HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1080
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 25/22, Urteil v. 08.09.2022, HRRS 2022 Nr. 1080
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers gegen das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 10. September 2021 werden verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft werden der Staatskasse auferlegt; der Nebenkläger trägt die Kosten seines Rechtsmittels. Die im Revisionsverfahren entstandenen gerichtlichen Auslagen tragen die Staatskasse und der Nebenkläger je zur Hälfte. Die dem Beschuldigten durch die Revisionen entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Das Landgericht hatte gegen den Beschuldigten im ersten Rechtsgang die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Auf seine Revision hob der Senat mit Beschluss vom 24. Januar 2017 (3 StR 421/16) das Urteil mit den Feststellungen - ausgenommen diejenigen zu den rechtswidrigen Taten, die bestehen blieben - auf. Im zweiten Rechtsgang hat das Landgericht die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Hiergegen richten sich die auf die ausgeführte Sachrüge gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers. Die seitens des Generalbundesanwalts nicht vertretene Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ebenso wie diejenige des Nebenklägers ohne Erfolg.
Die Revisionen sind zulässig. § 400 Abs. 1 StPO steht der Zulässigkeit der Revision des Nebenklägers gegen die Nichtanordnung einer Maßregel im Sicherungsverfahren nicht entgegen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 400 Rn. 3 mwN).
1. Das Landgericht ist von folgenden auf Grund des Beschlusses des Senats vom 24. Januar 2017 bindenden Feststellungen des im ersten Rechtsgang verkündeten Urteils ausgegangen:
a) Im Zeitraum von Juni 2010 bis September 2015 bedrängte der Beschuldigte den Nebenkläger mit einer Vielzahl von Telefonaten, um ein persönliches Gespräch über seine erfolglose Bewerbung für ein Praktikum zu erzwingen und ihm eine Lektion zu erteilen. Zu diesem Zweck begab sich der Beschuldigte wiederholt zum Wohnhaus der Familie des Nebenklägers, beobachtete es und bedrängte in einem Fall die Tochter der Ehefrau des Nebenklägers, ihm Einlass zu gewähren. Andere Angehörige und Kontaktpersonen rief der Beschuldigte ebenfalls an und suchte sie auf, um sein Anliegen vorzubringen oder sie zu „nerven“. Er ließ sich weder durch den stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik noch den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz und die Verhängung eines Ordnungsgeldes von weiteren Kontaktaufnahmeversuchen abhalten. Die beharrlichen Handlungen des Beschuldigten veranlassten den Nebenkläger und seine Ehefrau im März 2013, einen ohnehin geplanten Wohnsitzwechsel vorzuziehen. Dem Beschuldigten gelang es zwar trotz intensiver Bemühungen im Umfeld des Nebenklägers damals nicht, die neue Anschrift herauszufinden; da der Nebenkläger weiterhin seine Mobilfunknummer nicht wechselte, konnte der Beschuldigte ihn noch bis zum September 2015 telefonisch belästigen.
b) Am 4. Dezember 2012 reagierte der Beschuldigte aggressiv auf das Erscheinen von seinem Betreuer herbeigerufener Polizeibeamter und versuchte, einen der beiden von seiner Wohnungstür wegzustoßen und ihn zu schlagen. Den anderen beleidigte er und schlug ihm mit der rechten Hand ins Gesicht, sodass dieser eine schmerzhafte Rötung erlitt. Schließlich spuckte er dem Erstgenannten ins Gesicht und wehrte sich gegen das Anlegen von Handfesseln.
2. Nach den vom Landgericht im zweiten Rechtsgang getroffenen ergänzenden Feststellungen befand sich der Beschuldigte vom 28. Oktober 2015 bis zum 15. Mai 2017 in einstweiliger Unterbringung. Nach seiner Entlassung kam es zu weiteren Belästigungen im Wesentlichen gegenüber dem Nebenkläger. Telefonische Kontaktversuche beendete dieser dadurch, dass er seine Telefonnummern wechselte. Daneben suchte der Beschuldigte die neue Wohnanschrift des Nebenklägers zu mindestens fünf Gelegenheiten auf, ohne dort allerdings irgendwelche Aktivitäten zu entfalten; insbesondere wurde er nicht gewalttätig.
