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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 287

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 245/22, Urteil v. 21.12.2022, HRRS 2023 Nr. 287


BGH 2 StR 245/22 - Urteil vom 21. Dezember 2022 (LG Aachen)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (eindeutige Bewertung des Zustandes des Täters; Gefährlichkeitsprognose: keine erhebliche Straftaten trotz psychischen Defekts, Indizwirkung, Darstellung der Ausführungen und Einschätzungen des Sachverständigen, Anlasstat).

§ 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Täter bei Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder zumindest vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Erforderlich ist demnach zunächst eine eindeutige Bewertung des Zustandes des Täters. Insoweit muss geklärt werden, ob er (noch) die Fähigkeit besitzt, das Unrecht seines Tuns zu erkennen, und lediglich nicht in der Lage ist, danach zu handeln, oder ob ihm bereits die Fähigkeit fehlt, das Unerlaubte seiner Tat einzusehen.

2. Schließlich muss es überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird; dadurch muss eine schwere Störung des Rechtsfriedens zu besorgen sein. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Sie muss sich darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist.

3. Der Umstand, dass ein Täter trotz eines psychischen Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, kann dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten sein.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 22. März 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren den Antrag auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen leidet der bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getretene Beschuldigte an einer organischen wahnhaften schizophrenieformen Störung (ICD-10 F06.2) sowie einer seit ca. 30 Jahren bestehenden Alkoholabhängigkeit. Seit dem Jahr 2017 hört er Stimmen, hat optische Halluzinationen und fühlt sich verfolgt. Seit 2019 kam es zu mehrfachen stationären Aufenthalten in psychiatrischen Krankenhäusern, zuletzt vom 20. Februar bis zum 23. März 2021 sowie vom 11. August bis zum 24. August 2021 im A. krankenhaus, wo u.a. eine psychotische Symptomatik diagnostiziert wurde. Nach Beendigung des Klinikaufenthalts wurde er in eine ambulante Anschlussbehandlung entlassen. Ihm verordnete Medikamente - insbesondere Risperidon - nahm er nur unregelmäßig ein. In der Folge entstand bei ihm am 30. August 2021 eine wahnhafte Symptomatik. Imperativen Stimmen folgend legte er gegen 16.00 Uhr in einer an das elterliche Wohnhaus angrenzenden Fachwerkscheune Feuer. Die Scheune brannte völlig aus, das Feuer griff - für den Beschuldigten erkennbar und von diesem für möglich gehalten - auf den Dachstuhl des ausgebauten Fachwerkhauses über, der selbständig brannte und ebenso wie eine Zwischendecke einstürzte. Zur Zeit der Brandlegung hielten sich seine Eltern und zwei Brüder im Haus auf. Diese konnten - von einem Nachbarn gewarnt - das Haus rechtzeitig verlassen. Das Wohngebäude war anschließend unbewohnbar. Ein bei dem Beschuldigten durchgeführter Atemalkoholtest ergab einen Wert von 0,0 mg/l.

Bei erhalten gebliebener Unrechtseinsicht war der Beschuldigte aufgrund einer akut psychotischen Phase außerstande, sich den Befehlen der Stimmen zu widersetzen. Seit dem Ereignis war der Beschuldigte zunächst nach PsychKG Nordrhein-Westfalen, wiederum im A. krankenhaus, seit dem 21. September 2021 in der LVR-Klinik B. untergebracht.

2. Nach der Würdigung des Landgerichts, das dem Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen Dr. M. gefolgt ist, liegt bei dem Beschuldigten seit mehreren Jahren eine organische wahnhafte schizophrenieforme Störung - möglicherweise in Form einer schizoaffektiven Psychose - und eine - für die Anlasstat irrelevante - Alkoholabhängigkeit vor. Nach der Entlassung aus dem psychiatrischen Krankenhaus Ende August 2021 habe bei dem Beschuldigten infolge des eigenmächtigen Absetzens der verordneten Medikamente eine akute Psychose mit floridem psychotischem und paranoidem Erleben in Form imperativen Stimmmenhörens und Verfolgungs- sowie Bedrohungserlebens vorgelegen. Die akute Psychose sei so ausgeprägt und handlungsleitend gewesen, dass die Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 20 StGB wegen einer krankhaften seelischen Störung aufgehoben gewesen sei.

Gleichwohl hat die Strafkammer die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB abgelehnt. Zwar sei mit der Sachverständigen davon auszugehen, dass bei dem Beschuldigten außerhalb des geschützten Rahmens einer geschlossenen Unterbringung mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder akute Psychosen entstehen werden, verbunden mit der Wahrnehmung imperativer Stimmen, deren Anweisungen er sich nicht zu entziehen vermag. So sei es in den letzten Jahren stetig zu einer Verschlechterung des Krankheitsbildes gekommen. Ohne Behandlung sei mit einer weiteren Chronifizierung zu rechnen, zumal bei einer Entlassung aus der geschlossenen Unterbringung - wie die Vergangenheit zeige - mit einem eigenmächtigen Absetzen der Medikamente zu rechnen sei. Der Gesundheitszustand des Beschuldigten habe sich auch nach längerer stationärer Behandlung kaum verbessert, eine Krankheits- und Behandlungseinsicht habe sich bei ihm nicht eingestellt.

Trotz alledem ergebe eine Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner Tat nicht, dass infolge seines überdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Im Rahmen der anzustellenden Gefährlichkeitsprognose sei entscheidend zu berücksichtigen, dass der Beschuldigte trotz seiner langjährigen psychischen Erkrankung erstmalig strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Da keine näheren Feststellungen zum Inhalt der bei der schweren Brandstiftung gehörten imperativen Stimmen, zum Hintergrund der Brandlegung und zur Tatausführung hätten getroffen werden können, sei auch nicht prognostizierbar, welche Befehle dem Beschuldigten künftig durch die imperativen Stimmen erteilt würden. Da auch die Sachverständige den Inhalt der künftigen imperativen Stimmen nicht zu prognostizieren vermocht habe, könne keine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür angenommen werden, die Stimmen würden dem Beschuldigten gerade die Begehung erheblicher rechtswidriger Taten im Sinne von § 63 StGB befehlen. Zudem weise seine bisherige Lebensführung auf keine dissozialen Persönlichkeitszüge hin. Weder habe er eine besondere Affinität zum Zündeln, noch bestehe eine Gewaltproblematik, noch gebe es Anhaltspunkte für eine künftige Bewaffnung. Durch die bei ihm bestehende Suizidalität würden Rechtsgüter Dritter weder gefährdet noch beeinträchtigt.

II.

Die Ablehnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Täter bei Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder zumindest vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. August 2022 - 1 StR 265/22 Rn. 5; vom 5. April 2022 - 1 StR 34/22, NStZ-RR 2022, 202, 203; vom 27. Januar 2022 - 1 StR 453/21 Rn. 6, und vom 22. September 2021 - 1 StR 305/21 Rn.17; je mwN). Erforderlich ist demnach zunächst eine eindeutige Bewertung des Zustandes des Täters. Insoweit muss geklärt werden, ob er (noch) die Fähigkeit besitzt, das Unrecht seines Tuns zu erkennen, und lediglich nicht in der Lage ist, danach zu handeln, oder ob ihm bereits die Fähigkeit fehlt, das Unerlaubte seiner Tat einzusehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. August 2022 - 1 StR 265/22 Rn. 5; vom 5. April 2022 - 1 StR 34/22, NStZ-RR 2022, 202, 203; vom 6. Mai 2020 - 4 StR 12/20 Rn. 5, und vom 12. Februar 2020 - 1 StR 25/20 Rn. 5; je mwN).

Schließlich muss es überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird; dadurch muss eine schwere Störung des Rechtsfriedens zu besorgen sein. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Sie muss sich darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. August 2022 - 1 StR 265/22 Rn. 5; vom 2. September 2020 - 1 StR 273/20 Rn. 11; vom 6. August 2020 - 1 StR 93/20 Rn. 10, und vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14 Rn. 14, je mwN).

Der Umstand, dass ein Täter trotz eines psychischen Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, kann dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten sein (vgl. BGH, Urteile vom 8. September 2022 - 3 StR 25/22 Rn. 9; vom 24. Februar 2021 - 6 StR 151/20 Rn. 15; Beschlüsse vom 8. September 2021 - 1 StR 275/21, NStZ-RR 2021, 371, 372; vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20, StV 2021, 245, 246; vom 11. Juli 2019 - 1 StR 253/19, StV 2021, 221 f.).

2. Unter Zugrundelegung dieser Anforderungen ist die Nichtanordnung der Maßregel nach § 63 StGB rechtsfehlerhaft.

a) Nicht zu beanstanden sind zunächst die Ausführungen der Strafkammer zur Täterschaft des Beschuldigten hinsichtlich der schweren Brandstiftung gemäß § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB und zur Schuldunfähigkeit des Beschuldigten bei Begehung der Anlasstat. Der psychiatrischen Sachverständigen Dr. M. folgend geht das Landgericht davon aus, dass sich der Beschuldigte beim Entzünden der Scheune in einer akut psychotischen Phase befunden habe, weshalb seine Steuerungsfähigkeit bei Begehung der Anlasstat aufgehoben war. Dies wird gestützt von den Bekundungen mehrerer - teils sachverständiger - Zeugen, die den Beschuldigten unmittelbar vor und nach der Brandlegung als verwirrte, hilflose „hoch belastete“ Person wahrgenommen haben, die nicht ansprechbar die Augen verdreht und den eigenen Kopf immer wieder gegen die Hauswand geschlagen habe. Noch am Tatfolgetag hat der verworren wirkende Beschuldigte im A. krankenhaus berichtet, dass „in seinem Kopf Chaos herrsche“ und er weiterhin befehlende Stimmen höre.

Nach den Ausführungen der Sachverständigen Dr. M. leidet der Beschuldigte an einer wahnhaften schizophrenen Erkrankung. Zwar vermochte der sachverständige Zeuge Dr. A., in der LVR-Klinik B. als Stationsarzt für die Behandlung des Beschuldigten während der einstweiligen Unterbringung seit dem 21. September 2021 nach Verlegung aus dem A. krankenhaus zuständig, die Diagnose einer Schizophrenie nicht zu bestätigen. Dies aber nur deshalb, weil ihm - anders als der Sachverständigen - die Vorbefunde fehlten und ihm keine Informationen zur Krankengeschichte zur Verfügung standen. Auch sei die Diagnostik noch nicht abgeschlossen gewesen. Im Übrigen wird die von der Sachverständigen gestellte Diagnose einer Schizophrenie auch von dem sachverständigen Zeugen Dr. L., dem Oberarzt im A. krankenhaus, in dem der Beschuldigte in den vergangenen Jahren mehrfach und auch direkt im Anschluss an die Anlasstat stationär behandelt worden ist, geteilt. Der Beschuldigte habe bei seiner Einlieferung typische Erscheinungen nach einer akuten Psychose und typische Symptome einer Schizophrenie aufgewiesen.

b) Hingegen begegnet die Annahme der Strafkammer, zukünftige erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 StGB seien von dem Beschuldigten nicht zu erwarten, rechtlichen Bedenken. Die Ausführungen des Landgerichts zur Gefährlichkeitsprognose sind lückenhaft und widersprüchlich.

aa) So sind den Urteilsgründen die Ausführungen und Einschätzungen der psychiatrischen Sachverständigen Dr. M. zur Gefahrprognose nicht zu entnehmen, so dass eine Nachprüfung durch das Revisionsgericht bereits nicht möglich ist. Zudem setzt sich die Strafkammer nicht mit den Ausführungen des sachverständigen Zeugen Dr. A. auseinander, wonach aus medizinischer Sicht weiterhin eine stationäre psychiatrische Behandlung erforderlich und vor einer Entlassung des Beschuldigten aus der Unterbringung wegen des vorhandenen Gefahrenpotentials zunächst eine Erprobung im Rahmen von Lockerungen geboten sei.

bb) Soweit die Strafkammer annimmt, in Ermangelung näherer Feststellungen zum Inhalt der am Tattag wahrgenommenen Stimmen, zum Hintergrund der Brandlegung und zur Tatausführung sei „bereits schwer prognostizierbar, welche Befehle dem Beschuldigten künftig durch imperative Stimmen erteilt werden, so dass gerade keine erhöhte Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, dass die Stimmen die Begehung erheblicher, rechtswidriger Taten im Sinne von § 63 StGB befehlen werden“, steht dies in einem nicht aufgelösten Widerspruch zu den Urteilsfeststellungen. Danach gaben die aus dem Fernseher stammenden imperativen Stimmen den Befehl, in der Scheune Feuer zu legen, was der psychisch erkrankte Beschuldigte durch „Entzünden des auf der Zwischendecke der Scheune befindlichen Heus“ befolgte.

cc) Soweit die Strafkammer ihre Einschätzung im Wesentlichen darauf stützt, die - trotz bestehender Krankheit - straffreie Lebensführung in der Vergangenheit sei Ausdruck dessen, dass auch künftige Straftaten nicht hinreichend sicher zu erwarten stünden, greift dies zu kurz. Insbesondere trägt es der negativen Progression der gesundheitlichen Entwicklung nicht ausdrücklich Rechnung. Gerade die Anlasstat stellt sich als Ergebnis der fortschreitenden Erkrankung dar und begründet die Besorgnis weiterer Straftaten.

3. Das Urteil beruht auch auf den aufgezeigten Mängeln. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei lückenloser und widerspruchsfreier Abwägung die für eine Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus erforderliche Gefahrprognose getroffen hätte.

4. Eine Aufrechterhaltung der für sich genommen rechtsfehlerfreien Feststellungen zur Anlasstat und zu den Voraussetzungen des § 20 StGB kommt nicht in Betracht, weil der Beschuldigte das Urteil insoweit nicht anfechten konnte (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2010 - 4 StR 518/09 Rn. 7). Der neue Tatrichter wird insgesamt neue Feststellungen zu treffen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 287

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede