HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2012
13. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

150. BGH 2 StR 346/11 – Beschluss vom 11. Januar 2012 (BGH)

Recht auf den gesetzlichen Richter (ordnungsgemäße Gerichtsbesetzung bei Vergabe eines doppelten Senatsvorsitzes; materielle Gewährleistung einer tatsächlichen Unabhängigkeit und normativ legitim zu erwartende Leistungsfähigkeit: sachgerechte Ausübung der Leitungsfunktion durch den Vorsitzenden).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 21e GVG; § 21f Abs. 2 GVG

1. Der Geschäftsverteilungsplan, mit dem Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann ab 1. Januar 2012 dem 2. Strafsenat als Vorsitzender zugewiesen ist, steht mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in Einklang. Er führt zu einer nicht ordnungsgemäßen Besetzung des Senats.

2. Jeder Spruchkörper hat bei auftretenden Bedenken die Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung von Amts wegen zu prüfen und darüber in eigener Verantwortung zu entscheiden. Dies gilt unabhängig vom Vorliegen eines Besetzungseinwands von Verfahrensbeteiligten. Auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Verbindlichkeit von Geschäftsverteilungsplänen steht dem nicht entgegen.

3. Die Verteilung der richterlichen Aufgaben liegt zwar im pflichtgemäßen Ermessen des Präsidiums, dem dabei ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum eingeräumt ist. Davon unberührt bleibt aber die Prüfung, ob im Rahmen des Geschäftsverteilungsplans der Grundsatz des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG mit seinen Gewährleistungen hinreichende Beachtung gefunden hat.

4. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG stellt auch materielle Anforderungen an den gesetzlichen Richter. Nur der neutrale, unparteiliche und unabhängige Richter ist gesetzlicher Richter im Sinne der Verfassungsnorm. Herausragende Bedeutung kommt dabei der durch Art. 97 GG geschützten Unabhängigkeit des Richters zu. Sie fordert auch

Minimalbedingungen für die freie Ausübung der richterlichen Tätigkeit. So wenig ein Richter durch Maßnahmen der Geschäftsverteilung aus seinem Amt verdrängt werden darf, so wenig darf er mit unerfüllbaren Aufgaben beauftragt werden, indem ihm ein Pensum auferlegt wird, das sich in sachgerechter Weise nicht mehr erledigen lässt. Eine sichere oder auch nur in Kauf genommene dauerhafte Überlastung eines Richters beeinträchtigt die gleichmäßige Verwirklichung des Justizgewährungsanspruchs der Rechtssuchenden. Sie stellt die Unabhängigkeit des Richters bei der Erledigung der ihm übertragenen Aufgaben in Frage.

5. Kern der Tätigkeit der Strafsenate des BGH ist die rechtliche Überprüfung schriftlicher, oft umfangreicher Urteilsgründe anhand ebenfalls schriftlicher Revisionsschriftsätze. Diese Aufgabe kann sachgerecht nur erfüllt werden, wenn die in den sog. „Senatsheften“ – die mitunter viele hundert Seiten umfassen können – enthaltenen Revisionsunterlagen sorgfältig durchgearbeitet werden. All dies kann dem Vorsitzenden nicht durch den Vortrag eines – unter Umständen weniger erfahrenen – Berichterstatters vermittelt werden.

6. Der Vorsitzende eines Strafsenats des BGH leitet die Beratung, er stellt die Fragen und sammelt die Stimmen (§ 194 Abs. 1 GVG). Er übernimmt in der Regel keine eigenen Berichterstattungen und beschränkt sich regelmäßig – ohne besondere Gestaltung in einzelnen Verfahren – darauf, durch die Leitung von Beratung und Hauptverhandlung die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Senats sicherzustellen. Die Begleitung und Kontrolle des Berichterstatters durch den Vorsitzenden erweist sich als notwendig, um einen grundrechtlich garantierten effektiven Rechtsschutz durch den erforderlichen substanziellen Zugriff auf die inmitten stehenden Rechtsfragen sicherzustellen.


Entscheidung

173. BGH 4 StR 523/11 – Beschluss vom 11. Januar 2012 (LG Flensburg)

Gesetzlicher Richter (ordnungsgemäße Besetzung bei Übernahme zweier Strafsenate durch den Senatsvorsitzenden).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 21e GVG; § 21f GVG; § 160a StPO

1. Der Senat ist mit dem Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann trotz dessen Übernahme des 2. Strafsenats vorschriftsmäßig besetzt, auch wenn im Kollisionsfall die Tätigkeit im 2. Strafsenat vorgeht. Das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Absatz 1 Satz 2 GG) ist gewahrt.

2. Ein Fall der Divergenz zu der Entscheidung des 2. Strafsenats vom 11. Januar 2012 – 2 StR 346/11 – liegt nicht vor, weil der 2. Strafsenat in einem späteren Urteil vom gleichen Tag – 2 StR 482/11 – diese Rechtsprechung aufgegeben hat.


Entscheidung

99. BGH 3 StR 315/11 – Beschluss vom 25. Oktober 2011 (auswärtige große Strafkammer des Landgerichts Kleve in Moers)

Mündlichkeitsprinzip; Inbegriff der Hauptverhandlung; Verlesung eines psychiatrischen Behandlungsberichts; Anordnung des Vorsitzenden (Antrag auf Entscheidung der Kammer; Rüge der Verletzung zwingenden Rechts).

§ 238 StPO; § 261 StPO; § 250 StPO; § 251 StPO; § 256 StPO

1. Ein Antrag nach § 238 Abs. 2 StPO auf Entscheidung der gesamten Kammer ist nicht Voraussetzung dafür, dass ein Verstoß gegen § 250 StPO mit der Revision zulässig geltend gemacht werden kann.

2. Bedarf eine Maßnahme in der Hauptverhandlung von vornherein eines Gerichtsbeschlusses, so ist – falls der Vorsitzende die Maßnahme gleichwohl allein anordnet – schon der Anwendungsbereich des § 238 Abs. 1 StPO nicht eröffnet. Es besteht demgemäß kein Anlass für ein Verfahren nach § 238 Abs. 2 StPO. Dieses kann damit auch nicht Voraussetzung einer zulässigen Rüge im Revisionsverfahren sein.

3. Die Verletzung zwingenden Rechts oder das Unterlassen unverzichtbarer Maßnahmen durch den Vorsitzenden kann ein Revisionsführer auch dann rügen, wenn er in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht nach § 238 Abs. 2 StPO vorgegangen ist.

4. Da es bei der Entscheidung des Vorsitzenden über die Zulässigkeit der Verlesung nach § 256 Abs. 1 StPO allein darum geht, die gegebenen Verfahrenstatsachen unter die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm zu subsumieren, handelt sich insoweit um die Anwendung zwingenden Rechts. Daher ist ein Verstoß auch dann revisibel, wenn nicht gemäß § 238 Abs. 2 StPO auf Entscheidung der Kammer angetragen wurde.

5. Zwar ist dem Vorsitzenden im Falle des Vorliegens der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verlesung gem. § 256 Abs. 1 StPO bei der Entscheidung über die Verlesung ein Ermessensspielraum eröffnet. Dies ändert jedoch an der Verzichtbarkeit des Antrags nach § 238 Abs. 2 StPO nichts, soweit die Revision lediglich rügt, dass schon die – keinen Ermessenspielrum eröffnenden – Voraussetzungen der Norm nicht vorgelegen hätten, und nicht die Ausübung des Ermessens durch den Vorsitzenden angreift.

5. Der Senat lässt offen, ob er sich dem Ansatz des 1. Strafsenats anzuschließen vermöchte, wonach die Verletzung eines Rechts, auf das der Angeklagte nach seinem Belieben verzichten kann, mit der Revision nur rügbar ist, wenn der Angeklagte zuvor nach § 238 Abs. 2 StPO auf eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers angetragen hat.


Entscheidung

136. BGH 1 StR 547/11 – Beschluss vom 20. Dezember 2011 (LG München I)

Reichweite des Verwertungsverbots gemäß § 252 StPO bei Berufsgeheimnisträgern (Widerruf der Entbindung des behandelnden Arztes von der Schweigepflicht); Darlegungsanforderungen bei der Rüge der Verletzung des Konfrontationsrecht des Angeklagten.

§ 252 StPO; § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO; Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Zwar ist die Vorschrift des § 252 StPO grundsätzlich auch auf Berufsgeheimnisträger i.S.v. § 53 StPO anwend-

bar. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, an der der Senat festhält, darf aber der Ermittlungsrichter über den Inhalt der Aussage eines gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigten Arztes vernommen werden, die dieser vor dem Ermittlungsrichter gemacht hat, wenn der Arzt bei dieser Aussage gemäß § 53 Abs. 2 StPO von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden war (BGHSt 18, 146; BGH StV 1997, 233).

2. Durch das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 StPO wird der Berufsgeheimnisträger geschützt und nicht diejenige Person, die ihn von der Schweigepflicht entbinden kann. Ihr Recht beschränkt sich darauf, darüber zu entscheiden, ob sie den Berufsgeheimnisträger von der Schweigepflicht entbindet oder nicht. Sie hat indes keinen Anspruch darauf, dass der Berufsgeheimnisträger die Aussage verweigert und das Gericht nicht verwertet, was er gleichwohl ausgesagt hat (BGHSt 18, 146, 147).

3. Macht der zunächst von der Schweigepflicht entbundene Berufsgeheimnisträger im Ermittlungsverfahren seine Angaben nicht vor einem Ermittlungsrichter, sondern im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung, führt dies ebenfalls nicht zum Vorliegen eines Verwertungsverbots gemäß § 252 StPO. Die Verwertbarkeit der Angaben der Vernehmungsperson ergibt sich im Fall der Vernehmung einer jedenfalls zu diesem Zeitpunkt von der Schweigepflicht entbundenen Person nicht erst aus der besonderen Bedeutung der richterlichen gegenüber einer sonstigen Vernehmung.

4. Eine Rüge der Verletzung des Konfrontationsrechts ist gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unzulässig, wenn sie sich lediglich auf die Behauptung einer Verletzung des Konfrontationsrechts beschränkt und weder Angaben zum Inhalt der Vernehmung noch dazu enthält, ob der Angeklagte oder die Verteidigung von dem Vernehmungstermin unterrichtet waren, wann sie vom Inhalt der Vernehmung Kenntnis erlangt haben und ob sie zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens die Gelegenheit hatten, den Zeugen zu befragen oder befragen zu lassen. Insbesondere ist ein Versuch, eine Befragung des Zeugen zu erwirken, mitzuteilen. Es ist mitzuteilen, welche über die vom Vernehmenden gestellten hinausgehenden weiteren Fragen dem Zeugen hätten gestellt werden sollen.


Entscheidung

169. BGH 4 StR 500/11 – Urteil vom 8. Dezember 2011 (LG Essen)

Unterbliebene Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht (Verwertungsverbot bei Bedeutung für den Mitangeklagten); Hehlerei (Ankaufen; Sichverschaffen).

§ 52 Abs. 3 StPO; § 261 StPO; § 337 StPO; § 259 StGB

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann in einem Verfahren gegen mehrere Beschuldigte der Angehörige eines Beschuldigten im Hinblick auf die Zwangslage, in der er sich befindet, das Zeugnis in vollem Umfang verweigern, wenn die Aussage auch seinen Angehörigen betrifft. Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass in irgendeinem Verfahrensabschnitt, also auch im Ermittlungsverfahren, ein gegen die mehreren Beschuldigten gerichtetes zusammenhängendes einheitliches Verfahren in Bezug auf dieselbe Tat im Sinne des historischen Geschehens anhängig war (BGHSt 32, 25, 29; 34, 138, 141). Für diesen Zusammenhang im Sinne einer prozessualen Gemeinsamkeit reicht die Gleichzeitigkeit der Ermittlungen im Sinne eines bloß faktisch gemeinsamen Vorgangs nicht aus. Sie kann nur durch eine ausdrückliche Willensentscheidung der Staatsanwaltschaft begründet werden (BGHSt 34, 215, 217). Das Zeugnisverweigerungsrecht erlischt grundsätzlich erst mit dem rechtskräftigen Abschluss des gegen den Mitbeschuldigten gerichteten Verfahrens oder mit dessen Tod (BGHSt 54, 1, 4 m.w.N.).

2. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn der als Zeuge vernommene Angehörige eines früheren Mitbeschuldigten damals ebenfalls Mitbeschuldigter war.

3. Unterbleibt die Belehrung entgegen § 52 Abs. 3 StPO und ist dieser Verfahrensverstoß auch nicht anderweitig geheilt worden ist, besteht für die zeugenschaftlichen Angaben grundsätzlich ein Beweisverwertungsverbot.

4. Die Tatmodalität des Ankaufens im Sinne des § 259 Abs. 1 StGB setzt in objektiver Hinsicht das Einvernehmen zwischen Vortäter und Hehler im Sinne einer vertraglichen Vereinbarung sowie die Übertragung der Verfügungsgewalt an den jeweiligen Gegenständen voraus.


Entscheidung

121. BGH 5 StR 434/11 – Beschluss vom 14. Dezember 2011 (LG Hamburg)

Zeugnisverweigerungsrecht (Verfahren gegen einen Verwandten; Beweisverwertungsverbot bei mangelnder Belehrung; Begünstigung eines Mitbeschuldigten im Wege eines Rechtsreflexes).

§ 52 StPO

1. Der Senat deutet Zweifel an der bisherigen Rechtsprechung an, wonach ein Zeuge hinsichtlich aller Beschuldigter zur Verweigerung des Zeugnisses gemäß § 52 Abs. 1 StPO berechtigt und hierüber auch zu belehren ist, wenn sich ein einheitliches Verfahren gegen mehrere Beschuldigte richtet oder gerichtet hat und der Zeuge jedenfalls zu einem von ihnen in einem von § 52 Abs. 1 StPO erfassten Angehörigenverhältnis steht, sofern der Sachverhalt, zu dem er aussagen soll, auch seinen Angehörigen betrifft.

2. Stattdessen könnte das Zeugnisverweigerungsrecht nach nicht tragender Überlegung des Senats auch nur so lange Bestand haben, wie sich das Verfahren im Zeitpunkt der Entscheidung über das Verweigerungsrecht noch gegen einen angehörigen Angeklagten richtet und nicht – davon gelöst – lediglich als Rechtsreflex auch Nichtangehörige begünstigt.


Entscheidung

145. BGH 2 StR 112/11 – Beschluss vom 23. November 2011 (LG Darmstadt)

Unmittelbarkeitsgrundsatz bei der Zeugenvernehmung (Verlesung von Vernehmungsprotokollen; Widerruf der Zustimmung der Verteidigung); Inbegriff der Hauptverhandlung (Mitschriften unzuständiger Richter der entscheidenden Strafkammer).

§ 249 Abs. 2 StPO; § 250 StPO; § 251 Abs. 1, Abs. 4 StPO; § 261 StPO

1. Es bleibt offen, ob die Zustimmung der Verteidigung zur Verlesung von Vernehmungsprotokollen nach der Anordnung der Beweiserhebung aber noch vor der Verlesung widerrufen werden kann. Denn das Landgericht hat die Niederschriften dieser Vernehmungen im Urteil nicht verwertet, so dass der Senat jedenfalls ausschließen kann, dass das Urteil auf dem gerügten Verfahrensfehler beruht.

2. Das Vorgehen, eine zwar der Strafkammer, nicht aber dem erkennenden Spruchkörper angehörende Richterin „zur Entlastung“ des Berichterstatters „ebenfalls mitschreiben“ zu lassen, erscheint unter dem Blickwinkel eines möglichen Verstoßes gegen § 261 StPO nicht unbedenklich. Die Anfertigung von Mitschriften gemäß § 261 StPO obliegt allein den Mitgliedern des erkennenden Gerichts und kann nicht auf Dritte delegiert werden.


Entscheidung

163. BGH 4 StR 430/11 – Beschluss vom 8. Dezember 2011 (LG Rostock)

Beweisantrag bei selbst geladenen Zeugen der Verteidigung (präsentes Beweismittel; Alternativitätsrüge; Darlegungsanforderungen).

§ 245 Abs. 2 StPO; § 244 Abs. 3 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 38 StPO; § 220 StPO

1. Ein Angeklagter kann die Vorladung von Beweispersonen im Sinne des § 245 Abs. 2 Satz 1 StPO gemäß §§ 220, 38 StPO nur mit Hilfe eines Gerichtsvollziehers bewirken (BGH NStZ 1981, 401). Er hat die förmliche Ladung nachzuweisen, wenn diese nicht aktenkundig ist. Die Einhaltung der Ladungsform gemäß § 38 StPO erübrigt sich nicht dadurch, dass die Verteidigung einen nach § 245 Abs. 2 Satz 1 StPO ohnehin erforderlichen Beweisantrag stellt.

2. Eine zulässige Verfahrensrüge setzt gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO voraus, dass der behauptete Verstoß gegen formelles Recht so konkret und bestimmt vorgetragen wird, dass keine Zweifel verbleiben, welche Verfahrensvorschrift verletzt sein und anhand welcher Norm der gerügte Verstoß geprüft werden soll. Dies gilt namentlich dann, wenn zwei Vorschriften inmitten stehen, die ähnliche Regelungen enthalten, sich aber im entscheidungserheblichen Punkt doch unterscheiden: § 245 Abs. 2 Satz 3 StPO erlaubt die Ablehnung eines Beweisantrags – soweit hier von Interesse – nur, wenn zwischen der Beweistatsache und dem Gegenstand der Urteilsfindung kein Zusammenhang besteht; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO lässt hingegen Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen genügen.


Entscheidung

98. BGH 3 StR 284/11 – Urteil vom 1. Dezember 2011 (LG Kleve)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags (Antrag auf ein anthropologisches Identitätsgutachten; völlig ungeeignetes Beweismittel; Klärung im Freibeweis); Verwertungsverbot nach nicht verstandener Belehrung (Beweiserfordernis; mögliche psychotische Störung).

§ 244 Abs. 3, Abs. 4 StPO; § 163a Abs. 4 Satz 2, § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO

1. Ein Beweismittel ist völlig ungeeignet im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO, wenn ungeachtet des bisher gewonnenen Beweisergebnisses nach sicherer Lebenserfahrung feststeht, dass sich mit ihm das im Beweisantrag in Aussicht gestellte Ergebnis nicht erreichen lässt und die Erhebung des Beweises sich deshalb in einer reinen Förmlichkeit erschöpfen müsste.

2. Wird eine Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt, so kommt völlige Ungeeignetheit in Betracht, wenn es nicht möglich ist, dem Sachverständigen die tatsächlichen Grundlagen zu verschaffen, deren er für sein Gutachten bedarf. Umgekehrt ist ein Sachverständiger nicht schon dann ein völlig ungeeignetes Beweismittel, wenn er absehbar aus den Anknüpfungstatsachen keine sicheren und eindeutigen Schlüsse zu ziehen vermag. Als Beweismittel eignet er sich vielmehr schon dann, wenn seine Folgerungen die unter Beweis gestellte Behauptung als mehr oder weniger wahrscheinlich erscheinen lassen und hierdurch unter Berücksichtigung des sonstigen Beweisergebnisses Einfluss auf die Überzeugungsbildung des Gerichts erlangen können.

3. Ob eine sachverständige Begutachtung auf der verfügbaren tatsächlichen Grundlage zur Klärung der Beweisbehauptung nach diesen Maßstäben geeignet ist, kann und muss der Tatrichter in Zweifelsfällen im Wege des Freibeweises – etwa durch eine Befragung des Sachverständigen zu den von ihm für eine Begutachtung benötigten Anknüpfungstatsachen – klären.

4. Soll ein Beweisverwertungsverbot geltend gemacht werden, weil der Angeklagte eine Aussage nur gemacht habe, da er eine Belehrung bei seiner polizeilichen Vernehmung wegen einer akuten psychotischen Störung nicht verstanden habe, muss dieser Umstand sicher festgestellt werden. Dem Beschluss des Bundesgerichtshofs 1 StR 454/06 vom 8. November 2006 (BGHR StPO § 136 Belehrung 14) liegt entgegen Stimmen in der Literatur kein anderer rechtlicher Maßstab zugrunde.


Entscheidung

157. BGH 2 StR 483/11 – Beschluss vom 22. Dezember 2011 (LG Köln)

Unzulässig erhobene Rüge der nicht ordnungsgemäßen Besetzung (Durchführung einer Schöffenwahl).