3. Das Landgericht hat angenommen, dem Beschuldigten habe es im gesamten Tatzeitraum auf Grund einer schizoaffektiven Störung, gegenwärtig manisch ausgeprägt (ICD-10: F 25.0), bereits an der erforderlichen Einsichtsfähigkeit gefehlt. Seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hat es mit der Begründung abgelehnt, er habe zwar die Tatbestände der Nachstellung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung und der Körperverletzung vorsätzlich und rechtswidrig verwirklicht; hierbei handele es sich indessen nicht um erhebliche Taten gemäß § 63 StGB. Solche seien von dem Beschuldigten auch zukünftig nicht mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades zu erwarten; dies nicht zuletzt deshalb, weil die Intensität seines Stalking-Verhaltens seit der Hauptverhandlung im ersten Rechtsgang im Juni 2016 abgenommen habe.
Die Ablehnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlichrechtlicher Nachprüfung stand.
1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat(en) aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 26. September 2019 - 4 StR 24/19, NStZ-RR 2020, 9; vom 10. November 2015 - 3 StR 407/15, NStZ 2016, 144 mwN). Der Umstand, dass ein Täter trotz eines psychischen Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, kann dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten sein (vgl. BGH, Urteile vom 24. Februar 2021 - 6 StR 151/20, juris Rn. 15; vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 170/14, NStZ 2015, 387, 388; vom 28. August 2012 - 5 StR 295/12, NStZ-RR 2012, 366, 367; Beschlüsse vom 8. September 2021 - 1 StR 275/21, NStZ-RR 2021, 371, 372; vom 23. Juni 2021 - 2 StR 81/21, NStZ-RR 2021, 303, 304 f.; vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20, StV 2021, 245 Rn. 8; vom 11. Juli 2019 - 1 StR 253/19, StV 2021, 221 Rn. 5).
2. Unter Zugrundelegung dieser Anforderungen ist die Nichtanordnung der Maßregel nach § 63 StGB nicht zu beanstanden. Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht angenommen, dass die vom Beschuldigten verwirklichten rechtswidrigen Taten weder nach den konkreten Umständen dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind noch erhebliche rechtswidrige Taten in Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwarten lassen. Im Einzelnen:
a) Die Einordnung der Anlasstaten als nicht erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB wird von den Feststellungen getragen.
aa) Eine Straftat ist nur dann von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 Satz 1 StGB, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 13. Januar 2021 - 4 StR 300/20, juris Rn. 13). Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahre bedroht sind, sind nicht mehr ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12, juris Rn. 21 f.; BGH, Urteil vom 28. Oktober 2015 - 1 StR 142/15, NStZ-RR 2016, 40, 41; Beschlüsse vom 18. Juli 2013 - 4 StR 168/13, NJW 2013, 3383 Rn. 43; vom 24. Januar 2017 - 3 StR 421/16, NStZ 2017, 694). Dabei ist keine verallgemeinernde, nur am jeweiligen Deliktstyp orientierte Betrachtungsweise maßgeblich, sondern vielmehr eine Gesamtbetrachtung des konkreten Tatgeschehens im Einzelfall (vgl. z.B. BGH, Beschlüsse vom 23. Mai 2018 - 2 StR 121/18, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 38 Rn. 14 mwN; vom 10. August 2010 - 3 StR 268/10, juris).
bb) Nach diesen Maßstäben hat das Landgericht die rechtswidrigen Taten der Nachstellung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung und der vorsätzlichen Körperverletzung zu Recht als nicht erheblich eingestuft.
Hinsichtlich der Nachstellung und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung hat es diese Beurteilung zutreffend bereits auf die einschlägigen Strafdrohungen gestützt, die im Höchstmaß die Verhängung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren nicht ermöglichen. Zudem hat es dargelegt, dass die Folgen dieser Taten nicht deutlich über dasjenige hinausgehen, was bereits zur Erfüllung des Tatbestandes notwendig und erforderlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2017 - 3 StR 421/16, NStZ 2017, 694 mwN). Gleiches gilt aus der Sicht der Strafkammer im Ergebnis für die rechtswidrige Tat der Körperverletzung, die zwar der abstrakten Strafdrohung nach im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von fünf Jahren geahndet werden kann, allerdings im Hinblick auf das konkrete Tatgepräge im Vergleich zu anderen Fällen als „eher niederschwellig“ zu bewerten sei. Diese Einordnung ist gleichfalls ohne Beanstandung.
b) Die Annahme der Strafkammer, zukünftige erhebliche rechtswidrige Taten - auch im Sinne des § 63 Satz 2 StGB - seien vom Beschuldigten nicht zu erwarten, begegnet ebenso wenig rechtlichen Bedenken.
aa) Zwar kann auch eine rechtswidrige Tat der Nachstellung gemäß § 238 Abs. 1 StGB im Einzelfall jedenfalls dann als prognostisch erheblich anzusehen sein, wenn die konkret zu erwartenden Tatumstände hinreichend gravierend sind (BGH, Beschlüsse vom 18. März 2008 - 4 StR 6/08, juris Rn. 5; vom 29. März 2016 - 4 StR 619/16, NStZ-RR 2017, 139 mwN). Gegen die Prognose, es bestehe keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür, dass der Beschuldigte in der Zukunft derart schwerwiegende Taten begehen wird, ist jedoch sachlichrechtlich nichts zu erinnern. Das Landgericht hat diese Wertung namentlich auf die rechtsfehlerfrei getroffene Feststellung stützen dürfen, die Intensität des Stalking-Verhaltens des Beschuldigten habe sich seit der Hauptverhandlung im ersten Rechtsgang verringert, insbesondere seien keine auf Gewalttätigkeiten hindeutenden Verhaltensweisen aufgetreten. Die in diesem Zusammenhang von den Beschwerdeführern erhobene Rüge, das eine Höchststrafdrohung von fünf Jahren vorsehende Regelbeispiel der Nachstellung im besonders schweren Fall nach § 238 Abs. 2 StGB idF vom 10. August 2021 (BGBl. I S. 3513) habe prognostisch zu Lasten des Beschuldigten berücksichtigt werden müssen, dringt nicht durch. Ersichtlich hat es das Landgericht für fernliegend erachtet, dass das zu erwartende Verhalten des Beschuldigten die Merkmale eines erst mit Wirkung vom 1. Oktober 2021 Gesetz gewordenen besonders schweren Falles der Nachstellung gemäß § 238 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und 3 StGB hätte aufweisen können.
bb) Der Einwand, das Landgericht sei gehalten gewesen, Feststellungen zu den im Bundeszentralregister zwischenzeitlich getilgten geringfügigen Voreintragungen wegen Beleidigung und Hausfriedensbruch zu treffen, um sie mit Blick auf § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose zu erörtern, geht gleichfalls fehl. Die Strafkammer hat ihnen auf Grund des offensichtlich erheblichen Zeitablaufs keinerlei Bedeutung mehr beigemessen. Eine diesbezügliche Verfahrensrüge haben die Beschwerdeführer nicht erhoben.
Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft sind gemäß § 473 Abs. 1 StPO der Staatskasse aufzuerlegen, diejenigen der Revision des Nebenklägers fallen ihm selbst zur Last. Da sowohl die Revision der Staatsanwaltschaft als auch die des Nebenklägers erfolglos geblieben sind, hat der Nebenkläger nach dieser Vorschrift nicht nur die Revisionsgebühr, sondern auch die Hälfte der gerichtlichen Auslagen zu tragen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. April 2020 - 3 StR 606/19, juris Rn. 5; Urteile vom 6. Dezember 2007 - 3 StR 342/07, NStZ-RR 2008, 146, 147; vom 30. November 2005 - 2 StR 402/05, juris Rn. 9; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 473 Rn. 95; jeweils mwN). Die durch die beiden Revisionen verursachten notwendigen Auslagen des Beschuldigten hat allein die Staatskasse zu tragen (§ 473 Abs. 2 Satz 1 StPO); die notwendigen Auslagen des Beschuldigten werden dem Nebenkläger nur dann auferlegt, wenn dieser allein erfolglos Revision eingelegt hat, nicht dagegen, wenn auch die Staatsanwaltschaft Rechtsmittelführerin ist (§ 473 Abs. 1 Satz 3 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1080
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede