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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2009
10. Jahrgang
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1. Auch wenn der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung eine entscheidende Bedeutung zukommt, ist nicht zu verkennen, dass das Recht auf eine effektive Verteidigung durch einen Verteidiger für die Fairness des Strafverfahrens sowohl in der ersten Tatinstanz als auch in einem Rechtsmittelverfahren von gleichermaßen entscheidender Bedeutung ist. Wenn der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht zur Verhandlung erscheint, geht das Recht auf effektiven Verteidigerbeistand vor. Die Gerichte müssen dem Verteidiger in diesem Fall die Möglichkeit geben, den Angeklagten in seiner Abwesenheit zu verteidigen.
2. Die nationale Gesetzgebung muss zwar in der Lage sein, der unentschuldigten Abwesenheit des Angeklagten entgegenzuwirken. Der Angeklagte darf sein Recht auf die Verteidigung durch einen Verteidiger aber nicht allein deshalb verlieren, weil er in der Hauptverhandlung nicht anwesend ist. Eine solche Verfahrenssanktion ist angesichts vorhandener milderer Mittel unverhältnismäßig.
3. Die EMRK ist geschaffen, um konkrete und wirksame Rechte zu garantieren. Das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK ist auch in Rechtsmittelverfahren
nur dann konkret und wirksam gewährleistet, wenn der Angeklagte tatsächlich effektiv angehört und sein Vortrag durch das Gericht angemessen geprüft wurde.
1. Angesichts der besonderen Verantwortung des Staates für Strafgefangene, die der Staatsgewalt unmittelbar unterworfen sind, dürfen zur Wahrung der Menschenwürde auch bei Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmte Minimalstandards der Haftbedingungen nicht unterschritten werden. (LVerfGE)
2. Ob die Unterbringung in einem Haftraum (hier: Einzelhaftraum von 5,25 qm Bodenfläche mit räumlich nicht abgetrennter Toilette) gegen die Menschenwürde verstößt, ist im Rahmen einer Gesamtschau anhand der konkreten Umstände, insbesondere der Größe des Haftraums, der Gestaltung des Sanitärbereichs, aber auch der täglichen Einschlusszeiten und der Dauer der Unterbringung zu beurteilen. (LVerfGE)
3. In Verfahren, die die Haftraumunterbringung eines Gefangenen betreffen, entfällt das Rechtsschutzinteresse nicht mit der Beendigung der beanstandeten Unterbringung, sofern eine Verletzung der Menschenwürde durch die Art und Weise der Unterbringung möglich erscheint. (Bearbeiter)
4. Der Rechtsweg ist auch dann im Sinne des § 49 Abs. 2 Satz 1 BerlVerfGHG erschöpft, wenn der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde keine Anhörungsrüge (§ 33a StPO) erhoben hat, obwohl er sich zur Begründung seiner Verfassungsbeschwerde auch auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs beruft, wenn diese Rüge offensichtlich allein auf unzutreffenden Annahmen über Inhalt und Grenzen dieses Grundrechts beruht. (Bearbeiter)
5. Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Der öffentlichen Gewalt ist danach jede Behandlung verboten, die die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt. (Bearbeiter)
6. Die durch das Sozialstaatsprinzip bekräftigte Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde schließt die Pflicht zu aktiver Gewährleistung der materiellen Mindestvoraussetzungen menschenwürdiger Existenz ein. Für den Strafvollzug bedeutet dies, dass die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins dem Gefangenen auch in der Haft erhalten bleiben müssen und der Staat zu den dafür erforderlichen Leistungen verpflichtet ist. (Bearbeiter)
7. Kann aufgrund der besonderen Verhältnisse in einer bestimmten Anstalt den Anforderungen, die sich aus der Pflicht zum Schutz der Menschenwürde ergeben, einem Gefangenen gegenüber nicht entsprochen werden, so ist dieser in eine andere Anstalt zu verlegen. (Bearbeiter)
8. Auch bei der Unterbringung in Einzelräumen muss dem Gefangenen ein ausreichender Raum verbleiben, damit er in der streng fremdbestimmten Welt des Strafvollzugs in seinem persönlichen Lebensbereich ungestört seinen Bedürfnissen nachgehen kann. (Bearbeiter)
9. Für die Frage, welche Haftbedingungen gegen die Menschenwürde des Gefangenen verstoßen, ist – neben der Gestaltung der Zelle und der Absehbarkeit der Beendigung der Unterbringung – auch auf die Dauer der Unterbringung abzustellen. Mit zunehmender Dauer der Haft wachsen die Belastungen, die sich aus der Unterbringung in einem kleinen Raum mit räumlich nicht abgetrennter Toilette ergeben, bis sie so schwerwiegend sind, dass die Schwelle einer Missachtung des Eigenwerts der Person erreicht ist. Während danach die Unterbringung eines Gefangenen in einem vergleichbaren Haftraum für eine von vornherein begrenzte zweiwöchige Übergangszeit unter Umständen zumutbar sein kann, ist diese Schwelle bei einem Zeitraum von 89 Tagen eindeutig überschritten. (Bearbeiter)
10. Im Fall der Unterbringung in einem Einzelhaftraum verstößt allein die fehlende Abtrennung der Toilette vom übrigen Raum nicht den Anspruch des Gefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde, weil anders als im Fall der Mehrfachbelegung eines Raumes mit offener Toilette nicht in die Intimsphäre der Strafgefangenen eingegriffen wird (BVerfG, EuGRZ 2008, 83, 84). (Bearbeiter)
11. Einzelfall des Verstoßes bei einer 5,25 m² großen Haftzelle. (Bearbeiter)
1. Die Regelung des § 66b Abs. 3 StGB, nach der unter den dort genannten Voraussetzungen nachträglich eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, wenn
eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 StGB für erledigt erklärt worden ist, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, ist verfassungsgemäß.
2. Der Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient. Als präventive Maßnahme, deren Zweck es nicht ist, begangenes Unrecht zu sühnen, sondern die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen, fällt die Sicherungsverwahrung daher nicht in den Anwendungsbereich des Rückwirkungsverbotes (vgl. BVerfGE 109, 133, 167 ff.; 109, 190, 219).
3. Das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG verbietet nur die erneute Bestrafung als missbilligende und vergeltende hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes Unrecht; es betrifft nicht die Verhängung von Maßregeln der Besserung und Sicherung.
4. Die Regelung des § 66b Abs. 3 StGB verletzt nicht das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG), insbesondere auch soweit sie so genannten Altfällen betrifft, nicht, da es sich im Grundsatz in diesen Fällen um eine verfassungsrechtlich gerechtfertigte tatbestandliche Rückanknüpfung handelt, die durch das überragende Gemeinwohlinteresse eines effektiven Schutzes der Allgemeinheit vor einzelnen hochgefährlichen Straftätern gerechtfertigt ist.
5. Soweit die Anwendung des § 66b Abs. 3 StGB im Einzelfall zu einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen führen kann, sind die verfassungsrechtlichen Grenzen gewahrt, da das Rechtsstaatsprinzip, hier in Verbindung mit dem Freiheitsgrundrecht, einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen nur entgegen steht, soweit diese sich zum Nachteil eines betroffenen Grundrechtsträgers auswirkt (vgl. BVerfGE 109, 133, 183). Die nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 in Verbindung mit § 67d Abs. 6 StGB stellt im Kern nur die die Überweisung von einer zeitlich nicht begrenzten freiheitsentziehenden Maßnahme in eine andere dar, wobei verschärfte Anordnungsvoraussetzungen eingreifen.
6. Zwingende Gründe des gemeinen Wohls können auch eine Durchbrechung des grundsätzlichen rechtsstaatlichen Verbots der rückwirkenden Änderung von Rechtsfolgen zugunsten der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers rechtfertigen.
7. Es begegnet keinen Bedenken, wenn § 66b Abs. 3 StGB in Verbindung mit § 67d Abs. 6 StGB für die Zukunft dazu führt, dass Strafurteilen, in denen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung jedoch abgelehnt wird, von vornherein auch nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Strafurteils (formelle Rechtskraft) nur begrenzte Bindungswirkung (materielle Rechtskraft) zukommt.
1. Der Zweck des Freiheitsrechts auf Auslieferungsschutz liegt nicht darin, den Betroffenen einer gerechten Bestrafung zu entziehen (BVerfGE 29, 183, 193; 113, 273, 293). Vielmehr sollen Bürger nicht gegen ihren Willen aus der ihnen vertrauten Rechtsordnung entfernt werden. Jeder Staatsangehörige soll – soweit er sich im Staatsgebiet aufhält – vor den Unsicherheiten einer Aburteilung unter einem ihm fremden Rechtssystem und in für ihn schwer durchschaubaren fremden Verhältnissen bewahrt werden (BVerfGE 29, 183, 193; 113, 273, 293).
