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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1047

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 106/23, Urteil v. 12.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1047


BGH 1 StR 106/23 - Urteil vom 12. Juli 2023 (LG München I)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: Voraussetzung einer zu erwartenden schweren Störung des Rechtsfriedens; tätliche Angriffe gegen Polizeibeamte als ausreichende Anlasstat); tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an die Urteilsdarstellungen, wenn das Gericht einem Sachverständigengutachten nicht folgen will).

§ 63 StGB; § 114 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten ist daran auszurichten, ob eine zu erwartende Straftat zu einer schweren Störung des Rechtsfriedens führt, was grundsätzlich nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beantwortet werden kann. Dabei können sich nähere Darlegungen erübrigen, wenn sich - wie in aller Regel bei Verbrechen oder Gewalt- und Aggressionsdelikten - eine schwere Störung des Rechtsfriedens bereits aus dem Gewicht des Straftatbestandes ergibt, mit dessen Verwirklichung gerechnet werden muss . Dagegen wird die Annahme einer schweren Störung des Rechtsfriedens nur in Ausnahmefällen zu bejahen sein, wenn die zu erwartenden Delikte nicht zumindest den Bereich der mittleren Kriminalität erreichen (st. Rspr.). Wichtige Gesichtspunkte bei der Einzelfallerörterung sind die vermutliche Häufigkeit neuerlicher Delikte und die Intensität der zu erwartenden Rechtsgutsbeeinträchtigungen.

2. Nach Maßgabe dessen können auch tätliche Angriffe gegen Polizeibeamte erhebliche Anlasstaten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB sein, was bereits die gesetzgeberische Wertung des § 114 StGB nahelegt.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts München I vom 22. November 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) nach Überleitung des Sicherungsverfahrens in das Strafverfahren (§ 416 Abs. 2 StPO) abgelehnt, den Angeklagten wegen Bedrohung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in vier tateinheitlichen Fällen sowie wegen Bedrohung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt sowie deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte leidet seit 2009 unter einer paranoiden Schizophrenie, die von sozialem Rückzug begleitet ist. Er befand sich deshalb bis einschließlich September 2019 durchgängig in ambulanter Therapie. Auf eigenen Wunsch begab er sich infolge des Erlebens psychotischer Symptome (darunter Angstzustände und Panikgefühle) im Zeitraum zwischen den Jahren 2009 und 2012 viermal in stationäre psychiatrische Behandlung von jeweils zwei Wochen. Ab Mai 2019 verweigerte der Angeklagte die Einnahme der seit 2012 verordneten Depotmedikation; im November 2020 brach er die Behandlung vollends ab.

Im Frühjahr 2021 kündigte der Angeklagte sein bis dahin in Vollzeit ausgeübtes Arbeitsverhältnis als Postbote, da er nicht bereit war, eine OP-Maske zu tragen. Zeitgleich brach er den Kontakt zu seiner Familie ab; denn er glaubte, seine Eltern würden ihm schädliche Substanzen in sein Essen mischen. Im Zusammenhang mit einem ebenfalls im Frühjahr 2021 wegen eines Parkverstoßes geführten Bußgeldverfahren wurde sein Bankkonto gepfändet, woraufhin die Wohnungsmiete nicht mehr vereinbarungsgemäß eingezogen werden konnte. Infolgedessen erging gegen den Angeklagten nach Kündigung des Wohnungsmietvertrages auf die Räumungsklage seines Vermieters im September 2021 ein Versäumnisurteil. Der Angeklagte, der die anstehende Räumung - wie bereits das vorangegangene Bußgeldverfahren - als Unrecht gegen seine Person empfand und der Meinung war, legale Schritte seien zwecklos, beschloss, seine Wohnung nicht freiwillig zu verlassen. Nach Ankündigung des Räumungstermins verwüstete er die Wohnung und heftete nach außen sichtbar einen Zettel an sein Küchenfenster, auf den er „Laufts ein Bitte“ geschrieben hatte. Gegenüber einer Sozialarbeiterin äußerte er, es handele sich bei der Räumung um ein „Komplott“ gegen ihn.

Am 3. Dezember 2021, dem Tag der Zwangsräumung, forderte der Gerichtsvollzieher, der polizeiliche Unterstützung hinzugezogen hatte, den Angeklagten auf, die Wohnungstür zu öffnen. Der Angeklagte kam dem jedoch nicht nach, sondern beschimpfte die Beamten. Er nahm außerdem einen Hammer in die Hand, mit dem er auf den Fußboden schlug und den er gegen Personen einsetzen wollte, sollten diese seine Wohnung betreten. Sodann bewaffnete er sich mit einer geladenen Schreckschusspistole und schrie durch die geschlossene Tür, er habe eine Waffe und es würde etwas passieren, wenn die Beamten in die Wohnung kämen. Die Polizeibeamten und der Gerichtsvollzieher nahmen diese Drohung ernst, zogen sich zurück und forderten ein Spezialeinsatzkommando an. Dieses stemmte, nachdem auch eine erneute Kontaktaufnahme zu dem Angeklagten gescheitert war, die von ihm verbarrikadierte Wohnungstür auf. Der Angeklagte befand sich zu diesem Zeitpunkt unmittelbar hinter der Wohnungstür und hielt einsatzwillig sowie -bereit den Hammer in seiner rechten und den Schreckschussrevolver in seiner linken Hand. Nachdem die Tür einen Spalt breit geöffnet war, streckte er die einer scharfen Waffe sehr ähnelnde Schreckschusswaffe heraus und zielte damit auf die vor der Tür positionierten SEK-Beamten. Zwei daraufhin von einem der Beamten abgegebene Schüsse auf den Arm des Angeklagten gingen fehl, führten aber dazu, dass dieser den Revolver zurückzog. Nachdem ihn die Schüsse verfehlt hatten, streckte er seinen Arm mit der Waffe erneut aus dem Türspalt hinaus und zielte auf das Gesicht eines SEK-Beamten. In der Folge schoss ein - akute Lebensgefahr befürchtender - SEK-Beamter erneut auf den Angeklagten und traf ihn am linken Arm. Danach gelang es den Beamten, die Wohnung zu räumen.

2. Das Landgericht hat sich - in Abweichung vom Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen - nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Unrechtseinsicht oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten trotz seiner Grunderkrankung krankheitsbedingt aufgehoben oder auch nur erheblich vermindert war (§§ 20, 21 StGB), und deshalb eine Unterbringung nach § 63 StGB abgelehnt. Die Anordnung der Maßregel scheide aber auch deswegen aus, weil der Angeklagte nicht gefährlich im Sinne von § 63 StGB sei. Bei den Anlasstaten handele es sich nicht um erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB; denn diese seien zum Nachteil von Personen begangen worden, die professionell mit derartigen Konfliktsituationen umzugehen hätten und dafür eigens geschult seien. Besondere Umstände gemäß § 63 Satz 2 StGB seien nicht gegeben. Es habe eine Ausnahmesituation für den Angeklagten bestanden, der letztlich niemanden verletzt habe und trotz seiner langjährigen Erkrankung nur einmal - und dabei von der Störung unbeeinflusst - bestraft worden sei.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.

1. Die Entscheidung des Landgerichts hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Urteil einen durchgreifenden Darstellungsmangel aufweist.

Das Landgericht hat im Urteil nicht tragfähig begründet, aus welchen Gründen es dem psychiatrischen Sachverständigengutachten nicht darin gefolgt ist, die Schuldfähigkeit des Angeklagten sei zur Tatzeit im Sinne von § 20 StGB aufgehoben gewesen.

Zwar ist das Tatgericht nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, weil dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann (vgl. BGH, Urteile vom 12. Dezember 2018 - 5 StR 385/18 Rn. 14 und vom 24. Februar 2021 - 6 StR 151/20 Rn. 9). Will es aber eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muss es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung ermöglicht, ob das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen wurden. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf die das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. BGH, Urteile vom 12. Juni 2001 - 1 StR 190/01 Rn. 55; vom 7. Juni 2017 - 1 StR 628/16 Rn. 7 und vom 24. Februar 2021 - 6 StR 151/20 Rn. 9; Beschlüsse vom 18. Oktober 2017 - 3 StR 368/17 Rn. 11 und vom 15. Mai 2023 - 6 StR 146/23 Rn. 5). Eine solche lässt das Urteil hier vermissen.

Das Landgericht hat seine Schuldfähigkeitsbeurteilung auf eigene Erkenntnisse und die vom Sachverständigen ermittelten Befundtatsachen gestützt, ohne im Einzelnen offenzulegen, worin letztere genau bestehen. Aus dem Gutachten des Sachverständigen hat es im Urteil nur einzelne „Hypothesen“ mitgeteilt. Um dem Revisionsgericht eine Nachprüfung zu ermöglichen, hätte es indes zunächst der Darlegung der Befundtatsachen bedurft, von denen der Sachverständige ausgegangen ist. Im Anschluss daran hätte das Landgericht dessen Schlüsse und Bewertungen mitteilen müssen und vor allem, zu welchen Ergebnissen der Sachverständige gekommen ist. Daran fehlt es weitgehend. Wie der Sachverständige die von ihm aufgestellten „Hypothesen“ im Ergebnis beurteilt hat, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen.

2. Die vom Landgericht angestellten Hilfserwägungen betreffend die Gefahrenprognose vermögen die Nichtanordnung der Maßregel gleichfalls nicht zu tragen. Ein durchgreifender Darstellungsmangel liegt - erneut - darin, dass sich das Landgericht nicht mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandergesetzt hat. Wie sich der Sachverständige zu der anzustellenden Gefahrenprognose verhalten hat, bleibt völlig offen (vgl. dazu etwa BGH, Beschluss vom 11. April 2023 - 4 StR 80/23 Rn. 18 f.).

3. Der Senat hebt die getroffenen Feststellungen insgesamt auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatrichter sowohl zu den für die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Anlasstaten bedeutsamen Umständen als auch zu sämtlichen prognoserelevanten Aspekten umfassende und in sich widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

III.

1. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird, naheliegend unter Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen, Feststellungen dazu zu treffen haben, in welcher Weise sich die psychische Erkrankung des Angeklagten auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 4. April 2023 - 1 StR 477/22 Rn. 13 mwN). Die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis allein genügt nicht (vgl. dazu BGH, Urteil vom 9. August 2017 - 1 StR 63/17 Rn. 21; Beschlüsse vom 23. August 2012 - 1 StR 389/12 Rn. 7; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16 Rn. 11; vom 4. Dezember 2018 - 4 StR 443/18 Rn. 6; vom 22. Mai 2019 - 4 StR 140/19 Rn. 14 und vom 15. Mai 2023 - 6 StR 146/23 Rn. 5).

2. Die Gefährlichkeitsprognose wird es dabei auf den Zeitpunkt der neuen Entscheidung unter Berücksichtigung des aktuellen Behandlungszustandes zu beziehen haben.

a) Die Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten ist daran auszurichten, ob eine zu erwartende Straftat zu einer schweren Störung des Rechtsfriedens führt, was grundsätzlich nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beantwortet werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 29. November 1994 - 1 StR 689/94 Rn. 11; Beschluss vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10 Rn. 11 mwN). Dabei können sich nähere Darlegungen erübrigen, wenn sich - wie in aller Regel bei Verbrechen oder Gewalt- und Aggressionsdelikten - eine schwere Störung des Rechtsfriedens bereits aus dem Gewicht des Straftatbestandes ergibt, mit dessen Verwirklichung gerechnet werden muss (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 2008 - 4 StR 140/08 Rn. 18; Beschlüsse vom 24. November 2004 - 1 StR 493/04 Rn. 7 und vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10 Rn. 11). Dagegen wird die Annahme einer schweren Störung des Rechtsfriedens nur in Ausnahmefällen zu bejahen sein, wenn die zu erwartenden Delikte nicht zumindest den Bereich der mittleren Kriminalität erreichen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18 Rn. 17; Beschlüsse vom 29. November 2018 - 5 StR 412/18 Rn. 9 und vom 27. Juni 2019 - 1 StR 112/19 Rn. 4). Wichtige Gesichtspunkte bei der Einzelfallerörterung sind die vermutliche Häufigkeit neuerlicher Delikte und die Intensität der zu erwartenden Rechtsgutsbeeinträchtigungen (vgl. BGH, Urteile vom 17. November 1999 - 2 StR 453/99 Rn. 5, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27 und vom 22. Mai 2019 - 5 StR 99/19 Rn. 9).

Nach Maßgabe dessen können auch tätliche Angriffe gegen Polizeibeamte erhebliche Anlasstaten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB sein, was bereits die gesetzgeberische Wertung des § 114 StGB nahelegt (vgl. hierzu bereits BGH, Urteil vom 13. Dezember 2021 - 5 StR 115/21 Rn. 27 und Beschluss vom 22. November 2022 - 5 StR 464/22; vgl. auch BGH, Beschluss vom 22. September 2021 - 1 StR 305/21 Rn. 21 mwN [zur Erheblichkeit von Bedrohungen]).

Zwar ist bei der Gewichtung von Bedrohungen und einfachen körperlichen Attacken gegen Polizeibeamte in den Blick zu nehmen, dass diese darin ausgebildet sind, professionell mit Konfliktsituationen umzugehen, und zumeist über besondere Hilfs- und Schutzmittel verfügen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Februar 2017 - 4 StR 565/16 Rn. 10 und vom 22. November 2022 - 5 StR 464/22). Dies bedeutet aber nicht, dass Polizeibeamte nicht zu den durch § 63 StGB geschützten potentiellen Opfern gehören würden und ihnen zugefügte körperliche Schäden allein aufgrund ihrer beruflichen Stellung weniger erheblich wären (BGH, Beschluss vom 22. November 2022 - 5 StR 464/22). Die vorgenannte Einschränkung gilt vielmehr nur dann, wenn es sich um niederschwellig gelagerte Taten handelt, derer sich Polizeibeamte kraft ihrer Ausbildung ohne erhebliches Verletzungsrisiko erwehren können.

b) Prognosegünstig wird die trotz langjährig bestehenden Krankheitsbildes bislang weitgehend ausgebliebene Delinquenz des Angeklagten sowie das bisherige Fehlen von symptomatischen Gewaltdelikten zu würdigen sein.

c) Sollte das neue Tatgericht - trotz der prognosegünstigen Umstände - erneut die Voraussetzungen der Anordnung der Unterbringung bejahen, wird es jedenfalls in den Blick zu nehmen haben, dass die Anordnung der Unterbringung, gegebenenfalls mit geeigneten Weisungen, auch zur Bewährung ausgesetzt werden kann, was zu einer ordnungsgemäßen Medikamentierung des Angeklagten während dieser Zeit beitragen kann.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1047

Bearbeiter: Christoph Henckel