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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2012
13. Jahrgang
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1. Für einen gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK legitimen Eingriff in das Recht auf Freiheit und Sicherheit muss der Staat eine konkrete und spezifische Gefahr der Begehung einer Straftat vorweisen können. Dies betrifft insbesondere den Ort, die Zeit und die Opfer der möglichen Tat. Der Zweck des Eingriffs muss zudem darin liegen, den Inhaftierten einer zuständigen Gerichtsbehörde zuzuführen.
2. Für einen gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK legitimen Eingriff muss der Staat die Durchsetzung einer tatsäch-
lich vorhandenen und spezifischen Pflicht des Betroffenen bezwecken. Ein Strafzweck darf dem Eingriff nicht beizumessen sein. Eine allgemeine Pflicht, das (Straf)Recht zu wahren, genügt für Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK nicht.
3. Die EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, durch ihre Behörden angemessene Schritte im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unternehmen, um Straftaten zu verhindern, von deren bevorstehender Begehung der Staat Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen. Diese Pflicht erlaubt dem Staat aber nicht, den Schutz durch eine Verletzung der Konventionsrechte zu verwirklichen. Dies gilt insbesondere für Art. 5 EMRK.
4. Einzelfall der Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit durch eine mehrtägige Inhaftierung, mit der – im Kontext von Inhaftierungen anderer Demonstrationsteilnehmer – das Vorzeigen der Transparente „free all now“ und „freedom for all prisoners“ auf einer erneuten Demonstration verhindert werden sollte.
5. Die Versammlungsfreiheit des Art. 11 EMRK ist auch darauf gerichtet, die Äußerung persönlicher Meinungen im Sinne des Art. 10 EMRK zu ermöglichen. Rügt ein Beschwerdeführer, dass er durch den Staat daran gehindert worden sei, seine Meinung zur Inhaftierung von Demonstrationsteilnehmern gemeinsam mit anderen auf einer Demonstration äußern zu dürfen, ist Grundlage der Überprüfung Art. 11 EMRK, der hier aber auch im Lichte des Schutzes der Äußerungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK betrachtet werden muss.
6. Allein der Umstand, dass die Sicherheitskräfte eines G8-Gipfels auch die Teilnahme gewaltbereiter Personen erwarten, nimmt friedlichen Organisatoren und Teilnehmern einer Demonstration nicht den Schutz der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK.
7. Einzelfall der Verletzung der Versammlungsfreiheit durch die Vereitelung einer Demonstrationsteilnahme, bei der – im Kontext von Inhaftierungen anderer Demonstrationsteilnehmer – die Transparente „free all now“ und „freedom for all prisoners“ gezeigt werden sollten.
1. § 130 Abs. 4 StGB greift in den Schutzbereich der von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Meinungsfreiheit ein, indem er die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft mit Strafe bedroht; denn auch Äußerungen, die die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes in frage stellen, sind nicht von vornherein vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgenommen.
2. Beschränkungen der Meinungsfreiheit sind nach Art. 5 Abs. 2 Alt. 1 GG grundsätzlich nur auf der Grundlage eines allgemeinen Gesetzes zulässig. Das Grundgesetz garantiert damit ein spezifisches und striktes Diskriminierungsverbot gegenüber bestimmten Meinungen. Unter die allgemeinen Gesetze i. S. d. Art. 5 Abs. 2 Alt. 1 GG fallen Vorschriften nicht, wenn sie ein von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien gerichtetes Verbot beinhalten.
3. Der mit § 130 Abs. 4 StGB verbundene Eingriff in die Meinungsfreiheit ist nicht unmittelbar auf der Grundlage des Art. 5 Abs. 2 Alt. 1 GG gerechtfertigt, weil es sich bei der Strafnorm nicht um ein allgemeines Gesetz handelt. Die Strafdrohung ist vielmehr ausschließlich auf Äußerungen in Bezug auf den Nationalsozialismus begrenzt und erfasst nicht generell die Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der Gewalt- und Willkürherrschaft totalitärer Regime.
4. Gleichwohl verstößt § 130 Abs. 4 StGB nicht gegen das Grundgesetz. Dieses wurde gerade als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes geschaffen. Deshalb ist Art. 5 GG eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts immanent, soweit es um Normen geht, die die propagandistische Gutheißung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft beschränken. Zulässig ist demnach allerdings keine inhaltliche Begrenzung der Meinungsfreiheit, sondern nur eine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügende, einem legitimen Zweck – wie hier dem Schutz des öffentlichen Friedens – dienende Einschränkung.
5. § 130 Abs. 4 StGB ist auch hinreichend bestimmt i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG. Der Tatbestand der Strafnorm ist auch hinsichtlich des Tatbestandsmerkmal der Störung des öffentlichen Friedens ausreichend konturiert, zumal er durch die weiteren, für sich genommen bereits hinreichend bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen der Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft in der Öffentlichkeit oder in einer Versammlung eingegrenzt wird.
6. Der Tatbestand des § 130 Abs. 4 StGB setzt konkret voraus, dass der Nationalsozialismus als historisch real gewordene Gewalt- und Willkürherrschaft gutgeheißen wird. Er kann auch in Form einer glorifizierenden Ehrung einer historischen Person verwirklicht werden, wenn sich aus den konkreten Umständen ergibt, dass diese als Symbolfigur für die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft als solche steht.
7. Das auf § 15 Abs. 1 VersG i. V. m. § 130 Abs. 4 StGB gestützte Verbot einer geplanten Versammlung unter freiem Himmel zu dem Thema „Gedenken an Rudolf Heß“ unterliegt demnach keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn mit ihr eine Billigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft verbunden wäre.
1. Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst Meinungen im Sinne durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägter Äußerungen sowie Tatsachenbehauptungen, soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen und nicht bewusst oder erwiesen unwahr sind.
2. Zu den allgemeinen Gesetzen, in denen die Meinungsfreiheit ihre Schranken findet, gehört auch § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB, der die öffentliche Verunglimpfung des Staates unter Strafe stellt. Bei der Anwendung eines derartigen grundrechtseinschränkenden Gesetzes ist dieses seinerseits dahingehend einschränkend auszulegen, dass der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit Rechnung getragen wird (sog. Wechselwirkung). Untersagt werden dürfen demnach nur Meinungen, die die Schwelle zu einer sich abzeichnenden Rechtsgutverletzung überschreiten.
3. Bei der Auslegung von Staatsschutznormen ist zu berücksichtigen, dass Art. 5 Abs. 1 GG gerade ein besonderes Schutzbedürfnis der Machtkritik anerkennt, so dass bei einer bloßen Polemik noch keine Strafbarkeit angenommen werden darf, auch wenn diese noch so verfehlt erscheint. Da dem Staat kein grundrechtlich geschützter Ehrenschutz zukommt, hat er grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten.
4. Die Schwelle zur Rechtsgutverletzung ist im Bereich des Staatsschutzes erst überschritten, wenn aufgrund der konkreten Art und Weise der Meinungsäußerung der Bestand oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen beeinträchtigt oder der öffentliche Friede gefährdet ist. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Bundesrepublik Deutschland jegliche Legitimation abgesprochen und dazu aufgerufen wird, sie zu ersetzen.
5. Ein Flugblatt, das sich kritisch gegen ein an den Anschlag Georg Elsers auf Adolf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller erinnerndes Theaterstück wendet, unterfällt dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit, wenn ihm bei einer Gesamtwürdigung naheliegenderweise die Aussage entnommen werden kann, die Theateraufführung dränge die Zuschauer zu Unrecht zu einer Verehrung Georg Elsers.
6. Ein derartiges Flugblatt überschreitet die Schwelle einer Rechtsgutverletzung nicht, wenn es überwiegend das zugrunde liegende historische Geschehen wertet, auch wenn dabei der herrschenden Wertung im System der Bundesrepublik entgegengetreten wird, solange dieses System nur in politischen Einzelaspekten wie etwa dem „K(r)ampf gegen Rechts“ kritisiert und nicht insgesamt in Frage gestellt wird.