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 42 GVG

Werden Schöffen anhand einer Vorschlagsliste nach ihrer Platzziffer im Wege eines Abzählverfahrens bzw. in rastermäßigen Schritten übernommen, muss die Verfahrensrüge, die jenes Verfahren als Verstoß gegen § 42 GVG beanstandet, darlegen, dass die Schöffen des Verfahrens von diesem Wahlverfahren betroffen sind, falls die Schöffen die beanstandeten Platzziffern nicht aufweisen. Zudem muss die Revision mitteilen, ob der Wahlausschuss einen Willen dahingehend gebildet hat, dass die im Wege einer (möglicherweise) auf einem Abzählmuster basierenden Vorauswahl ermittelten Personen als Schöffen gewählt sein sollten.


Entscheidung

164. BGH 4 StR 430/11 – Beschluss vom 8. Dezember 2011 (LG Rostock)

Unzulässiger Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Zurechnung von Anwaltsverschulden bei den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Wiedereinsetz-

ungsantrags: Unterschrift eines nicht mandatierten Rechtsanwalts, Mehrfachverteidigung; Darlegung des Zeitpunkts des Wegfalls des Hindernisses).

§ 44 StPO; § 45 StPO; § 345 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 StPO; § 146 StPO

1. Innerhalb der Wochenfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO muss der Antragsteller auch Angaben über den Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses machen. Entscheidend für den Fristbeginn ist der Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch den Angeklagten.

2. Jedenfalls in den Fällen, in denen wie hier die Wahrung der Frist des § 45 Abs. 1 StPO nach Aktenlage nicht offensichtlich ist, gehört zur formgerechten Anbringung des Wiedereinsetzungsantrags, dass der Antragsteller mitteilt, wann das Hindernis, das der Fristwahrung entgegenstand, weggefallen ist (BGHR StPO § 45 Abs. 2 Tatsachenvortrag 7). Dies gilt selbst dann, wenn der Verteidiger ein eigenes Verschulden geltend macht, das dem Angeklagten nicht zuzurechnen wäre (BGH, Beschluss vom 4. August 2010 – 2 StR 365/10).

3. Ein Pflichtverteidiger kann seine Befugnisse nicht auf einen von ihm bevollmächtigten, mit ihm in Bürogemeinschaft verbundenen und für einen Mitangeklagten als Pflichtverteidiger bestellten Rechtsanwalt wirksam übertragen (BGHR StPO § 349 Abs. 1 Einlegungsmangel 2 m.w.N., BGH NStZ 1995, 356 f.).


Entscheidung

175. BGH 4 StR 553/11 – Beschluss vom 21. Dezember 2011 (LG Saarbrücken)

Wirksamer Eröffnungsbeschluss (Unterschriften; Mitwirkung aller Berufsrichter; Verfahrenshindernis); unzulässiger Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

§ 44 StPO; § 203 StPO

Ein Eröffnungsbeschluss ist unwirksam, wenn er nicht von der im Gesetz vorgeschriebenen Anzahl an Richtern erlassen wurde. Hierbei kommt es aber nicht auf die Zahl der Unterschriften, sondern auf die Zahl der Richter an, die bei der Beschlussfassung mitgewirkt haben (BGHSt 10, 278, 279). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Er ist hieran auch nicht durch die im Beschluss des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 29. September 2011 (3 StR 280/11) als entgegenstehend zitierte Rechtsprechung gehindert. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in späteren Entscheidungen eine etwaige entgegenstehende frühere Rechtsprechung aus dem Jahr 1977 aufgegeben (vgl. BGH NStZ-RR 2000, 34). Der 4. Strafsenat hält an einer etwaigen entgegenstehenden Rechtsprechung nicht fest.


Entscheidung

124. BGH 5 StR 471/11 – Beschluss vom 14. Dezember 2011 (LG Itzehoe)

Adhäsionsverfahren; Feststellungsanspruch (Haftungsquote).

§ 406 StPO

Steht im Raum, dass der Adhäsionskläger einen Teil des ihm entstandenen Schadens selbst zu tragen hat, so muss auch bei einem Feststellungsausspruch im Rahmen des Adhäsionsverfahrens gemäß § 256 Abs. 1 ZPO eine entsprechende Quote festgestellt werden. Zudem ist auszusprechen, zu welchem Bruchteil die Schadensersatzpflicht besteht.