HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2009
10. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die Anforderungen an die Ermächtigung zu Rechtsmittelrücknahme oder -verzicht gemäß § 302 II StPO

Zugleich Anmerkung zu KG (Schiffsobergericht Berlin), Beschluss vom 19. Januar 2009 - 3 Ws 474/08

Dr. jur. Milan Kuhli, M.A., Assessor, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

I. Einleitung

Mit dem hier zu besprechenden Beschluss[1] des Berliner Kammergerichts liegt eine weitere obergerichtliche Entscheidung vor, mit der zu den Anforderungen an einen durch einen Verteidiger erklärten Rechtsmittelverzicht[2] Stellung genommen wird. Im Einzelnen geht es hierbei um die Frage, wie konkret die Ermächtigung sein muss, derer der Verteidiger zur Rechtsmittelrücknahme bzw. zum Rechtsmittelverzicht nach § 302 II StPO bedarf.

II. Zum Sachverhalt

Die Amtsanwaltschaft Berlin legte dem Angeklagten zur Last, sich wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr strafbar gemacht zu haben. Im Zustand alkoholbedingter Fahruntauglichkeit soll er am 17. August 2007 mit einem Motorboot öffentliche Wasserstraßen befahren haben. Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin ließ die Anklage durch Beschluss vom 26. März 2008 zu und setzte Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 27. Mai 2008 fest. Da der Angeklagte nicht erschien, ging das Gericht auf Antrag der Amtsanwaltschaft in das Strafbefehlsverfahren über und erließ einen dem Anklagevorwurf entsprechenden Strafbefehl. Diesen verkündete es im Termin in Anwesenheit der Verteidigerin des Angeklagten, die im Anschluss daran im Namen des Angeklagten auf Rechtsmittel verzichtete. Mit Schreiben vom 10. Juni 2008 legte der Angeklagte gleichwohl Einspruch ein.

Dieser wurde vom Amtsgericht im Hinblick auf den erklärten Rechtsmittelverzicht durch Beschluss vom 29. Juli 2008 als unzulässig verworfen. Das KG hatte in der hier vorliegenden Entscheidung über die gegen den Beschluss des Amtsgerichts gerichtete, fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde zu entscheiden.

III. Zur Problematik

Der Entscheidung des Kammergerichts war der Erlass eines Strafbefehls nach § 407 I 1 StPO vorausgegangen. Zu diesem hatte sich das Amtsgericht entschieden, nachdem der Angeklagte in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen war. Gegen einen solchen Strafbefehl ist nach § 410 I 1 StPO der Einspruch statthafter Rechtsbehelf, allerdings bestanden im vorliegenden Fall hinsichtlich der Zulässigkeit eines solchen Einspruchs deshalb Bedenken, da die Verteidigerin des Angeklagten, die - anders als dieser - in der Hauptverhandlung anwesend gewesen war, im Anschluss an die Verkündung des Strafbefehls im Namen des Angeklagten auf Rechtsmittel verzichtet hatte. Aus diesem Grund verwarf das Amtsgericht den Einspruch des Angeklagten durch Beschluss nach § 411 I 1 StPO als unzulässig. Hierüber hatte nun das Kammergericht zu entscheiden.

Grundsätzlich gilt, dass ein Verzicht auf den Einspruch gegen einen Strafbefehl auch durch den Verteidiger des Angeklagten erklärt werden kann, allerdings bedarf es hierfür nach § 302 II StPO einer ausdrücklichen Ermächtigung. Diese Bestimmung gilt zwar unmittelbar nur für die Zurücknahme eines Rechtsmittels, jedoch wird sie erstens über § 410 I 2 StPO auch auf den Einspruch gegen einen Strafbefehl für anwendbar erklärt und zweitens über ihren Wortlaut hinaus auch auf die Prozesshandlung des Verzichts erstreckt.[3] Im vorliegenden Fall war problematisch, ob die von § 302 II StPO aufgestellte Voraussetzung einer ausdrücklichen Ermächtigung gegeben war. Einigkeit besteht insoweit, dass die Einhaltung einer bestimmten Form hierfür nicht erforderlich ist, so dass die Ermächtigung nach § 302 II StPO auch mündlich erfolgen kann.[4] Umstritten ist in der Literatur und Rechtsprechung demgegenüber, ob die Ermächtigung zum Verzicht oder zur Rücknahme auf einen bestimmten Rechtsbehelf bezogen sein muss oder auch allgemein erklärt werden kann. Das Kammergericht nennt in der vorliegenden Entscheidung insoweit diejenige Ansicht, die eine allgemeine Ermächtigung ausreichen lässt, und diejenige, derzufolge für eine wirksame Ermächtigung i.S.d. § 302 II StPO grundsätzlich eine genaue Bezeichnung des betreffenden Rechtsbehelfs erforderlich ist.[5] Zwar werden innerhalb der Rechtsprechung beide Ansichten vertreten, doch lässt sich insoweit eine gewisse Entwicklung zugunsten der zweiten Auffassung verzeichnen. Mit der vorliegenden Entscheidung hat das Kammergericht einen Beitrag in Richtung dieser Entwicklung geleistet.

IV. Zur Entscheidung des Kammergerichts

Im Ergebnis folgt das Kammergericht der Ansicht des Bundesgerichtshofs, derzufolge sich die Ermächtigung des Verteidigers auf einen bestimmten Rechtsbehelf beziehen muss.[6] Zur Begründung bezieht sich das Kammergericht vor allem auf das Erfordernis einer restriktiven Auslegung des § 302 II StPO, die das Gericht aus der besonderen Tragweite eines Rechtsmittelverzichts herleitet:

"‚Ausdrücklich' i.S. des § 302 II StPO erfordert daher entweder die genaue Bestimmung des Rechtsmittels in der Vollmachtsurkunde oder, sofern die Ermächtigung zur Rücknahme allgemein erteilt worden ist, das Vorliegen konkreter Umstände, nach denen sich die Ermächtigung nur auf ein bestimmtes Rechtsmittel beziehen kann."[7]

Da nach Ansicht des Kammergerichts im vorliegenden Fall demnach keine nach § 302 II StPO wirksame Ermächtigung zur Erklärung eines Verzichts vorlag, war die Verzichtserklärung der Verteidigerin unwirksam.

Diese Auslegung des Begriffs der ausführlichen Ermächtigung i.S.d. § 302 II StPO ist sachgerecht, wenngleich die weiteren Ausführungen des Kammergerichts nicht in sämtlichen Punkten zu überzeugen vermögen. Sachgerecht und geboten ist die restriktive Auslegung des § 302 II StPO deshalb, da sie dem Schutz des Angeklagten dient, dem diejenigen Konsequenzen vor Augen gehalten werden sollen, die seine gegenüber dem Verteidiger abgegebenen Erklärungen hinsichtlich seiner eigenen Rechtsschutzmöglichkeiten haben. Dem Schutzbereich des § 302 II StPO würde sicherlich kaum entsprochen, wenn eine so wichtige Erklärung wie die eines Rechtsmittelverzichts gleichsam formularmäßig und ohne Bezug zu einem konkreten Rechtsbehelf abgegeben werden könnte.[8] Dies muss auch dann gelten, wenn man auf der anderen Seite berücksichtigt, dass eine formularmäßige Ermächtigung zur Erklärung eines Rechtsmittelverzichts in gewisser Weise der Rechtsklarheit dient, da das Vorliegen einer solchen Erklärung des Angeklagten vergleichsweise eindeutig zu klären ist. Der Aspekt des Angeklagtenschutzes überwiegt hier nämlich den der Rechtssicherheit.

Vor diesem Hintergrund ist auch die vom Kammergericht vertretene Einschränkung der Einschränkung akzeptabel, wonach auch eine allgemein gehaltene Ermächtigung ausdrücklich i.S.d. § 302 II StPO sein kann, wenn sich die Konkretisierung der Ermächtigung auf einen einzigen Rechtsbehelf ohne weiteres aus den näheren Umständen ergibt. Legt man diesen vergleichsweise hohen Maßstab zugrunde, sind keine Gefahren der Überrumpelung des Angeklagten ersichtlich. Wenn aus der Perspektive eines verständigen Angeklagten klar ist, welcher Rechtsbehelf als Einziger in Betracht kommt, so kann es keine Bedeutung haben, wenn in der Ermächtigungserklärung kein konkreter Rechtsbehelf in Bezug genommen worden ist.