1. Eine sitzungspolizeiliche Anordnung § 176 GVG, wonach Angeklagte, Zeugen und Nebenkläger in einem Strafverfahren im Rahmen der Presseberichterstattung nur anonymisiert („verpixelt“) abgebildet werden dürfen, greift in die von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete Pressefreiheit ein. Beim Erlass einer solchen Anordnung hat der Vorsitzende der Bedeutung der Pressefreiheit Rechnung zu tragen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
2. Bei der Folgenabwägung im Rahmen eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG ist das Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einer authentischen Berichterstattung in Form nicht anonymisierte Abbildungen des Angeklagten insbesondere der Unschuldsvermutung, dem Interesse an einer ungestörten Wahrheits- und Rechtsfindung und der Sicherheit des Angeklagten gegenüberzustellen.
3. Bei der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass mit der Anordnung der Anonymisierung eine bebilderte Berichterstattung aus dem Sitzungssaal nicht generell ausgeschlossen wird, sondern in weitem Umfang gestattet bleibt, so dass dem öffentlichen Informationsinteresse und den Belangen der Pressefreiheit weitgehend Rechnung getragen ist.
4. Die Unschuldsvermutung kann einer Veröffentlichung nicht anonymisierter Bilder nur noch in eingeschränktem Umfang entgegengehalten werden, wenn ein Angeklagter die ihm vorgeworfenen Taten bereits gestanden hat.
5. Der mit der Anordnung der Anonymisierung verbundene Eingriff in die Pressefreiheit ist zu rechtfertigen, wenn eine Veröffentlichung nicht anonymisierter Bilder die Sicherheit des Angeklagten gefährden würde, etwa weil nicht auszuschließen ist, dass im Hintergrund der Taten eine größere, international agierende verbrecherische Organisation steht und es im Umfeld des Angeklagten bereits zu Gewalthandlungen und Bedrohungen gekommen ist. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Angeklagte sich in Untersuchungshaft befindet.
1. Zur Erschöpfung des Rechtsweges i. S. d. § 90 Abs. 2 BVerfGG ist eine nach dem jeweiligen Verfahrensrecht statthafte Anhörungsrüge immer dann zu erheben, wenn sie bei objektiver Betrachtung nicht aussichtslos ist. Dies gilt auch, soweit der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen das von Art 103 Abs. 1 GG gewährleistete Recht auf rechtliches Gehör rügt, die Anhörungsrüge aber zur Korrektur der sonst gerügten Grundrechtsverstöße – wie etwa eines Verstoßes gegen das Freiheitsgrundrecht – führen kann.
2. Das Freiheitsgrundrecht unterliegt nach Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG nur der Einschränkung durch den Richter. Dieser darf sich bei der Ausführung und Kontrolle einer freiheitsbeschränkenden Entscheidung zwar der Mithilfe privater Dritter bedienen. Er darf die Entscheidung einem von ihm nicht steuer- oder kontrollierbaren Dritten jedoch nicht überantworten oder sie allein von dessen Urteil abhängig machen.
3. Vor dem Hintergrund des Freiheitsgrundrechts unterliegt es verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Aussetzung einer Unterbringung im Maßregelvollzug zur Bewährung vom Verhalten Dritter abhängig gemacht wird, etwa indem dem Betroffenen die Auflage erteilt wird, in einem bestimmten Männerwohnheim zu wohnen, welches jedoch zur Aufnahme nicht bereit ist. Die Gerichte haben in derartigen Fällen bestehende Alternativen zur Schaffung eines geordneten und strukturierten sozialen Empfangsraums auszuloten.
4. Wendet sich ein im Maßregelvollzug Untergebrachter mit dem Argument gegen die Versagung der Aussetzung seiner Unterbringung, die Aussetzung hätte nicht von der Aufnahmebereitschaft eines Wohnheims abhängig gemacht werden dürfen, so liegt ein Gehörsverstoß nahe, wenn die Gerichte sich weder mit diesem Argument, noch mit bestehenden Aufnahmealternativen auseinandergesetzt haben.