HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2011
12. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1218. EGMR Nr. 21698/06 (5. Kammer) – Entscheidung vom 23. Oktober 2010 (Kriegisch v. Deutschland)

Unabhängiges und unparteiliches Gericht (Befangenheitsrügen bei Verständigungsangeboten und Vorbefassung; Verfahrensabsprachen; unzulässiger Druck; Selbstbelastungsfreiheit; Rechtswegerschöpfung; Mehrheitsentscheidung).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 35 EMRK; § 257c StPO

1. Unterbreitet ein vorsitzender Richter in einem früheren, anderen Verfahren wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln ein Verständigungsangebot nach deutschem Recht, das zu einem Schuldspruch und zu einem Urteil führt, in dem Drogenverkäufe an den jetzigen Angeklagten und Beschwerdeführer festgestellt werden, ohne sich zu dessen konkreter Schuld und Beteiligungsform zu äußern, ist der Richter in dem späteren Verfahren nicht zwingend als befangen anzusehen.

2. Ein Verständigungsangebot, nach dem ein Verfahren im Gegenzug gegen ein Geständnis unter dem Zugeständnis einer erheblichen Strafmilderung beendet werden kann, kann durch das Gebot zu einer zügigen und effizienten Verfahrensführung gerechtfertigt sein. Eine beträchtliche Differenz zwischen dem verhängten und dem zuvor angebotenen Strafmaß kann aber den Eindruck hervorrufen, der Richter habe einen unzulässigen Geständnisdruck auf den Angeklagten ausgeübt.

3. Das Zusammentreffen der Vorbefassung und eines unterbreiteten Verständigungsangebots kann im Einzelfall legitime Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters wecken.

Zur Anwendung des EGMR auf einen deutschen Einzelfall.

4. Eine Besorgnis der Befangenheit kann vor dem EGMR nicht auf Umstände gestützt werden, die im nationalen Verfahren nicht vorgetragen worden sind.


Entscheidung

1282. BVerfG 2 BvR 1509/11 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 13. Oktober 2011 (OLG Hamm / LG Arnsberg)

Sicherungsverwahrung (Abstandsgebot); Erledigterklärung; Aussetzung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung; Entlassungsvorbereitung; Wiedereingliederung (soziale).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 66 StGB; § 67d Abs. 2 StGB

1. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u. a. = HRRS 2011 Nr. 488) verstößt § 66 StGB, wie die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung insgesamt, gegen das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG herzuleitende Abstandsgebot.

2. Die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung dürfen jedoch nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung bis zum 31. Mai 2013 weiter angewendet werden. Soweit eine Vorschrift – wie hier § 66 StGB – nicht neben dem Abstandsgebot auch das Vertrauensschutzgebot verletzt, ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Regel gewahrt, wenn aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten abzuleiten ist.

3. Ist nach der Übergangsregelung des Urteils vom 4. Mai 2011 ein dauerhafter weiterer Vollzug der Sicherungsverwahrung unverhältnismäßig, so kommt nicht nur eine Erledigterklärung der Unterbringung in Betracht. Vielmehr können die Gerichte die Verhältnismäßigkeit auch wahren, indem sie die Führungsaufsicht anordnen oder die Unterbringung zur Bewährung aussetzen.

4. Anders als in den Fällen, in denen die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auch gegen das Vertrauensschutzgebot verstößt, ist bei bloßer Verletzung des Abstandsgebotes keine sofortige Entlassung des Untergebrachten geboten (Abgrenzung zu 2 BvR 1516/11 = HRRS 2011 Nr. 1132); vielmehr ist es im Rahmen einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsabwägung zulässig, den Entlassungszeitpunkt unter Berücksichtigung der Dauer des Freiheitsentzuges so festzulegen, dass neben dem Freiheitsanspruch des Betroffenen auch dem Ziel einer erfolgreichen sozialen Wiedereingliederung Rechnung getragen wird.


Entscheidung

1281. BVerfG 2 BvR 979/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. Oktober 2011 (OLG Stuttgart / LG Ravensburg)

Briefgeheimnis im Strafvollzug (Postkontrolle; Verteidigerpost; Sichtkontrolle); Rechtsschutzinteresse (Wiederholungsgefahr); Einwilligung (Freiwilligkeit).

Art. 10 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 115 Abs. 3 StVollzG; § 24 Abs. 2 Satz 1 JVollzGB III BW

1. Macht ein Strafgefangener eine unzulässige Kontrolle von Verteidigerpost geltend, so hat er auch nach Erledigung der Maßnahme durch deren Vollzug unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr ein Rechtsschutzinteresse. Dies gilt auch dann, wenn er zwischenzeitlich in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt worden ist, selbst wenn diese im Bezirk eines anderen Oberlandesgerichts liegt.

2. Die Einwilligung eines Strafgefangenen in die Kontrolle eines Schreibens daraufhin, ob es sich um Verteidigerpost handelt, schließt einen Eingriff in Art. 10 Abs. 1 GG nur dann aus, wenn sie frei von unzulässigem Druck erklärt worden ist.

