HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1122
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 275/21, Beschluss v. 08.09.2021, HRRS 2021 Nr. 1122
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 15. April 2021 im Ausspruch über die Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung mehrerer Einzelgeldstrafen aus einer anderweitigen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Zudem hat es die Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat Erfolg, soweit sie sich gegen die Anordnung der Unterbringung richtet; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts setzte sich die Angeklagte am 1. Dezember 2018 gegen 12.20 Uhr in einem nur mäßig besuchten Schnellrestaurant an einen freien Tisch in der Nähe der Eingangstür. Kurze Zeit später betrat der Geschädigte H. das Restaurant und setzte sich auf einen freien Platz auf der anderen Seite des Tisches, an dem bereits die Angeklagte saß. Die Angeklagte forderte den Geschädigten auf, sich einen anderen Platz zu suchen, was dieser ablehnte. Es entstand ein Wortgefecht, in dessen Verlauf sich die Angeklagte und der Geschädigte gegenseitig beschimpften. Daraufhin verließ die Angeklagte das Schnellrestaurant, kehrte unmittelbar danach zurück und schüttete einen von ihr mitgebrachten, aber nicht mehr heißen Kaffee aus einer Entfernung von etwa einem Meter gegen den Oberkörper des Geschädigten. Der Kaffee traf den Geschädigten an beiden Ärmeln seines Pullovers, sodass diese sichtlich beschmutzt waren. Gleich darauf lief die Angeklagte davon. Der Geschädigte sprang von seinem Platz auf und lief der Angeklagten hinterher, um sie wegen seines beschmutzten Pullovers zur Rede zu stellen und eine Identitätsfeststellung zu ermöglichen.
In etwa 20 Metern Entfernung vom Schnellrestaurant holte der Geschädigte die Angeklagte ein und fasste sie von hinten mit beiden Händen kurz an die Schultern, um sie anzuhalten. Dabei sagte er „Stopp“. Daraufhin blieb die Angeklagte stehen, ergriff ihr mitgeführtes Tierabwehrspray, drehte sich zum Geschädigten um und sprühte es diesem in dem Bewusstsein, damit erhebliche Verletzungen hervorrufen zu können, zielgerichtet in die Augen. Dann flüchtete sie. Der Geschädigte sackte vor Schmerzen in den Augen zusammen, konnte diese für wenige Minuten nicht mehr öffnen und verspürte noch bis zum Abend ein starkes Brennen in den Augen, das behandelt werden musste. Er litt noch etwa für zwei Monate an leichten Sehstörungen, die jedoch folgenlos abklangen.
2. Das sachverständig beratene Landgericht hat die unter Verwendung eines Pfeffersprays begangene Tat als gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB gewertet. Es hat sich davon überzeugt, dass die Angeklagte jedenfalls seit dem Jahr 2010 an einer schweren anderen seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB in Form einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ gelitten und im Hinblick darauf bei der Tatbegehung bei erhaltener Einsichtsfähigkeit im Zustand der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) gehandelt habe. Sie sei aufgrund ihrer jahrelang bestehenden Borderline-Erkrankung nicht imstande gewesen, auf die von ihr selbst provozierte Reaktion angemessen zu reagieren und ihre Wut zu kontrollieren. Der Angriff mit dem Pfefferspray sei dabei keine bloße Überreaktion gewesen, sondern allein Folge ihrer massiven Borderline-Störung und der damit einhergehenden Verkennung einer tatsächlich harmlosen Situation. Nach den Feststellungen des Landgerichts äußert sich die psychiatrische Erkrankung der Angeklagten durch hochgradig auffällige, von Impulsivität und Instabilität geprägten Denk-, Erlebens- und Verhaltensweisen. Aufgrund ihrer verzerrten situativen Wahrnehmung und der Folge, dass sie sich in zwischenmenschlichen Alltagssituationen oft bedrängt oder unverstanden fühle und hierauf mit Wut reagiere, provoziere sie oftmals die Eskalation zwischenmenschlicher harmloser Begegnungen.
Der Schuldspruch und der Strafausspruch sind frei von Rechtsfehlern zum Nachteil der Angeklagten. Demgegenüber hat die Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) keinen Bestand.
1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf deshalb nur angeordnet werden, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat(en) ergibt, dass von ihm infolge seines fortdauernden Zustands mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und die damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind.
Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Betroffenen infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20 Rn. 7 mwN). Auch muss der Tatrichter konkrete Anhaltspunkte benennen, die die Erwartung künftiger Straftaten in ihrer jeweils für ausreichend wahrscheinlich gehaltenen Handlungsmodalität begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2014 - 4 StR 111/14 Rn. 16). Die Gefährlichkeitsprognose ist auf den Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung zu beziehen. Dabei kann der Umstand, dass ein Täter trotz eines psychischen Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten sein (vgl. BGH, Urteile vom 24. Februar 2021 - 6 StR 151/20 Rn. 15; vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 170/14 Rn. 20 und vom 28. August 2012 - 5 StR 295/12 Rn. 9; Beschlüsse vom 23. Juni 2021 - 2 StR 81/21 Rn. 19; vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20 Rn. 8 und vom 11. Juli 2019 - 1 StR 253/19 Rn. 5).
2. Diesen Anforderungen wird die vom Landgericht vorgenommene Gefährlichkeitsprognose nicht gerecht. Dessen Wertung, es bestehe eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Angeklagte aufgrund ihrer jahrelang bestehenden massiven Borderline-Störung auch künftig ähnliche Gewaltdelikte wie die Anlasstat oder sogar schwerere Körperverletzungsdelikte (unter Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs) begehen werde, wird nicht tragfähig belegt.
a) Als Anknüpfungstaten für diese Würdigung nennt das Landgericht neben der abgeurteilten Tat eine von der Angeklagten im Jahr 2015 im Zustand eingeschränkter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangene Körperverletzung, bei der sie dem Busfahrer eines Nachtbusses mit der Faust gegen die Schläfe geschlagen hatte, weil dieser an einer Haltestelle nicht angehalten hatte, sowie eine verbale Auseinandersetzung in einer Bäckerei im Jahr 2019, bei der die Angeklagte nur deshalb nicht körperlich übergriffig geworden sei, weil die hinter der Theke stehende Aushilfe besonnen reagiert habe. Den von der Angeklagten im Jahr 2012 im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) gegenüber ihrer Vermieterin begangenen Delikten der Beleidigung, Körperverletzung und Bedrohung hat das Landgericht ebenfalls indizielle Bedeutung für eine fortbestehende Gefährlichkeit der Angeklagten beigemessen (UA S. 54).
b) Dem hat das Landgericht allerdings zutreffend gegenübergestellt, dass die Anlasstat zum Urteilszeitpunkt bereits mehr als zweieinhalb Jahre zurücklag, ohne dass die Angeklagte - abgesehen von Leistungserschleichungen - Straftaten begangen hätte, obwohl sie nach den Urteilsfeststellungen seit 2018 in Obdachlosenheimen wohnte und seither „einem noch höheren psychosozialen Stress ausgesetzt“ war (UA S. 55). Es hat zudem in den Blick genommen, dass es seitens der Angeklagten in der seit Dezember 2020 bestehenden einstweiligen Unterbringung zu keinen körperlichen Angriffen auf Mitpatienten oder das medizinische Personal kam, sondern „lediglich zu verbalen Aggressionen diesen gegenüber“ (UA S. 55).
Die Annahme des Landgerichts, dies sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass sich die Angeklagte zuletzt in der „geschützten Umgebung der Unterbringung“ und damit „in einem geschlossenen Setting“ befunden habe, „in dem sie sich bei auftretenden Problemen oder einer Verschlechterung ihres Zustandes zurückziehen“ konnte (UA S. 55 f.), ist für sich allein nicht tragfähig. Das Landgericht hätte insoweit in die Gesamtwürdigung zur Gefährlichkeit der Angeklagten einbeziehen müssen, dass gerade in der Unterbringung für die Angeklagte Konfliktsituationen auftreten konnten, in der sie noch mehr als in den vom Landgericht in den Blick genommenen „alltäglichen Situationen“ ihre Wut krankheitsbedingt nicht mehr kontrollieren konnte (UA S. 56), und sie gleichwohl keine Gewalt anwendete. Das Landgericht hat mithin keine Anhaltspunkte benannt, die die Erwartung künftiger Straftaten in ihrer jeweils für ausreichend wahrscheinlich gehaltenen Handlungsmodalität der Gewaltausübung - auch unter Verwendung eines Messers oder anderen gefährlichen Werkzeugs (UA S. 53, 57) - begründen (vgl. zu diesem Erfordernis: BGH, Beschluss vom 16. Juni 2014 - 4 StR 111/14 Rn. 16).
Damit fehlen Feststellungen zu einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung von erheblichen Straftaten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB; eine lediglich latente Gefahr reicht für die Annahme einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 140/14 Rn. 20 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1122
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 371; StV 2022, 295
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede