt für die Annahme eines Besitzes nicht (vgl. BGHSt 26, 117 f).


Entscheidung

314. BGH StB 1/16 - Beschluss vom 4. Februar 2016

Dringender Tatverdacht der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Vereinigung („Al Shabab“); Fortdauer der Untersuchungshaft über circa ein Jahr und fünf Monate noch verhältnismäßig (eingeschränkte Nachprüfung des dringenden Tatverdachts durch das Beschwerdegericht während laufender Hauptverhandlung; Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers; Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung; Abwägung; Verhältnismäßigkeit; Beschleunigungsgebot in Haftsachen; vermeidbare Verfahrensverzögerungen; Ausschöpfen der möglichen Dauer der einzelnen Termine; mehrere Angeklagte; Sachverhalte mit Auslandsbezug; Prozessverhalten der Angeklagten).

§ 129a Abs. 1 StGB; § 129b Abs. 1 StGB; § 112 StPO; § 116 StPO; § 120 StPO; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK

1. Das verhandelnde Gericht hat in Haftsachen grundsätzlich die Dauer der einzelnen Hauptverhandlungstermine im Rahmen des Möglichen auszuschöpfen. Der Einwand, das Gericht sei zeitgleich mit der Durchführung von Hauptverhandlungen in weiteren Verfahren befasst gewesen, ist regelmäßig nicht geeignet, die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeklagten zu rechtfertigen. Die Justizverwaltung hat mit Blick auf die rechtstaatliche Ordnung und den grundrechtlich verbürgten Freiheitsanspruch des Betroffenen vielmehr dafür Sorge zu tragen, dass ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen, um Strafverfahren, insbesondere bei Haftsachen, angemessen führen und in einem vertretbaren Zeitraum abschließen zu können.

2. Allerdings kann zu berücksichtigen sein, dass ein Verfahren sich gegen mehrere Angeklagte richtet und Sachverhalte betrifft, die sich im Wesentlichen im Ausland zugetragen haben. Diese Umstände erfordern zum einen eine überdurchschnittlich zeit- und arbeitsintensive Vor- und Nachbereitung der Hauptverhandlungstermine; zum anderen sind sie dazu geeignet, die konkreten Hauptverhandlungstermine weniger voraussehbar zu machen, als dies bei einer geringeren Anzahl von Angeklagten der Fall ist. Auch das Prozessverhalten der Angeklagten kann in die Betrachtung miteinzubeziehen sein, ohne dass damit dessen Beurteilung nach seiner „Sachdienlichkeit“ verbunden ist.

3. Bei Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft ist das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit in besonderer Weise zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Angeklagten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt.

4. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass deren weiterer Vollzug nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig vom Tatvorwurf und von der Straferwartung Grenzen. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Länge der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu.

5. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist daher stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen.

6. Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Anzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung.


Entscheidung

309. BGH 3 StR 521/15 - Beschluss vom 28. Januar 2016 (LG Mönchengladbach)

Rechtsfehlerhafte Ausführungen zur Schuldfähigkeit (Wiedergabe der wesentlichen Anknüpfungspunkte und Darlegungen des Sachverständigengutachtens im Urteil; Darlegung der Auswirkungen des diagnostizierten Störungsbildes auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten in der konkreten Tatsituation); Zuwiderhandlung gegen Anordnung nach GewSchG (eigenständige Feststelllungen bzgl. der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Anordnung); Voraussetzungen der dauerhaften Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB; § 1 GewSchG; § 4 GewSchG

1. Bejaht das Tatgericht im Anschluss an ein Sachverständigengutachten die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB wegen einer psychischen Erkrankung des Angeklagten (hier: paranoid-psychotische Störung), ist stets eine konkretisierende Darstellung erforderlich, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Taten auf die Einsichts- oder Steuerungsfähig-

keit ausgewirkt hat. Hierauf kann allein unter Hinweis auf die allgemeine Diagnose nicht verzichtet werden.

2. Die Verurteilung nach § 4 Satz 1 GewSchG wegen Zuwiderhandlung gegen eine Anordnung nach § 1 GewSchG setzt u.a. voraus, dass das Strafgericht die materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung überprüft und dabei deren tatbestandliche Voraussetzungen eigenständig feststellt; an die Entscheidung des Familiengerichts ist es insoweit nicht gebunden.


Entscheidung

315. BGH StB 3/16 - Beschluss vom 10. März 2016

Anfechtbarkeit sitzungspolizeilicher Maßnahmen mit der Beschwerde (Verwendung einer Trennscheibe).

§ 176 GVG; § 304 StPO

Eine Verfügung, mit der die Verwendung einer bauseits angebrachten und mit Sprechstellen versehenen Trennscheibe, durch die die Angeklagten von den übrigen Verfahrensbeteiligten getrennt werden, angeordnet wird, fällt nicht in den Katalog des § 304 Abs. 4 Satz 2 Hs. 2 StPO. Eine allenfalls im engsten Rahmen in Betracht kommende analoge Anwendung der restriktiv auszulegenden Ausnahmeregelung kommt in diesem Fall nicht in Betracht.


Entscheidung

342. BGH 2 StR 197/15 - Beschluss vom 12. November 2015 (LG Erfurt)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit); Vorbereiten des Fälschens von Fahrzeugpapieren (Beabsichtigung einer späteren Fälschung).

§ 261 StPO; § 275 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 276a StGB

1. Eine rechtsfehlerhafte Lücke in der tatrichterlichen Beweiswürdigung liegt insbesondere vor, wenn die Beweiswürdigung wesentliche Feststellungen nicht erörtert oder nur eine von mehreren gleich naheliegenden Möglichkeiten prüft (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 147). Das Tatgericht muss sich dabei nicht mit allen theoretisch denkbaren, sondern nur mit naheliegenden Möglichkeiten auseinandersetzen, die nach der Sachlage mit der Beweistatsache nicht weniger gut zu vereinbaren sind als die von ihm angenommene Möglichkeit (vgl. BGHSt 25, 365, 367).

2. Nach § 275 Abs. 1 Nr. 1, § 276a StGB macht sich u.a. strafbar, wer eine Fälschung von Fahrzeugpapieren vorbereitet, indem er sich Platten, Formen, Drucksätze oder ähnliche Vorrichtungen, die ihrer Art nach zur Begehung der Tat geeignet sind, verschafft oder solche verwahrt. Nach dem Wortlaut dieser Strafnorm wird daher eine Handlung im Vorfeld der Fälschung von Fahrzeugpapieren unter Strafe gestellt. Zweck der Tathandlung muss demnach die Vorbereitung einer Fälschung sein. Hierauf muss sich der Vorsatz des Täters erstrecken, wobei bedingter Vorsatz genügt. Wenngleich eine konkrete Vorstellung hierbei nicht erforderlich ist, so erfordert ein Schuldspruch insoweit aber jedenfalls die Feststellung, dass der Täter überhaupt die Fälschung von Fahrzeugpapieren beabsichtigt.


Entscheidung

340. BGH 2 StR 7/15 - Beschluss vom 14. Januar 2016 (LG Schwerin)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Zeuge vom Hörensagen).

§ 261 StPO

Es ist zwar nicht grundsätzlich rechtlich zu beanstanden, dass sich das Tatgericht auf die Aussage eines „Zeuge vom Hörensagen“ stützt. Die Angaben eines „Zeugen vom Hörensagen“ bedürfen wegen der erhöhten Gefahr unsachlicher Einflüsse auf die Wahrnehmung, Erinnerung und Wiedergabe von Informationen aus zweiter Hand sowie wegen der reduzierten Möglichkeiten für das Gericht und die Verfahrensbeteiligten, die Informationen durch Rückfragen bei der primären Auskunftsperson zu hinterfragen, jedoch stets einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung (vgl. BVerfGE 57, 250, 292). Dazu müssen auch die Aussageentstehung und Aussagemotivation möglichst genau überprüft werden, weil sich daraus Fehlerquellen für den Aussageinhalt ergeben können.


Entscheidung

322. BGH 1 StR 423/15 - Urteil vom 16. Dezember 2015 (LG Deggendorf)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an ein freisprechendes Urteil: Gesamtwürdigung, revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO

1. Spricht das Tatgericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft oder am Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines strafbaren Verhaltens nicht zu überwinden vermag, ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen.

2. Denn einzelne Belastungsindizien, die für sich genommen zum Beweis der Täterschaft nicht ausreichen, können doch in ihrer Gesamtheit die für eine Verurteilung notwendige Überzeugung des Tatgerichts begründen. Deshalb bedarf es einer Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt zudem, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind und dabei nicht beachtet wurde, dass eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewissheit nicht erforderlich ist, vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretischen Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt (st. Rspr.).

3. Der Tatrichter darf dabei entlastende Angaben des Angeklagten, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine Beweise gibt, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen. Er muss sich vielmehr auf der Grundlage des

gesamten Beweisergebnisses entscheiden, ob diese Angaben geeignet sind, seine Überzeugungsbildung zu beeinflussen (vgl. BGHSt 48, 52, 71). Der Zweifelssatz gebietet es nicht etwa, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.).


Entscheidung

372. BGH 4 StR 79/15 - Beschluss vom 4. Februar 2016 (LG Halle)

Besetzung der Großen Strafkammer in der Hauptverhandlung (regelmäßig notwendige Besetzung mit drei Richtern bei längerer Hauptverhandlung); Betrug.

§ 76 Abs. 2, Abs. 3 GVG; § 263 Abs. 1 StGB

Die Vorschrift des § 76 Abs. 3 GVG in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung sieht vor, dass die Mitwirkung eines dritten Richters in der Regel notwendig ist, wenn die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird oder die große Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer zuständig ist. Von der in § 76 Abs. 3 GVG vorgesehenen regelmäßigen Dreierbesetzung soll nur abgewichen werden, wenn im Einzelfall bei einer solchen Sache die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters nicht notwendig erscheint.


Entscheidung

352. BGH 2 StR 425/15 - Beschluss vom 28. Januar 2016 (LG Erfurt)

Urteilsgründe (Umfang der erforderlichen Sachverhaltsdarstellung).

§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Die Urteilsgründe müssen so abgefasst werden, dass sie erkennen lassen, welche der festgestellten Tatsachen den objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen der abgeurteilten Taten zuzuordnen sind und diese ausfüllen können.

2. Die Urteilsgründe haben jedoch nicht die Aufgabe, jede Einzelheit des Rahmengeschehens darzustellen. Die Wiedergabe von zahlreichen nebensächlichen Details ohne erkennbare Entscheidungserheblichkeit macht die Urteilsgründe unübersichtlich, fehleranfällig und führt zu unnötiger Schreibund Lesearbeit. § 267 Abs. 1 StPO erfordert auch nicht die Dokumentation aller in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise, sondern nur der wesentlichen Beweisergebnisse und ihrer Würdigung durch das Tatgericht. Die Urteilsgründe sollen alles Wesentliche enthalten, aber nicht mehr als dies. Für ihre sachgerechte Abfassung tragen die Berufsrichter der Strafkammer die Gesamtverantwortung.


Entscheidung

302. BGH 3 StR 481/15 - Beschluss vom 23. Februar 2016 (LG Osnabrück)

Keine Begründung der Befangenheit des Sachverständigen aufgrund vermeintlich fehlender Sachkunde (freie Entscheidung des Sachverständigen bzgl. Untersuchungsmethode; „Psychopathy-Checklist“).

§ 74 StPO

Bei der Erstattung eines psychiatrischen Gutachtens hat der Sachverständige selbst zu entscheiden, welche Untersuchungsmethoden er anwendet; seine diesbezügliche Vorgehensweise kann seine Befangenheit nicht begründen. Da (vermeintlich) mangelnde Sachkunde keinen Befangenheitsgrund ergibt (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 110 mwN), gilt dies auch dann, wenn sich die Methodenauswahl tatsächlich als fehlerhaft erwiese.


Entscheidung

329. BGH 1 StR 582/15 - Beschluss vom 17. Februar 2016 (LG Hof)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (keine nachteilige Verwertung des Schweigens des Angeklagten).

§ 261 StPO

Dem Angeklagten steht es frei, ob er sich zur Sache einlässt. Der unbefangene Gebrauch dieses Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der Angeklagte die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste. Deshalb dürfen weder aus der durchgehenden noch aus der anfänglichen Aussageverweigerung nachteilige Schlüsse gezogen werden (st. Rspr.).


Entscheidung

388. BGH 4 StR 526/15 - Beschluss vom 16. Februar 2016 (LG Essen)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Auseinandersetzung mit Sachverständigengutachten im Urteil).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

Widerspricht das mündlich erstattete Sachverständigengutachten dem vorbereitenden – schriftlichen - Gutachten in entscheidenden Punkten, so muss sich das Gericht mit diesen Widersprüchen auseinandersetzen und nachvollziehbar darlegen, warum es das eine Ergebnis für zutreffend, das andere für unzutreffend erachtet vgl. BGH NStZ 2005, 161).


Entscheidung

327. BGH 1 StR 518/15 - Beschluss vom 3. März 2016

Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand (Begriff der Frist: Frist zur Abgabe einer Gegenerklärung nach § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO).

§ 44 StPO; § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO

Auf die durch § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO bestimmte Frist zur Abgabe einer Gegenerklärung zu dem Antrag der Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht, findet die Wiedereinsetzung gemäß § 44 StPO keine Anwendung. Bei der genannten zweiwöchigen Frist, die keine Ausschlussfrist ist, handelt es sich nicht um eine Frist im Sinne von § 44 Satz 1 StPO.


Entscheidung

377. BGH 4 StR 448/15 - Beschluss vom 3. Februar 2016 (LG Münster)

Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand (Begründung des Antrags: Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses).

§ 44 StPO; § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO

Der innerhalb der Wochenfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO anzubringende und zu begründende Wiedereinsetzungsantrag muss nicht nur Angaben zur versäumten Frist und zum Hinderungsgrund, sondern auch zum Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses enthalten (st. Rspr.). Maßgeblich für den Wegfall des Hindernisses und damit den Beginn der Wiedereinsetzungsfrist ist die Kenntnis des Angeklagten, nicht die seines Verteidigers (st. Rspr).

Eines entsprechenden Vortrags bedarf es selbst dann, wenn der Verteidiger ein eigenes Verschulden geltend macht, das dem Angeklagten nicht zuzurechnen wäre.