2. Eine Auslegung von § 9 Nr. 2 IRG in der Weise, dass bei konkurrierender Gerichtsbarkeit die Auslieferung Deutscher zur Strafverfolgung auch dann zulässig ist, wenn die Tat im Inland wegen Verfolgungsverjährung nicht mehr geahndet werden kann, die Strafverfolgungsbehörden des ersuchenden Staates jedoch Handlungen vorgenommen haben, die „ihrer Art nach“ geeignet wären, die Verjährung nach deutschen Rechtsvorschriften zu unterbrechen, ist unvereinbar mit Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG.
3. Die sogenannte Substitution, d.h. die Ersetzung eines inländischen durch einen ausländischen Hoheitsakt, ist nicht generell verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Die bei der Suche nach Funktionsäquivalenten in fremden Rechtsordnungen regelmäßig entstehenden Übersetzungs-, Einordnungs- und Bewertungsfragen sind aber als verfassungskonforme Beschränkungen von Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinnehmbar. Sie genügen nicht dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG.
4. Die Zugeständnisse im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung können nicht weiter gehen, als dies die grundrechtlichen Spielräume bei der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger zulassen.
1. Im Auslieferungsverfahrensrecht folgen Begründungserfordernisse und Vorgaben für richterliche Sorgfalt unmittelbar aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG. Erforderlich ist eine den Umständen angemessene rechtliche und tat-
sächliche Prüfung durch das Gericht (vorliegend fehlende Auseinandersetzung mit einschlägigen innerstaatlichen Verjährungsvorschriften und Hinnahme unzureichender Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen worden sein soll [§ 83a Abs. 1 Nr. 5 IRG]).
2. Eine Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG angemessenen gerichtlichen Überprüfung ist nur möglich, wenn die Auslieferungsunterlagen vollständig und bestimmt genug sind (vgl. BVerfGE 113, 273, 315). Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die hinreichend präzise Beschreibung derjenigen Umstände, unter denen die Straftat begangen worden sein soll. Zu den zu konkretisierenden Tatumständen zählen insbesondere Tatzeit, Tatort und Tatbeteiligung der gesuchten Person (§ 83a Abs. 1 Nr. 5 IRG). Anforderungen an die Schilderung des historischen Sachverhalts hängen zwar von Besonderheiten des konkreten Falles ab. Der Tatvorwurf muss aber wenigstens so präzise konkretisiert sein, dass eine Subsumtion unter den jeweiligen Straftatbestand vorgenommen werden kann und die gerichtliche Nachprüfung von Auslieferungshindernissen und -voraussetzungen möglich wird.
1. Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Vertrauensschutz des Rechtsstaatsprinzips kann sich ein Verurteilter, dessen Freiheitsstrafe erlassen worden ist, grundsätzlich darauf verlassen, dass die mit abgeschlossenen Tatbeständen verknüpfte Rechtsfolge anerkannt bleibt und eine durch Bewährung erlangte Rechtsposition nicht für ihn unvorhersehbar aufgehoben wird.
2. Die Auffassung, dass in der – wegen eines neuen Strafverfahrens zunächst erfolgten – Zurückstellung der Entscheidung über den Straferlass eine (konkludente) Verlängerung der Bewährungszeit liegt, mit der Folge, dass die Jahresfrist für den Widerruf des Straferlasses gem. § 56g Abs. 2 S. 2 StGB eingehalten worden sei, steht mit der Gesetzeslage nicht im Einklang.
3. Zum Verstoß gegen das Vertrauensprinzip durch eine unvorhersehbare und gesetzeswidrige Widerrufsentscheidung nach § 56g Abs. 2 StGB.
1. Hat ein Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde die Nutzung eines Rechtsbehelfs unterlassen, der zwar nur zur Abwehr bestimmter Grundrechtsverstöße statthaft ist (vorliegend eines Befangenheitsantrages), bei erfolgreicher Nutzung aber auch zur Korrektur weiterer Grundrechtsverstöße hätte dienen können, so führt dies nach dem Grundsatz der Subsidiarität zur Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde auch insoweit, als sie die weiteren Grundrechtsverletzungen betrifft.
2. Die Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl. BVerfGE 82, 30, 38; 108, 122, 126, stRspr).