3. Hat die Justizvollzugsanstalt die Eigenschaft eines Schreibens als Verteidigerpost durch Rückfrage beim Verteidiger geklärt, so ist sie zur Aushändigung des ungeöffneten Schreibens verpflichtet. Eine Aufforderung an den Gefangenen, eine Sichtkontrolle des Schreibens zuzulassen, ist dann unzulässig. Kommt der Gefangene einer entsprechenden Aufforderung gleichwohl nach, um eine verzögerte Aushändigung zu vermeiden, so fehlt es an einem frei erteilten Einverständnis in die Kontrolle.


Entscheidung

1283. BVerfG 2 BvR 1539/09 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 26. Oktober 2011 (OLG Hamm / LG Aachen)

Rechtsweggarantie (Rechtswegerschöpfung; effektiver Rechtsschutz; Widerspruch); lebenslange Freiheitsstrafe (Resozialisierung; Entlassungsvorbereitung; Vollzugslockerung; Ausführung; Sachverhaltsaufklärung).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 11 StVollzG; § 109 StVollzG; § 119 Abs. 3 StVollzG

1. Zulässigkeitsvoraussetzung einer Verfassungsbeschwerde ist nach § 90 Abs. 2 BVerfGG die ordnungsgemäße Erschöpfung des Rechtsweges. Dazu gehört auch die Einlegung eines statthaften Widerspruchs. Behandeln die Fachgerichte allerdings einen Rechtsbehelf als zulässig, so ist es für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ohne Belang, ob eine ordnungsgemäße Einlegung des Widerspruchs festgestellt werden kann.

2. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auch bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe auf eine Resozialisierung auszurichten, schädlichen Auswirkungen des langjährigen Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Tüchtigkeit des Inhaftierten für ein Leben in Freiheit zu erhalten. Dieser grundrechtlichen Verpflichtung dienen Vollzugslockerungen und Behandlungsmaßnahmen.

3. Die Versagung von Vollzugslockerungen oder Behandlungsmaßnahmen – etwa einer Ausführung – ist mit der Knappheit personeller, räumlicher oder sonstiger Mittel allenfalls in Ausnahmefällen zu rechtfertigen. Zunächst ist der Staat verpflichtet, Justizvollzugsanstalten so auszustatten, dass diese ihrem Resozialisierungsauftrag nachkommen können. Wenn wegen begrenzter Kapazitäten nicht die Rechte aller Gefangenen angemessen berücksichtigt werden können, ist zunächst zu prüfen, ob mit zumutbaren Anstrengungen kurzfristig Abhilfe möglich ist.

Ob dies der Fall ist, haben die Gerichte im Einzelfall aufzuklären.

4. Sieht das Beschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung der Beschwerdeentscheidung ab, so ist dies mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nur vereinbar, wenn dadurch die gesetzlich eröffnete Beschwerdemöglichkeit nicht leer läuft. Dies ist anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung bestehen.


Entscheidung

1280. BVerfG 2 BvR 15/11 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 26. Oktober 2011 (LG Essen / AG Essen)

Durchsuchung einer Wohnung; Tatverdacht; Unterhaltspflichtverletzung (Leistungsfähigkeit; ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 170 Abs. 1 StGB

1. Der mit einer Durchsuchung nach §§ 102, 103 StPO verbundene Eingriff in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG ist nur gerechtfertigt, wenn der auf zureichende tatsächliche Anhaltspunkte gegründete Verdacht besteht, dass der Betroffene eine Straftat begangen hat. Angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffs müssen die Verdachtsgründe über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen.

2. Der Verdacht einer Verletzung der Unterhaltspflicht im Sinne von § 170 Abs. 1 StGB erfordert als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die Leistungsfähigkeit des Beschuldigten. Ein diesbezüglicher Verdacht wird nicht bereits durch eine entsprechende pauschale Behauptung des Anzeigenerstatters begründet.

3. Hat das Unternehmen, in dem der Beschuldigte im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme als Praktikant tätig ist, bereits die Auskunft erteilt, dass für die Beschäftigung eine Vergütung nicht gezahlt wird, so genügt es zur Begründung eines gegenteiligen Verdachts nicht, dass sich im Internetauftritt des Unternehmens bei der Vorstellung des Beschuldigten kein Hinweis auf den Ausbildungscharakter seines Beschäftigungsverhältnisses findet.


Entscheidung

1284. BVerfG 2 BvR 1774/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 26. Oktober 2011 (LG Karlsruhe / AG Pforzheim)

Unverletzlichkeit der Wohnung und Durchsuchung (Beschwerdebefugnis; Verhältnismäßigkeit; Tatverdacht; Möglichkeit des Auffindens von belastenden Beweismitteln).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 90 Abs. 1 BVerfGG; § 102 StPO; § 105 StPO

1. Gegen die Durchsuchung der Räume eines eingetragenen Vereins kann sich mit der Verfassungsbeschwerde nur wenden, wer nach bürgerlichem Recht zur Vertretung des Vereins befugt ist. Diese Beschwerdebefugnis nach § 90 Abs. 1 BVerfGG fehlt einem lediglich als Trainer in einem Sportverein tätigen Beschwerdeführer.

