HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2012
13. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Verspieltes Vertrauen?

Ein Kommentar zur Vorladung und Befragung einzelner Richter des 2. Strafsenats des BGH vor das Präsidium des BGH

Von Andrea Groß-Bölting, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Strafrecht, Wuppertal

"Scherbenhaufen im BGH?", "Streit am BGH eskaliert" – so oder so ähnlich lauten die Überschriften diverser Veröffentlichungen, die sich mit der Entwicklung eines Streits um die Besetzung des Vorsitzendenpostens des zweiten Strafsenats des Bundesgerichtshofs beschäftigen.

Mit der am 08.02.2012 von dpa berichteten Entscheidung des 2. Strafsenats, anstehende Fälle trotz eigener Besetzungsbedenken zu entscheiden, und der Schilderung des Vorlaufs dieser Entscheidung erreicht der Streit einen Höhepunkt, der Sorgen machen muss und der geeignet ist, dass Vertrauen in die Justiz nachhaltig zu erschüttern.

In der Sitzung des zweiten Strafsenats am 08.02.2012 wurde öffentlich bekannt, dass drei Senatsmitglieder, die zuvor an einer umfassenden und juristisch sehr wohl überlegten Begründung, warum die aktuelle Besetzung des zweiten Strafsenats den Grundsatz des gesetzlichen Richters verletze, mitgewirkt hatten, zwischenzeitlich einzeln vor das Präsidium des BGH zu einer Anhörung geladen worden waren. Einer der geladenen Bundesrichter, RiBGH Christoph Krehl, schilderte den Inhalt der Anhörung wie folgt: "Es wurde vom Senat erwartet, seine im Beschluss vertretene Rechtsansicht aufzugeben oder zurückzustellen. … Weitere Fragen zielten darauf ab, wie ich persönlich mich verhalten werde und zukünftig zu verfahren gedenke". Der amtierende Vorsitzende des zweiten Senats, VRiBGH Ernemann, wiegelte ab, es handele sich um subjektive Eindrücke Krehls.

Dieser Vorgang ist über den konkreten Hintergrund hinaus und unabhängig von subjektiven Eindrücken der Beteiligten von großer Bedeutung und offenbart entweder ein Rechtsverständnis oder eine Gedankenlosigkeit des BGH-Präsidiums, die beide erschreckend wirken. Ob es in der Sache richtig ist, einen vakanten Vorsitzendenposten mit einem amtierenden Vorsitzenden eines anderen BGH-Senats zu besetzen, um dem Grundsatz des gesetzlichen Richters gerecht zu werden, oder ob es der Grundsatz des gesetzlichen Richters gebietet, dies gerade nicht zu tun und den Stellvertretenden Vorsitzenden

kommissarisch den Senat führen zu lassen, soll hier nicht diskutiert werden. Für beide Auffassungen gibt es juristische Gründe, die ernst zu nehmen sind und die das Dilemma, in dem sich der BGH befindet, ausmachen. Insofern ist dem BGH-Präsidium zu konzedieren, dass eine Lösung des Problems sehr schwierig ist.

Dass jedoch einzelne Senatsmitglieder, die an einer rechtlich abweichenden Entscheidung mitgewirkt haben, quasi einbestellt, zum Rapport geladen werden, ist nicht nur ein einmaliger Vorgang, sondern müsste einen Aufschrei in der Justiz verursachen. Dass es einen solchen bislang nicht gegeben hat, gibt Veranlassung zu einigen Anmerkungen aus der Sicht eines Organs der Rechtspflege:

1.

Dieser gesetzlich nicht geregelte Weg des BGH-Präsidiums ist unter keinem denkbaren Aspekt frei von einer Verletzung des Prinzips der Unabhängigkeit des Richters. Selbst bei vorsichtigster Betrachtung können die Grundkonstellationen dieses Vorgehens keine andere Bewertung ergeben. Dabei spielt es keine Rolle, ob ausdrücklich die Erwartung des Präsidiums (oder einzelner Mitglieder oder auch nur des Präsidenten) geäußert wurde, die vertretene Rechtsansicht des zweiten Senats aufzugeben oder zurückzustellen, oder ob dies "nur" von den vorgeladenen Richtern zwischen den Zeilen heraus gehört wurde. Bereits in der Tatsache, dass nur Senatsmitglieder zur Anhörung geladen wurden, die eine abweichende Rechtsauffassung, eine den Präsidiumsbeschluss zum Geschäftsverteilungsplan kritisierende Haltung vertreten, liegt ein Eingriff in die Unabhängigkeit des Richters begründet.

Das Signal, das von einem derartigen Vorgehen ausgeht, lautet für alle Richter des BGH, dass im Falle einer abweichenden, nicht genehmen Rechtsauffassung damit zu rechnen ist, namhaft gemacht, als Abweichler erkennbar gemacht und zur Anhörung geladen zu werden. Bereits dieses Signal ist dazu geeignet, auf die Entscheidungsfindung eines Richters Einfluss zu nehmen, wenn dieser nämlich ein solches Procedere scheut.

Darüber hinaus ist der gewählte Rahmen, Richter gegenüber Kollegen, die in der Sache nicht zuständig sind, ihre jeweilige Entscheidung rechtfertigen zu lassen, ein beispielloser Vorgang, der nicht nur gesetzlich nicht vorgesehen ist, sondern jeglichem Prinzip richterlicher Verantwortung widerspricht. Jeder Bundesrichter ist nämlich nicht seinem Präsidenten, nicht dem Präsidium und nicht seinen Senatskollegen, sondern ausschließlich dem Gesetz und seinem Gewissen verantwortlich.

Auch wenn sich inzwischen der Präsident des BGH beim Jahresempfang des Gerichts zu diesem Vorgang geäußert und angegeben hat, es habe lediglich eine Unterhaltung mit kontroversen Standpunkten gegeben, da das Präsidium habe klären wollen und müssen, wie es weiter gehe, vermag dies nicht zu beruhigen. Schon die Tatsache, dass die Bundesrichter einzeln befragt wurden und nicht mit allen Mitgliedern des Senats das Gespräch gesucht wurde, spricht gegen den Charakter einer schlichten Unterhaltung.

2.

Das Vorgehen des BGH-Präsidiums missachtet darüber hinaus das ansonsten stets verteidigte Beratungsgeheimnis, indem es einzelnen Senatsmitgliedern in "Einzelgesprächen" abverlangt, zu einer getroffenen Entscheidung und zu zukünftigem Abstimmungsverhalten Stellung zu nehmen. Wenn Richter gegenüber Verfahrensbeteiligten immer wieder auf ihr Beratungsgeheimnis verweisen und dieses – im Sinne freier und unbeeinflusster Entscheidungsfindung – nach außen verteidigen, verwundert es sehr, mit welcher Haltung derart viele Bundesrichter im Präsidium eine Befragung dulden, die dieses Beratungsgeheimnis elementar verletzt.

3.

Der zweite Strafsenat hat nach der Anhörung der drei Bundesrichter inzwischen entschieden, anstehende Fälle trotz eigener Bedenken zu entscheiden. Ob diese Entscheidung von der Anhörung im Präsidium beeinflusst wurde oder nicht, kann hier nicht beurteilt werden. In jedem Fall ist diese Entscheidung des zweiten Senats – trotz der auf der Hand liegenden faktischen Zwänge und des Vorteils geschmeidiger Praktikabilität – im Ergebnis nicht zu begrüßen. Diese Entscheidung bedeutet nämlich, dass der Senat wider besseres Wissen einen Verfassungsverstoß in Kauf nimmt. Wie kann man dogmatisch die Entscheidung begründen, in der Sache zu entscheiden, obwohl man die gerichtliche Besetzung als fehlerhaft und damit die konkreten Richter als unzuständig begreift? Welchen Stellenwert hat das Grundgesetz, wenn bei ernsthaften und gut begründeten Zweifeln an der Einhaltung des Prinzips des gesetzlichen Richters die Erledigung von Fällen über die Verfassungsgrundsätze gestellt wird? Ich hätte mir als Organ der Rechtspflege ein klareres Bekenntnis zur unverrückbaren Geltung des Grundgesetzes und eine Zurückweisung jeglichen Anscheins, dass der Zweck die Mittel heiligen könnte, gewünscht. Und ich hätte mir gewünscht, dass das Präsidium des BGH Richterkollegen nicht in der Zwickmühle allein lässt, entweder für den Stillstand der Rechtspflege verantwortlich gemacht zu werden oder sich gegen ihre Rechtsauffassung und ihr Gewissen entscheiden zu müssen.

4.

Es ist zu hoffen, dass der Aufschrei in der Justiz nur auf sich warten lässt und noch kommt. Das Vorgehen des BGH-Präsidiums ist nämlich geeignet, einen Dammbruch auszulösen und freudige Nachahmer zu inspirieren. Dies müsste sämtliche Richter – in welchem Bereich der Justiz sie auch tätig sein mögen – angehen und auf den Plan rufen. Das hinter diesem Fall stehende strukturelle Problem, nämlich in organisatorischen Krisen eines Gerichts Macht ausüben zu wollen, Druck aufzubauen und den einzelnen allein zu lassen, geht nicht nur die drei befragten Bundesrichter, sondern alle Richter und letztlich auch

die übrigen Organe der Strafrechtspflege an. Im konkreten Fall bedürfen die betroffenen Bundesrichter der Solidarität und des Lobs dafür, eine von ihnen als richtig erkannte Entscheidung auch gegen die auf der Hand liegenden Interessen anderer vertreten zu haben.

Unabhängig davon, ob ihre Entscheidung in der Sache richtig ist oder nicht, entspricht eine derartige richterliche Haltung meiner Vorstellung von Justiz und ist ein wichtiger Grundstein für das Vertrauen der Bevölkerung in das Funktionieren der Justiz. Das Prinzip der Unabhängigkeit des Richters soll dem Richter den Rücken dafür freihalten, Rückgrat zeigen zu können. Alle Abstriche in diesem Bereich können der Justiz nur schaden.