Jedoch vermögen die Ausführungen des Kammergerichts zur Subsumtion dieser eben genannten Einschränkung der Einschränkung im vorliegenden Fall nicht vollumfänglich zu überzeugen. Keinerlei Einwände bestehen insoweit hinsichtlich des Ergebnisses des Kammergerichts, wonach im vorliegenden Fall keine konkreten Umstände ersichtlich sind, denen zufolge sich die Verzichtsermächtigung durch den Angeklagten allein auf den Einspruch nach § 410 I 1 StPO beziehen konnte. Allerdings verlässt das Kammergericht für die Begründung dieses Ergebnisses den hohen Maßstab, den es sich zuvor selbst auferlegt hat. So führt es aus:

"Von dem Erlass des Strafbefehls, an dessen Verkündung sich der Rechtsmittelverzicht unmittelbar anschloss, hatte der Angekl. keinerlei Kenntnis, weil er an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat. Dass er vor dem Hauptverhandlungstermin die Möglichkeit des Übergangs in das Strafbefehlsverfahren und die Bedingungen für einen Rechtsmittelverzicht mit seiner Verteidigerin erörtert oder ihn diese nach Verkündung des Strafbefehls und vor Abgabe der Verzichtserklärung kontaktiert hat, ist nicht ersichtlich. Es fehlt daher an der zur Abgabe der Verzichtserklärung wirksamen Bevollmächtigung."[9]

Dass eine Kontaktierung des Angeklagten durch die Verteidigerin unmittelbar vor Abgabe der Verzichtserklärung zu einer wirksamen Ermächtigung führen kann, bedarf keiner näheren Erläuterung. Jedoch ist nicht einsehbar, warum es für sich genommen ausreichen soll, wenn die Verteidigerin mit dem Angeklagten vor dem Hauptverhandlungstermin die Möglichkeit des Übergangs in das Strafbefehlsverfahren erörtert hätte. Denn auch, nachdem sich der Angeklagte entschlossen hatte, nicht zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen, hatte noch die Möglichkeit bestanden, dass seine Vorführung angeordnet wird (§ 230 II Alt. 1 StPO) und es letztlich doch noch zu einem Urteil mit den entsprechenden Rechtsmitteln kommt. Mithin ist festzuhalten, dass auch für den Fall, dass die Verteidigerin mit dem Angeklagten die Möglichkeit des Erlasses eines Strafbefehls erörtert hätte, für eine wirksame Ermächtigung nach §§ 302 II, 410 I 2 StPO weiterhin erforderlich gewesen wäre, dass der Angeklagte diese ausdrücklich auf den Einspruch gegen einen Strafbefehl bezieht. Eine nicht näher umschriebene Ermächtigung zum Verzicht auf Rechtsbehelfe dürfte auch nach Erörterung der Möglichkeit des Erlasses eines Strafbefehls nicht ausreichend i.S.d. § 302 II StPO sein. Mit dieser Einschränkung hinsichtlich der Begründung ist dem Beschluss des Kammergerichts im Ergebnis zuzustimmen.


[1] Abgedruckt in: NJW 2009, 1686f.

[2] Genau genommen handelt es sich bei einem Einspruch gegen einen Strafbefehl nach § 410 I 1 StPO um einen förmlichen Rechtsbehelf, der kein Rechtsmittel ist. Gleichwohl wird an dieser Stelle entsprechend den Ausführungen des Kammergerichts auch von Rechtsmittelrücknahme und -verzicht gesprochen. Dies ist deshalb unschädlich, da die hier gemachten Ausführungen zu §§ 302 II, 410 I 2 StPO entsprechend auch für Rechtsmittel gelten. Dogmatisch sauberer wäre es aber sicherlich, im vorliegenden Fall durchgängig von Rechtsbehelfsrücknahme und -verzicht zu sprechen.

[3] RGSt 64, 164, 165.

[4] BGH NStZ 1995, 357; BGH NStZ 2005, 583; Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. (2003), § 302 Rn. 67.

[5] Vgl. KG NJW 2009, 1686, 1687.

[6] BGH NStZ 2000, 665.

[7] KG NJW 2009, 1686, 1687.

[8] Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. (2003), § 302 Rn. 70.

[9] KG NJW 2009, 1686, 1687.