2. Der mit einer Durchsuchung nach § 102 StPO verbundene Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG ist nur gerechtfertigt, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Dazu muss der Durchsuchungsbeschluss erkennen lassen, aus welchen Gründen zu erwarten ist, der gesuchte Gegenstand werde in den zu durchsuchenden Räumen aufgefunden werden, und weshalb mildere Mittel nicht für ausreichend erachtet werden.

3. Hat der Trainer einer Kampfsportart den Behörden von sich aus mitgeteilt, dass bestimmte Gegenstände, bezüglich deren waffenrechtlicher Einordnung ein verwaltungsgerichtliches Verfahren anhängig ist, in den Räumen eines Sportvereins Verwendung finden, so muss sich ein Beschluss, der die Durchsuchung der Wohnung des Trainers anordnet, dazu verhalten, weshalb die Erwartung besteht, dass die Gegenstände dort aufgefunden werden, und weshalb angesichts der zu Tage getretenen Kooperationsbereitschaft des Betroffenen ein Herausgabeverlangen keinen Erfolg verspricht.


Entscheidung

1286. BVerfG 2 BvR 2674/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. Oktober 2011 (LG Darmstadt / AG Darmstadt)

Unverletzlichkeit der Wohnung und Durchsuchung (Verhältnismäßigkeit); Tatverdacht (Tatbestandsverwirklichung; Vorsatz).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 52 WaffG; § 54 WaffG

1. Der mit einer Durchsuchung nach §§ 102, 103 StPO verbundene Eingriff in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG ist nur gerechtfertigt, wenn die Gerichte in der Durchsuchungsanordnung ein dem Beschuldigten zur Last gelegtes Verhalten schildern, das den objektiven und den subjektiven Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt.

2. Der Verdacht eines Verstoßes gegen das Waffengesetz in Form des Erwerbs, des Besitzes oder des Führens von Schusswaffen ohne die erforderliche Erlaubnis setzt voraus, dass sich der Vorsatz des Beschuldigten auch auf das Fehlen der Erlaubnis bezieht. Bestehen Anhaltspunkte für einen fehlenden Vorsatz, so haben die Gerichte in dem Durchsuchungsbeschluss darzulegen, weshalb sie ihn gleichwohl bejahen.

3. Nimmt die Waffenbehörde nach noch nicht bestandskräftigem Entzug einer waffenrechtlichen Erlaubnis noch eine Vielzahl von Erwerbs- und Verkaufsanzeigen des Betroffenen entgegen und trägt sie diese auf dessen noch nicht eingezogener Waffenbesitzkarte ein, so bedarf es näherer Darlegungen, wenn die Gerichte gleichwohl von Vorsatz hinsichtlich der fehlenden Erlaubnis ausgehen wollen.

4. Mangelnde Ausführungen im Durchsuchungsbeschluss zur subjektiven Tatseite werden nicht dadurch geheilt, dass auch die von den Gerichten nicht erwogene fahrlässige Tatbegehung strafbar ist, weil die Gerichte die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung jeweils angesichts des konkret in Betracht kommenden Delikts zu prüfen haben.


Entscheidung

1285. BVerfG 2 BvR 2407/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. Oktober 2011 (OLG Hamm / LG Bochum)

Rechtswegerschöpfung (Anhörungsrüge); rechtliches Gehör; Begründungspflicht.

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 33a StPO; § 120 Abs. 1 StVollzG

1. Zulässigkeitsvoraussetzung einer Verfassungsbeschwerde ist nach § 90 Abs. 2 BVerfGG die vorherige Erschöpfung des Rechtsweges. Dazu gehört auch eine Anhörungsrüge, soweit diese nach dem jeweiligen Verfahrensrecht statthaft ist.

2. Die Anhörungsrüge ist zur Erschöpfung des Rechtsweges immer dann zu erheben, wenn sie bei objektiver Betrachtung nicht aussichtslos ist. Dies gilt auch dann, wenn der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Gehörsverstoß rügt, die Anhörungsrüge aber zur Korrektur der von ihm gerügten sonstigen Grundrechtsverstöße führen kann.

3. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte nicht, in den Entscheidungsgründen ausdrücklich auf jedes Vorbringen der Beteiligten einzugehen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist hingegen verletzt, wenn besondere Umstände darauf hindeuten, dass das Gericht entscheidungserhebliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen oder erwogen hat.

4. Stützt ein Strafgefangener einen Anspruch auf Überlassung von Kopien aus seiner Krankenakte substantiiert auf schriftliche Zusagen der Justizvollzugsanstalt, so liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nahe, wenn das Gericht bei der Verwerfung des Rechtsbehelfs gleichwohl gänzlich von einer Begründung seiner Entscheidung absieht.