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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2016
17. Jahrgang
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1. Art. 1 Abs. 3, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, sofern sie über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben
verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat belegen, konkret und genau prüfen muss, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassener Haftbefehl richtet, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung in diesem Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird, falls sie ihm übergeben wird. Dabei muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen bitten, und Letztere muss diese Informationen, nachdem sie erforderlichenfalls die oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses um Unterstützung ersucht hat, innerhalb der im Ersuchen gesetzten Frist übermitteln. Die vollstreckende Justizbehörde muss ihre Entscheidung über die Übergabe der betreffenden Person aufschieben, bis sie die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihr gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist. (EuGH)
2. Der RBEuHB soll das überkommene Auslieferungssystem durch ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung von Urteilen oder zur Strafverfolgung ersetzen. Der RBEuHB setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten darin voraus, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten. (Bearbeiter)
3. Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Unter „außergewöhnlichen Umständen“ sind freilich Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich. (Bearbeiter)
4. In der Regel ist die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde nur in den abschließend aufgezählten Fällen möglich, in denen sie nach Art. 3 des Rahmenbeschlusses abzulehnen ist oder nach den Art. 4 und 4a des Rahmenbeschlusses abgelehnt werden kann. Außerdem kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nur an eine der in Art. 5 des Rahmenbeschlusses erschöpfend aufgeführten Bedingungen geknüpft werden. Freilich berührt der RBEuHB, wie aus seinem Art. 1 Abs. 3 hervorgeht, nicht die Pflicht, die Grundrechte, wie sie insbesondere in der Charta niedergelegt sind, zu achten. (Bearbeiter)
5. Die GRC kommt nach Art. 51 Abs. 1 GRC zur Anwendung, wenn die ausstellende Justizbehörde und die vollstreckende Justizbehörde die zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses ergangenen nationalen Bestimmungen anwenden. (Bearbeiter)
6. Das in Art. 4 GRC aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist. (Bearbeiter)
7. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darf nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung dieser Person führen. Daher ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, im Licht des durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandards der Grundrechte und insbesondere von Art. 4 GRC verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie über die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats zu entscheiden hat. (Bearbeiter)
8. Die Würdigung der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung hat abstrakt und konkret zu erfolgen. (Bearbeiter)
9. Bei der abstrakten Würdigung, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Verfolgten führt, muss sich die vollstreckende Justizbehörde auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des EGMR, aus Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben. (Bearbeiter)
10. Bei der abstrakten Würdigung, ob aufgrund der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigenden Behandlung des Verfolgten droht, muss sich die vollstreckende Justizbehörde auf Angaben stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel belegen. (Bearbeiter)
11. Die abstrakte Feststellung des Vorliegens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (hier aufgrund der allgemeinen Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat) kann als solche nicht zur Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führen, weil dies nicht zwingend bedeutet, dass in einem konkreten Fall der Betroffene einer unmenschli-
chen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, sofern er den Behörden dieses Mitgliedstaats übergeben wird. (Bearbeiter)
12. Stellt die vollstreckende Justizbehörde fest, dass für die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aufgrund systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel besteht, so ist die Vollstreckung des Haftbefehls aufzuschieben, aber nicht aufzugeben. (Bearbeiter)
13. Beschließt die vollstreckende Justizbehörde einen solchen Aufschub, setzt der Vollstreckungsmitgliedstaat im Einklang mit Art. 17 Abs. 7 RBEuHB Eurojust von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis. Außerdem teilt nach dieser Bestimmung ein Mitgliedstaat, der wiederholt Verzögerungen bei der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen durch einen anderen Mitgliedstaat ausgesetzt gewesen ist, weil nach den Feststellungen der Vollstreckungsbehörden für den Verfolgten eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung besteht, diesen Umstand dem Rat mit, damit eine Beurteilung der Umsetzung des Rahmenbeschlusses auf Ebene der Mitgliedstaaten erfolgen kann. (Bearbeiter)
14. Wird die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund der (abstrakten wie konkreten) Feststellung der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung für den Verfolgten aufgeschoben, darf die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 6 GRC (ggf. iVm Art. 48 GRC) die betreffende Person nur in Haft behalten, solange das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt worden ist und somit keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt. (Bearbeiter)
15. Die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls kann schon aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 52 Abs. 1 GRC) keine unbefristete Inhaftierung der betreffenden Person rechtfertigen. (Bearbeiter)
16. Kommt die vollstreckende Justizbehörde zu dem Ergebnis, dass sie verpflichtet ist, die Inhaftierung der gesuchten Person zu beenden, muss sie die vorläufige Freilassung dieser Person mit den ihres Erachtens zur Verhinderung einer Flucht erforderlichen Maßnahmen verbinden. (Bearbeiter)
17. Sollte die vollstreckende Justizbehörde aufgrund der Informationen, die sie von der ausstellenden Justizbehörde erhalten hat, das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung der betreffenden Person im Ausstellungsmitgliedstaat ausschließen, muss sie innerhalb der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen ihre Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls treffen. (Bearbeiter)
1. Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG erfordert auch im Verfahrensrecht Beachtung. Entscheidungen, die auf einen Entzug der persönlichen Freiheit abzielen, müssen auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen. Das Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung beansprucht nicht nur im Erkenntnisverfahren, sondern auch im Vollstreckungsverfahren Geltung. Seine Reichweite hängt davon ab, inwieweit die Umstände des Einzelfalls zu weiterer Aufklärung Anlass geben.
2. Bei der Vollstreckung ausländischer Freiheitsstrafen im Inland ist es wegen des rechtshilferechtlichen Charakters der Vollstreckungsübernahme grundsätzlich Sache des Urteilsstaates und nicht der deutschen Vollstreckungsgerichte, festzustellen, ob der Vollstreckungsanspruch fortbesteht.
3. Der Fortbestand des Vollstreckungsinteresses ist allerdings dann zu klären, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Voraussetzungen für die Vollstreckung entfallen sein könnten. Dies ist etwa dann der Fall, wenn aus einer Mitteilung des zuständigen Gerichts im Urteilsstaat hervorgeht, dass zum Zeitpunkt der inländischen Vollstreckungsentscheidung nach dem Recht des Urteilsstaats Vollstreckungsverjährung eingetreten ist.
4. Das Interesse des Verurteilten an der verfassungsgerichtlichen Überprüfung einer Vollstreckungsentscheidung besteht angesichts des tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht fort, wenn die Strafvollstreckung endgültig eingestellt worden ist. Dies gilt selbst dann, wenn zwar ein Vollstreckungshaftbefehl ergangen, der Verurteilte jedoch nicht inhaftiert worden ist.
1. Der Bestimmtheitsgrundsatz, dessen Schutz sich auch auf die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten erstreckt, soll insbesondere sicherstellen, dass der Normadressat vorhersehen kann, welches Verhalten mit Strafe oder Buße bedroht ist, und andererseits gewährleisten, dass der Gesetzgeber und nicht erst die Gerichte über die Strafbarkeit oder Bußgeldvoraussetzungen entscheiden.
2. Der Tatbestand des § 3 Satz 1 Nr. 13 TierSchG, der es verbietet, ein Tier für sexuelle Handlungen zu nutzen, abzurichten oder zur Verfügung zu stellen, genügt den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der einschränkenden Tatbestandsmerkmale des im Tierschutzrecht gebräuchlichen Begriffs des „artwidrigen Verhaltens“ sowie des „Zwingens“ im Sinne körperlicher Gewalt oder eines damit vergleichbaren Verhaltens.
3. Soweit nicht in den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung eingegriffen wird, hat der Einzelne staatliche Beschränkungen seines Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung hinzunehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit oder im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Interessen Dritter unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots ergriffen werden.
4. Der Schutz von Tieren vor artwidrigen sexuellen Übergriffen ist ein durch Art. 20a GG mit Verfassungsrang ausgestattetes Ziel, dem das Gesetz mit dem – zumal nicht straf- sondern lediglich bußgeldbewehrten – Verbotstatbestand des § 3 Satz 1 Nr. 13 TierSchG in verhältnismäßiger Weise Rechnung trägt.
Die Auffassung des Bundesgerichtshofs, wonach in nichtöffentlicher Hauptverhandlung geführte Verständigungsgespräche in so enger Beziehung zur Einlassung des Angeklagten stehen, dass sie von dem für die Dauer seiner Einlassung erfolgten Ausschluss der Öffentlichkeit umfasst sind (BGH, Beschluss vom 12. November 2015 – 5 StR 467/15 [= HRRS 2016 Nr. 32]), begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken.
1. Einem Strafgefangenen ist in einem strafvollzugsrechtlichen Verfahren Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu gewähren, wenn seine Verfahrensrüge wegen eines Fehlers der Justiz offensichtlich nicht in einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Weise ausgeführt ist.
2. Ein Wiedereinsetzungsanspruch liegt nahe, wenn der die Rechtsbeschwerde aufnehmende Rechtspfleger lediglich protokolliert, es werde die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt, obwohl der Strafgefangene ihm einen umfangreichen Schriftsatz vorgelegt und erklärt hatte, diesen zur Grundlage seiner Beschwerdebegründung machen zu wollen.
3. Liegt der Wiedereinsetzungsgrund in einem der Justiz zuzurechnenden Fehler, erfordert es der Grundsatz des fairen Verfahrens, dass der Betroffene über die Wiedereinsetzungsmöglichkeit belehrt wird. Die Wiedereinsetzungsfrist beginnt nicht vor Erteilung dieser Belehrung.
4. Zu dem vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg gehört es regelmäßig auch, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen, soweit der Beschwerdeführer auf diese Weise fachgerichtlichen Rechtsschutz erlangen kann.
1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf eine Resozialisierung des Gefangenen auszurichten. Dies gilt auch für den Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
2. Besonders bei langjährig Inhaftierten ist es erforderlich, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Lebenstüchtigkeit des Betroffenen zu erhalten und zu festigen. Voraussetzung dafür ist es nicht, dass sich bei dem Gefangenen bereits Anzeichen einer haftbedingten Deprivation zeigen.
3. Auch wenn sich eine konkrete Entlassungsperspektive noch nicht abzeichnet und weitergehende Lockerungen wegen Flucht- oder Missbrauchsgefahr ausscheiden, kann es bei langjährig Inhaftierten geboten sein, Lockerungen in Gestalt von Ausführungen zu gewähren und den damit verbundenen personellen Aufwand hinzunehmen.